Sinfonien hören, über Sinfonien sprechen (Begleitmaterialien)

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Das Modell

Anhand der Exposition der Sinfonie in Es-Dur KV 543 lässt sich gut ein vierteiliges Expositionsmodell entwickeln:

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W. A. Mozart, Sinfonie in Es-Dur KV 543, 1. Satz
Quelle: YouTube

Das Modell dient der Fokussierung von Aufmerksamkeit als Grundlage für Höranalysen, kann auf verschiedene Weise in der Klasse entwickelt und visualisiert werden, zum Beispiel:

Terminologie

Definitionen

  • Hauptsatz nennt man den ersten Abschnitt einer Sinfonie, der sehr häufig leise (p) oder als f-p-f-p-Kontrast gestaltet worden ist.
  • Überleitung heißt der erste längere laute Abschnitt (forte, Tutti) nach einem Hauptsatz.
  • Seitensatz nennt man den charakteristischen leisen (p) Abschnitt nach einer Überleitung.
  • Schlussgruppe heißt der längere Abschnitt im forte (f), mit der eine Exposition endet.

Gelegentlich findet sich an der formalen Position des Seitensatzes auch ein Wechsel zwischen lauten und leisen Abschnitten (gegenüber dem Hauptsatz umgekehrter Folge p-f-p-f wie z.B. in der Sinfonie in F-Dur Anh. 223/KV 19a).
Die lauten Abschnitte beginnen nicht selten mit einer sogenannten Crescendo-Walze wie z.B. die Schlussgruppe in der Exposition der Sinfonie KV 318 von Mozart oder die Überleitung in der 5. Sinfonie von Beethoven (nur beim Berühren der Abbildung zu sehen) und häufig erklingt in der Schlussgruppe eine breit angelegte und virtuose Kadenz in der Nebentonart (der sogenannten »Arientriller«-Kadenz).

Hinweis

Als Thema wird in der Formenlehre in der Regel ein motivisch-thematisches Design bezeichnet, das sich als Periode oder Satz verstehen lässt. Das Identifizieren von periodischen oder satzartigen Gestaltungen mit dem Themenbegriff ist aus fachwissenschaftlicher Hinsicht äußerst problematisch:

  • Periodische und satzartige Gestaltungen sowie die historische Lehre der Absätze und Kadenzen stehen oftmals im Konflikt.
    • Beispiel: Sonate in c-Moll KV 547, 1. Satz: Hier endet eine Periode in Takt 8, der Hauptsatz hingegen erst in Takt 19 mit Phrasenverschränkung. Gleichzeitig wird in dieser Sonate gerne der Seitensatz falsch bestimmt (nach dem Halbschluss der Nebentonart T. 36 ff.), da Mozart die Überleitung wie einen Seitensatz, also im Piano und satzartig gestaltet.
    • Beispiel: Sinfonie in C-Dur KV 200: Hier könnten als Hauptsatz die Takte 1–12 im Sinne des antithetischen Eröffnungstypus bestimmt werden, der den Hauptsatz begrenzende Ganzschluss der Nebentonart erklingt allerdings erst in T. 19/20.
  • Der angebliche Gegensatz von erstem und zweiten Thema ist eine Idee des 19. Jahrhunderts, die auf Anton Reicha zurückgeht und von A. B. Marx, der sich an den Sonaten Beethovens orientierte, weiter ausgearbeitet worden ist (ein schönes Beispiel für einen thematischen Kontrast bietet die Waldsteinsonate Op. 53 von L. v. Beethoven). Getragen wird die Idee von antithetischen Gegensätzen, die später in der Reprise durch den Tonartenausgleich zu einer höheren Einheit verbunden werden, durch die Philosophie Hegels. Dieses Modell ist in einem schulischen Kontext, in dem in der Regel einfachere Notenbeispiele (z.B. von Mozart und Haydn) gewählt werden, unangemessen.

Belege:

Das Motiv, oder der erste Muttergedanke. Er besteht aus einer ganzen Periode, die mehr oder weniger lang ist, und die in der Haupttonart enden muss […] Hat man das Motiv angelegt, dann erfindet man eine Brücke, die aus einigen Nebengedanken zusammengefügt ist, um zu dem zweiten Muttergedanken zu gelangen […] Ein zweiter Muttergedanke oder zweites Motiv […] Man kann über es die selben Bemerkungen machen wie über das Anfangsmotiv […]

Anton Reicha, Traité de haute composition musicale, Bd. 2, Paris 1826, zitiert nach: Siegfried Schmalzried, »Charakter und Drama«, in: Archiv f. Musikwissenschaft, Jahrgang XLII, Heft 1/1985), S. 59–61.

Im Allgemeinen wissen wir vom Seitensatze bereits Folgendes: Erstens. Er hat mit dem Hauptsatze durch innere Stimmung, wie äußerlich durch den Sitz seiner Modulation und gleiche Taktart (beides nicht ohne Ausnahmen) ein Ganzes zu bilden, folglich eine gewisse Einheit und Einigkeit zu bewahren, dabei aber doch Zweitens sich von ihm entschieden als ein Anderes, als ein Gegensatz loszulösen durch den Inhalt, namentlich durch die Modulation gern auch durch die Form; Haupt- und Seitensatz sind zwei Gegensätze zu einander, die in einem umfassenden Ganzen zu einer höheren Einheit sich vereinen.

Adolf Bernhard Marx, Die Lehre von der Musikalischen Komposition, Dritter Teil, Leipzig 2/1848, S. 281 f.

Dass in Sonaten das erste Thema männlich und das zweite weiblich zu sein pflegt, lässt sich aus diesem Grunde als drollige Idee abtun. Die Fachwörter erstes und zweites Thema sind schon jammervoll genug, auch wenn sie sich mittlerweile so eingenistet haben, dass sie schwer zu vertreiben sind.

Problematisch ist an dieser leider noch heute an den meisten Schulen und in Musikkursen gelehrten Darstellung der Sonatenform nicht so sehr, dass sie nicht genau zutrifft, sondern, dass sie als Rezept formuliert ist […] Man gibt zwar zu, dass zahlreiche Sonaten abweichende Merkmale aufweisen, doch macht man Komponistenwillkür dafür verantwortlich und lässt durchblicken, dass Sonaten eigentlich auf die ›rechte‹ Weise zu komponieren seien. […] Das Gefährlichste an der traditionellen Sonatentheorie ist ihr normativer Anspruch.

Charles Rosen, Der klassische Stil, Haydn, Mozart, Beethoven, Kassel 2/1995, S. 88 u. 31/32.

In der Analysepraxis ist es eine gute Möglichkeit, mit den Begriffen Hauptsatz und Seitensatz immer die entsprechenden Formfunktionen zu benennen und von einem Thema nur dann zu sprechen, wenn Komponisten diese Formfunktionen als Periode oder Satz ausgearbeitet haben.

In der Schule empfiehlt sich der Begriff Thema im Zusammenhang mit Sonaten und Sinfonien nur dann, wenn die Kompetenzen vorhanden sind, über eine Höranalyse oder/und anhand des Notentextes eine intrinsische Bestimmung als Periode oder Satz erkennen bzw. nachvollziehen zu können. Denn der Themenbegriff in der Gattung Sinfonie bzw. Sonate zielt auf eine formale Gestaltung und nicht auf ein spezifisches melodisches Design wie z.B. in der Gattung Fuge.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie hier: Lautstärke statt Themendualismus.

Aufgaben

1.) Sinfonie in Es-Dur KV 132 von W. A. Mozart

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W. A. Mozart, Sinfonie in Es-Dur KV 132, 1. Satz, Exposition, Quelle: YouTube

Hinweis
  • Der Hauptsatz dieser Sinfonie ist dynamisch auf eine charakteristische Art und Weise gestaltet worden, die in der Mozartforschung auch als antithetischer Eröffnungstypus bezeichnet wird. Ein antithetischer Eröffnungstypus besteht aus dem dynamischen Verlauf f-p-f-p, wobei in den Forte-Abschnitten in der Regel ein Tutti-Unisono, in den Piano-Abschnitten hingegen ein Streicherklang (ohne Beteiligung des tiefen Bassregisters) erklingt.
  • Die Überleitung besteht aus einer längeren Passage im Forte. Sie endet hier mit einem Halbschluss der Ausgangstonart (= nicht-modulierende Überleitung). Charakteristisch für Überleitungen ist gegenüber dem Hauptsatz auch eine schnellere Bewegung z.B. durch Tremolo oder Sechzehntelpassagen.
  • Der Seitensatz ist ein längerer Abschnitt im Piano nach der Überleitung. Für diese Formfunktion sind wiederum der Klang der hohen Streicher sowie solistische Bläserfarben (›durchbrochene Arbeit‹ oder Liegetöne) charakteristisch.
  • Die Schlussgruppe ist der Teil der Exposition, in dem das emphatische Schließen stattfindet. Für Schlussgruppen ist das Forte ebenso charakteristisch wie die virtuose Geste bzw. schnelle Sechzehntelpassagen oder Tremolo.

2.) Sinfonie in G-Dur KV KV 318 von W. A. Mozart

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W. A. Mozart, Sinfonie in G-Dur KV 318, 1. Satz, Exposition, Quelle: YouTube

Hinweis
  • Der Hauptsatz der Sinfonie KV 318 lässt sich wie der Anfang der Sinfonie KV 132 über den antithetischen Eröffnungstypus verstehen.
  • Die Überleitung führt im Forte den Halbschluss der Nebentonart herbei (= modulierende Überleitung).
  • Der Seitensatz lässt sich als Thema bezeichnen, da er aus einer 16-taktige Periode besteht, die Mozart klanglich charakteristisch gestaltet (hoher Streicherklang, anfangs ohne Bassregister und solistische Hörner mit Hornquinten).
  • Die Schlussgruppe beginnt mit einer Orchesterwalze bzw. einem groß angelegten Crescendo, das den letzten Forte-Abschnitt einleitet. Darüber hinaus ist sie dynamisch durch eine Unregelmäßigkeit gekennzeichnet.

3.) Sinfonie in g-Moll KV 183 von W. A. Mozart

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W. A. Mozart, Sinfonie in g-Moll KV 183, 1. Satz, Exposition, Quelle: YouTube

Hinweis

Das vierteilige Modell erscheint auf den ersten Blick aufgrund des ungewöhnlichen Hauptsatzes als nicht-passend.

  • Der Unisono-Synkopenbeginn im Forte, der sich im anschließenden leisen Abschnitt, der mit einem für Moll typischen Halbschluss der Nebentonart den Hauptsatz beschließt, im Melodisch die verminderten Septimsprünge (es-fis und b-cis) endet erst beim Timecode 0:47. Vergleiche zu diesem Hauptsatz die folgenden Werke in Moll:
    • Sinfonie in g-Moll KV 550 von W. A. Mozart, 1. Satz
    • Sinfonie Nr. 5 in c-Moll Op. 67 von L. v. Beethoven, 1. Satz
    • Arie der Pamina »Ach ich fühl's« aus der Oper Die Zauberflöte KV 620 von W. A. Mozart
  • Die Überleitung wird mediantisch eingeführt (B-Dur direkt auf das halbschlüssige D-Dur am Ende des Hauptsatzes), beginnt im Forte, enthält harmonisch einer Quintfallsequenz, endet mit dem Halbschluss der Nebentonart und weist dynamische Kontraste auf.
  • Der Seitensatz beginnt im Piano Timecode 1:32, die Wiederholung des Pianoabschnitts im Forte lässt sich aus Sicht der Motivik-Thematik zum Hauptsatz zählen aufgrund der Dynamik auch zur Schlussgruppe.
  • Der Beginn der Schlussgruppen in Takt ist aus den genannten Gründen am Dynamikverlauf nicht zu erkennen und hängt davon ab, welcher Parameter (Motivik, Dynamik) als dominierend angesehen wird.

Wird das Ende des Hauptsatzes erkannt, lässt sich die Exposition auch über das vierteilige Expositionsmodell verstehen.

4.) Sinfonie in C-Dur KV 338 von W. A. Mozart

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W. A. Mozart, Sinfonie in C-Dur KV 338, 1. Satz, Exposition, Quelle: YouTube

Hinweis

Aufgrund der Proportionen ist das vierteilige Lautstärkemodell für ein Verständnis hilfreich.

  • Der Beginn erinnert an den antithetischen Eröffnungstypus und ist durch Kontraste geprägt (Dynamik, Tongeschlecht).
  • Die Überleitung beginnt mit einer kleinen Orchesterwalze, ist modulierend und erklingt im Forte, ihr Beginn kann mit dem Ganzschluss der Ausgangstonart bestimmt werden (vor dem Einsatz der ›Hornquinten‹).
  • Der Seitensatz erklingt im Piano und lässt sich als Taktgruppe aus acht Takten verstehen, die bei der Wiederholung innerlich (also vor der Kadenz) stark erweitert wird.
  • Die Schlussgruppe beginnt mit einer großen Crescendo-Walze, weist im Verlauf einige dynamische Kontraste auf, ist jedoch aufgrund des Charakters mit Ausnahme des kleinen Piano-Einschubs kurz vor dem Ende gut zu erkennen.

4.) Sinfonie in C-Dur KV 200 von W. A. Mozart

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W. A. Mozart, Sinfonie in C-Dur KV 200, 1. Satz, Exposition, Quelle: YouTube

Hinweis

Aufgrund der Proportionen ist das vierteilige Lautstärkemodell für ein Verständnis hilfreich.

  • Der Beginn erinnert an den antithetischen Eröffnungstypus und ist durch Kontraste geprägt (Dynamik, Tongeschlecht).
  • Problematisch bei dieser Exposition ist der Beginn der Überleitung. Wird das Ende des Hauptsatzes allein über die Dynamik bestimmt, ergibt sich ein anderes Ergebnis, als wenn der Beginn der Überleitung nach dem Ganzschluss der Ausgangstonart angesetzt wird, der hier in Takt 19/20 erklingt. Die nachstehenden Abbildung veranschaulichen das Problem. Die Überleitung weist anschließend eine charakteristische Harmonik auf und endet mit dem Halbschluss der Nebentonart (= modulierende Überleitung).
  • Der Seitensatz erklingt im Piano und lässt sich als Periode verstehen (öffnender Vordersatz durch Vorhalt und Terzlage, schließender Nachsatz durch Oktavlage, mit der Schlussgruppe über Takterstickung verbunden).
  • Die Schlussgruppe fällt führt mit einer komplexen Harmonik in eine Generalpause, wobei die Melodie anschließend in tieferer Lage von den Violinen im Piano wiederholt wird. Aufgrund dieser Motivischen Identität wird dieser Pianoeinschub in der Regel als zusammengehörig empfunden, obgleich die Teile durch dynamische Kontraste getrennt werden. Die Geste des Lauten, der spannungsvollen Generalpause sowie der Wiederholung im Piano mit nachfolgendem Forte-Schluss wirkt wie eine aus der Rhetorik entlehnte Geste.

Das nachfolgende Notenbeispiel zeigt die beschriebene Stelle in der Schlussgruppe:

Weitere Höraufgaben:

  • W. A. Mozart, Sinfonie in A-Dur KV 114, 1. Satz, Exposition
  • W. A. Mozart, Sinfonie in D-Dur KV 141a, 1. Satz, Exposition