Franz Schubert, Winterreise op. 89, Interpretationen

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Einige Lieder des Zyklus Die Winterreise Op. 89 von Franz Schubert ermöglichen es, den Zyklus als die Vertonung einer unglücklichen Liebe und das letzte Lied (Der Leiermann) als Begegnung mit dem Tod zu interpretieren. Im Folgenden finden sich Interpretationen zum Zyklus von prominenten Musikwissenschaftlern und Philosophen, die über diese Deutung als unglückliche Liebe hinausgehen.

Gegen Ende der 1980er Jahre schrieb bereits der Musikwissenschaftler Martin Zenck:

Die Erfahrung der Fremde zeichnet sich im Weg des Wanderers von der Stadt der Geliebten bis hin zu einem nicht mehr lokalisierbaren Ort der ›Wüstenei‹ ab. Dazwischen liegen Stationen, die eine Entfernung von der Stadt andeuten. [...]
Der Wanderer wird sich bei diesem Gang in die Fremde selbst fremd, das heißt er verliert an Identität in dem Maße, wie er sich von der Stadt der Geliebten entfernt.

Dieser Traum kann aber auch mit Elisabeth Lenk politisch gedeutet werden. Danach wäre er nicht auf unbewußte Tätigkeit des Gemüts zurückzuführen, sondern er wäre bei den Romantikern der ›Traum der Vernunft‹, die dort das festhalten, was sie in Wirklichkeit nicht erreichen können und das heißt bei Schubert das Verblassen der Bilder der drei ›Nebensonnen‹, der auch sozialontologisch zu verstehenden Kategorien von Glaube, Liebe und Hoffnung.

Aus: Martin Zenck, »Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts ›Winterreise‹«,
in: Archiv für Musikwissenschaft 44 (1987), S. 141–160.

Der Philosoph und Musikästhetiker Andreas Dorschel schrieb in den 1990er Jahren über die Winterreise:

Jede Interpretation von Wilhelm Müllers Zyklus ›Die Winterreise‹, die – wie es lange Zeit gängig war – im Motiv des Liebeskummers oder, minder banal formuliert, des Zerbrechens an einer unglücklichen Liebe jenes Zentrum erblickt, von dem her das Ganze dieses Werks zu interpretieren sei, sieht sich mit eigentümlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Denn das ›von Liebe‹ sprechende ›Mädchen‹ (›Gute Nacht‹) bleibt von Anfang an merkwürdig im dunkeln [sic!], und ihre Gestalt verflüchtigt sich im Fortgang der ›Winterreise‹ zur Erinnerung an zwei glühende Augen (›Rückblick‹) oder zum Traum von ›einer schönen Maid‹ (›Frühlingstraum‹). Insbesondere mit Beginn des zweiten Teils der ›Winterreise‹ verliert sich ihre Spur.
Denn die Liebesgeschichte, von der her nach Prätention der Deuter die ›Winterreise‹ des lyrischen Subjekts ohne Rest der Erklärung zugänglich wird, bleibt ja nicht nur beinahe befremdlich vage und unprofiliert. Ihr stehen darüber hinaus Stellen gegenüber, die sich jeder Subsumption unter sie, auch beim durchaus vorhandenen besten Willen der Ausleger, hartnäckig widersetzen. So etwa die Schlußzeilen des vorletzten Gedichts des Zyklus, ›Muth!‹

›Will kein Gott auf Erden sein,
Sind wir selber Götter‹.

Denn diese Zeilen lassen sich ohne interpretatorische Gewaltsamkeit kaum auf etwas anderes beziehen als auf jene tiefgreifende Erschütterung religiöser Gewißheiten, die von der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts ausgegangen ist. (Und man hat Grund zu vermuten, daß Schubert diese Erfahrung, die in Müllers Zyklus gleichsam in der zweiten Stimme mitredet, bei seiner Lektüre gegenwärtig war, der merkwürdige Choralhorizont der ›Winterreise,‹ insbesondere in ›Das Wirthshaus‹ und ›Die Nebensonnen,‹ wäre anders kaum zu erklären.)

Liest man Müllers ›Winterreise‹ in der skizzierten Weise, so erscheint der Zyklus als progressive Desillusionierung in bezug auf jene Instanzen, welche die Romantik, insbesondere die Frühromantik, angesichts der Wunden, welche die Aufklärung geschlagen hatte, als Medien der Erlösung und Versöhnung deklariert hatte. Die Sphäre des Traumes, des Todes, der Natur, der Reflexion können, so Müllers Antwort auf die Romantik, nicht jene Hoffnungen erfüllen, die, in teils emphatischen Formulierungen, in sie gesetzt worden sind.

Liest man die Schlußzeile von ›Muth!‹ nun mit dem ihr unmittelbar folgenden Gedicht zusammen, so verweist der ›Leiermann‹ auf das Scheitern des Versuchs, jenen Anspruch einzulösen, den die Worte ›Sind wir selber Götter‹ den Künstlern zedierten. Ist Autonomie – nicht nur der Moral, sondern auch der Kunst und des Künstlers – das Programm der Aufklärung, so nennt Müller auch an dieser Stelle deren Preis. Der freie Künstler schafft ohne Auftrag. Sein Tun scheint durch völlige Unabhängigkeit ausgezeichnet. Aus der Emanzipation von den persönlichen Bindungen an feudale Auftraggeber begibt er sich jedoch – so Müller – in die sachliche Abhängigkeit von einem anonymen Markt, der seiner Produkte nicht bedarf:

›Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.‹

Die Autonomie des Künstlers gewinnt für Müller eine eigentümliche Zweideutigkeit. Die Auszeichnung, die in ihr liegt, ist ebensosehr Stigma, weil sich gerade um ihretwillen dem Künstler gesellschaftlich die Züge eines Außenseiters aufprägen:

›Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an;
Und die Hunde brummmen
Um den alten Mann.‹

Nicht eine kontingente Indifferenz des Publikums ist nach Müllers Befund die Wunde, an der die moderne Kunst laboriert, sondern ein prinzipieller Antagonismus zwischen ihren Produkten einerseits und dem, was sich als gesellschaftlicher Bedarf artikuliert, andererseits. Die deformierenden Tendenzen, die von dem gesellschaftlichen Prozeß ausgehen, der den Künstler ebensosehr befreit wie marginalisiert, berühren aber – so Müller – keineswegs nur dessen Psyche. Den Bereich, den sie, über alles subjektive Leid hinaus, tangieren, bezeichnet im letzten Lied des Zyklus das Bild der ›Leier.‹ Dieses Instrument, die sogenannte ›Lyra,‹ erscheint in Müllers kritischen Schriften als Metapher für die Dichtkunst. Insofern es sich um ein Musikinstrument handelt, steht es jedoch zweifellos auch für die Musik und darüber hinaus, im geschichtsphilosophischen Horizont der ›Winterreise,‹ für die Kunst schlechthin. Indem diese als ›Leier‹ erscheint – und daß Müller der pejorative Sinn des Begriffs ›Leiern‹ präsent war, ist angesichts seines eigenen Sprachgebrauchs unabweisbar –, rückt der Dichter sie in ein Licht, das sie kaum minder fragwürdig erscheinen läßt als die zuvor bereits abgewiesenen Heilsversprechen des romantischen Idealismus: die Sphären der Reflexion, des Traumes, des Todes, der Natur und der Liebe.

Aus: Andreas Dorschel, »Wilhelm Müllers ›Die Winterreise‹ und die Erlösungsversprechen der Romantik«,
in: The German Quarterly 66 (1993), S. 467–476.

Der Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann schrieb zum Anfang dieses Jahrhunderts:

In Wilhelm Müllers literarischem Liederzyklus Die Winterreise nimmt ein poetisches Ich die Rolle des zurückgewiesenen Liebhabers an, wird zum Wanderer, verlässt die Stadt der Geliebten und beginnt eine ziellose Reise durch eine kalte, raue, ungastliche Winterlandschaft. Wir hören von der winterlichen Reise allein durch das Ich selbst, sie existiert ausschließlich in der Darstellung des wandernden Subjekts. Dieser Wanderer erfährt die Welt als eine verstörte, undurchdringliche, abweisende Landschaft, in der Naturmotive zu Chiffren des Todes gewandelt erscheinen.

Angewandt auf Winterreise macht das Denkmodell des schubertschen Gedichts den Liederzyklus verstehbar als eine Allegorie der politisch-gesellschaftlichen Situation des Vormärz, einer Epoche, deren Signatur nicht ›That und Kraft‹ ist, sondern Resignation und Reflexion. Die ziellose Reise des Wanderers in einer undurchdringlichen Landschaft, das heißt: einer inkommensurablen Welt, die beherrscht ist von machtvollen, unpersönlichen, anonymen Institutionen und wo der Tod herrscht – diese Reise repräsentiert die Situation des nach Freiheit und Selbstverwirklichung verlangenden Individuums innerhalb der repressiven Machtausübung des Staates der Metternich-Ära.

Zweitens und als politisch-gesellschaftliche Perspektive gestaltet dieser Schluss die resignative Reaktion auf die Krise des Subjekts, von der der Zyklus handelt, die Wendung des bürgerlichen Intellektuellen von der inkommensurablen und bedrohlichen Realität weg und hin zur Kunst. Am Ende steht nicht mehr die lyrische Klage über die Todeslandschaft, sondern das Musizieren, die Frage nach der Kunst.

[...] nur gebrochen endet Schuberts Winterreise als Apotheose des Musizierens und der Kunst im Dienste bürgerlichen Freiheitsbewusstseins. Über die absurde Hoffnungslosigkeit eines Duos zweier Outcasts hinaus ist Ironie das Mittel dieser poetischen Brechung, eine Form gewordene Ironie.

Aus: Reinhold Brinkmann, »Musikalische Lyrik, politische Allegorie und die "heil'ge Kunst". Zur Landschaft von Schuberts Winterreise«,
in: Archiv für Musikwissenschaft 62 (2005), S. 75–97.

Eine andere Deutung findet sich bei Luger Rehm:

Die Nebensonnen sind – als symbolisch aufgeladene Naturmetapher – die Wahr­zei­chen der ersten großen Niederlage Napoleons, und damit, pars pro toto, Wahrzeichen für die kommenden Siege der Befreiungskriege, sie erscheinen so mit als Garant für die Verwirklichung der Hoffnungen und Forderungen auf eine demokratisch-liberale Gesellschaftsverfassung, die einst auch Wilhelm Müller als Be­geisterten in den Krieg hatten ziehen lassen [...] Das Vergehen der Neben­sonnen­erscheinung im Lied ist geprägt vom Sarabandenton, der nur hier [...] so ausgeprägt ist, daß er als Typus erscheint. Dieser repräsentiert das höfische, das alte Herrschaftsverhältnis, die durch Gewalt und Macht legitimierte Herrschaft [...] Das Vergehen, genauer: die Erinnerung an das Vergehen der Nebensonnen, der politischen Hoffnungen, ihr endgültiger Untergang vollzieht sich im Rhythmus und im Ton dieses Herrschaftsprinzips.

Ludger Rehm, »Walzer und Winterreise Lyrik und Gesellschaft bei Wilhelm Müller und Franz Schubert«, in: International Journal of Musicology 6 (1997), S. 163–206.

Diese wenigen Zitate zeigen, dass es zur Winterreise eine Vielzahl von Interpretationen gibt. Allein die Nebensonnen sind als Naturphänomen bzw. Brechung von Licht in Eiskristallen (Harold Heilberg), als politischer Symbolismus (Ludger Rehm), als sozialontologische Kategorien (Mar­tin Zenck) sowie als eine »mit Tränen in den Augen« verschwommene Wahrnehmung des lyrischen Ichs (Arnold Feil) interpretiert worden. Die Ge­mein­samkeiten vieler Deutungen liegen darin, dass Müllers Texte nicht wörtlich zu verstehen und dass die politische Dimension (Reinhold Brinkmann) der Texte von substantieller Bedeutung zum Verständnis der Lieder sei. Dies wird plau­si­bel, wenn man den historischen Kontext bedenkt: Wilhelm Müller, der Autor der Gedichte Die Winterreise, hatte sich bereits mit seinen durch den griechischen Freiheits­krieg (1821) inspirierten Liedern der Grie­chen (1821 ff.) einen Namen als politischer Dichter gemacht (›Griechen-Müller‹) und war wiederholt in Konflikt mit den Zensurstellen der Restauration geraten. Im Wien der Zeit Schuberts soll es nach Wolfgang Hufschmidt »etwa 2000 intellektuelle Agenten« gegeben haben, die damit beschäftigt waren, »den Kulturbetrieb sachkundig zu kontrollieren« (Schuberts geplante Oper Der Graf von Gleichen scheiterte 1826 an der Zensur). In Anbetracht der sorgfältigen Textauswahl des Komponisten dürfte es ausgeschlossen sein, dass ihm die politischen Dimensionen der Texte Wilhelm Müllers nicht bewusst gewesen wären.

Aufgaben

  1. Suchen Sie in den Texten Übereinstimmungen und Differenzen im Hinblick auf die über eine unglückliche Liebesgeschichte hinausgehenden Interpretation der Winterreise von F. Schubert.
  2. Benennen Sie in Stichworten, welcher historische Kontext für ein Verständnis der Winterreise wichtig ist.
  3. Erarbeiten Sie sich eine Interpretation der Winterreise anhand der folgenden Lieder: