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Kochs Kadenzgliederungen und die Formfunktionen der Formenlehre
Im ersten größeren Formteil einer Komposition (also z.B. in einem Menuett bis zum Doppelstrich, einer Sonate oder Sinfonie bis zum Ende der Exposition, im A-Teil einer Arie usw.) sollten nach Koch drei Absätze und eine Kadenz stattfinden. Für einen pragmatischen Analyseansatz werden unter Absätzen auch Kadenzen verstanden, so dass die nachstehende Kadenzreihenfolge den ersten größeren Formteil einer umfangreicheren Komposition charakterisiert:
- Ganzschluss in der Haupttonart (= K1)
- Halbschluss in der Haupttonart (= K2)
- Halbschluss in der Nebentonart (= K3)
- Ganzschluss in der Nebentonart (= K4)
Das heißt, in einer Sonatenexposition z.B. in C-Dur werden nach diesem Modell erwartet:
- ein Ganzschluss in C-Dur,
- ein Halbschluss in C-Dur (d.h. ein G-Dur-Akkord mit dominantischer Wirkung),
- ein Halbschluss in G-Dur (d.h. ein D-Dur-Akkord mit dominantischer Wirkung) und abschließend
- ein Ganzschluss in G-Dur.
Das folgende Beispiel zeigt für diese Gliederung die Kadenzen ohne Signalakkord für eine Komposition in C-Dur:
Formfunktionen der Sonatenform:
- Hauptsatz (auch 1. Thema)
- Überleitung
- Seitensatz (auch 2. Thema)
- Schlussgruppe (und ggf. ein Epilog)
Für die musikalische Analyse einer Sonatenexposition stehen uns also auf der einen Seite die Begriffe Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz, Schlussgruppe (und ggf. Epilog), auf der anderen Seite die Abschnitte, die durch eine Gliederung nach dem Kadenzmodell Kochs entstehen. Beide Analysemethoden existieren unabhängig voneinander und haben nicht zwangsläufig etwas miteinander zu tun. Die folgende Abbildung veranschaulicht den Sachverhalt:
Damit sich der Ansatz von H. Chr. Koch für möglichst viele Kompositionen des 18. Jahrhunderts sinnvoll anwenden lässt, wird er im folgenden systematisch erweitert. Koch hatte zwar selbst schon einige Varianten des oben erwähnten vollständigen Modells (K1-K2-K3-K4) in seiner Kompositionslehre eingeräumt, doch für die Analysepraxis werden weitere Modelle benötigt, um der komponierten Vielfalt des 18. Jahrhunderts gerecht zu werden. Betrachtet man die Kadenzabfolge als Konstante (also geht z.B. nicht davon aus, dass eine K3 vor einer K2 erscheint, könnten das Ausgangsmodell durch Auslassungen von Kadenzen variiert werden. Die Varianten werden im Folgenden als eigenständige Formmodelle angesehen:
Kleinster gemeinsamer Nenner dieser Modelle ist die K4 bzw. ein Ganzschluss in der Nebentonart. Denn diese Kadenz ist einerseits ein Indiz für eine Modulation in die Oberquinte und andererseits für das Ende des ersten größeren Formteils wie z.B. einer Exposition. Nicht sinnvoll lassen sich die oben genannten Analysemodelle für Kompositionen, denen eine Modulation in die Nebentonart (bzw. die V. oder III. Stufe) fehlt.
Probleme der Analyse
Das Problem der Analyse ist offensichtlich, wenn man sich veranschaulicht, dass man für die ersten größeren Formteile wie Expositionen von Sonaten vier Funktionsbegriffe zur Verfügung hat, es in einer Gliederungsanalyse nach Kadenzen leicht zu einer größeren oder kleineren Anzahl von Abschnitten kommen kann. Darüber hinaus sollen Abschnitte, die in verschiedenen Kompositionen mit demselben Formfunktionsbegriff gekennzeichnet werden, auch hinsichtlich Ihrer Formfunktion vergleichbar sein.