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Heinrich Christoph Kochs viergliedriges Grundmodell: K1-K2-K3-K4
Im ersten größeren Formteil einer Komposition (also z.B. in einem Menuett bis zum Doppelstrich, einer Sonate oder Sinfonie bis zum Ende der Exposition, im A-Teil einer Arie usw.) sollten nach Heinrich Christoph Koch drei Absätze und eine Kadenz stattfinden. Für einen pragmatischen Analyseansatz werden auch unter Absätzen Kadenzen verstanden, sodass die nachstehende Kadenzreihenfolge (Kadenz = K) den ersten größeren Formteil einer umfangreicheren Komposition charakterisiert:
- Ganzschluss in der Haupttonart (= K1)
- Halbschluss in der Haupttonart (= K2)
- Halbschluss in der Nebentonart (= K3)
- Ganzschluss in der Nebentonart (= K4)
Als Halbschlusswendung in der Haupttonart (K2) ist in der Abbildung oben ein sogenannter diskantisierender Halbschluss zu sehen, für den eine chromatische Bassbewegung zum Dominantakkord (f-fis-g) charakteristisch ist. Die beim Halbschluss in der Nebentonart (K3) abgebildete Kadenzwendung wird aufgrund der Bassbewegung in den Dominantakkord auch als tenorisierend bezeichnet. Das nächste Notenbeispiel zeigt die beiden Halbschlusswendungen vertauscht, das heißt, die tenorisierende Wendung als Halbschluss in der Haupttonart (K2) und die diskantisierende als Halbschluss in der Nebentonart (K3):
Beispiel Arie: A Serpina penserete von Giovanni Battista Pergolesi
Das folgende Notenbeispiel zeigt den ersten Formteil der Arie A Serpina penserete in B-Dur aus der Oper La serva padrona von Giovanni Battista Pergolesi. Der erste Abschnitt der Arie weist die vier bei Koch erwähnten Kadenzen auf bzw. lässt sich durch das Kadenzmodell K1-K2-K3-K4 verstehen:
G. B. Pergolesi, A Serpina penserete, aus: La serva padrona, Quelle: YouTube
Aufgabe 1:
- Bestimmen Sie die Kadenzen in dem ersten Formteil der Arie der Serpina von Giovanni Battista Pergolesi.
- Beziehen Sie ihr Analyseergebnis auf das eingangs gegebene Kadenzmodell (K1-K2-K3-K4).
Aufgabe 2:
- Bestimmen Sie die Kadenzen in der Exposition des Divertimento in B-Dur von Joseph Haydn.
- Beziehen Sie ihr Analyseergebnis auf das eingangs gegebene Kadenzmodell (K1-K2-K3-K4).
- Vergleichen Sie die Halbschlüsse im eingangs gegebenen Kadenzmodell mit den Halbschlüssen in den Takten 6−7 der Arie von Pergolesi und den Takten 26−29 der Exposition des Divertimento von Haydn. Beschreiben Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede in diesen Kadenzgestaltungen (Erklärungen zu dem besonderen Akkord in diesen Kadenzwendungen finden Sie hier.
Dieses Modell ist zum Beispiel hilfreich für ein Verständnis der Exposition der Klaviersonate Op. 2, Nr. 3 in C-Dur von Ludvig v. Beethoven:
Ludvig v. Beethoven, Sonate für Klavier Op. 2, Nr. 1, 1. Satz (Exposition),
Klavier: Valentina Lisitsa, Quelle: YouTube
Aufgabe 3:
- Bestimmen Sie die Kadenzen in der Exposition der Klaviersonate in C-Dur von L. v. Beethoven.
- Beziehen Sie ihr Analyseergebnis auf das eingangs gegebene Kadenzmodell (K1-K2-K3-K4).
- Vergleichen Sie den Halbschlusse in T. 42–43 mit den Halbschlüssen in den Takten 27–29 in der Sonate Haydns und den Takten 6−7 der Arie von Pergolesi. Beschreiben Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede in diesen Kadenzgestaltungen (Erklärungen zu dem besonderen Akkord in diesen Kadenzwendungen finden Sie hier.
- Analysieren Sie Charakter und das Satzbild der Exposition und bestimmen Sie die Abschnitte, in denen überwiegend Sechzehntel im Forte (f) oder Fortissimo (ff) vorkommen.
W. A. Mozart, Sinfonie Nr. 29 A-Dur K201, CAMERATA Salzburg,
aus dem Großen Saal der Stiftung Mozarteum, Quelle: YouTube
Aufgabe 4:
- Bestimmen Sie die Kadenzen in der Exposition der Sinfonie in A-Dur KV 201 von W. A. Mozart.
- Beziehen Sie ihr Analyseergebnis auf das eingangs gegebene Kadenzmodell (K1-K2-K3-K4).
- Zeichnen Sie anhand der Dynamikvorgaben und der Aufnahme ein Dynamikdiagramm der Exposition.
Zusammenfassung
Kompositionen, die durch alle vier Kadenzen nach H. Chr. Koch charakterisiert haben mindestens vier, bei Kadenzwiederholungen oder einer Taktgruppe nach dem Ganzschluss fünf oder mehr Abschnitte:
- Gestaltung vor einer K1,
- Gestaltung vor einer K2,
- Gestaltung vor einer K3,
- Gestaltung vor einer K4 und ggf. noch eine
- Gestaltung nach einer K4.
In Sonaten und Sinfonien ist aufgrund der Anzahl der Abschnitte die Zuweisung der vier Formfunktionen Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe schwierig. Die folgenden Punkte können bei der Orientierung helfen:
- Die Gestaltung vor der K1 lässt sich als Hauptsatz bezeichnen.
- Nach der K1 erklingt eine Überleitung, für Überleitungen ist ein Ende mit einem Halbschluss (K2 oder K3) typisch. Diese formale Position wird häufig im »rauschenden« Charakter inszeniert und ist durch Sechzehntelbewegungen, Streichertremolos, einen vollen Bläsersatz und laute Dynamik (f) charakterisiert.
- Seitensätze (cantable Sätze) können, müssen jedoch nicht nach einer K2 oder K3 erklingen. Es gibt daher Kompositionen mit keinem und welche mit mehreren Seitensätzen.
- Schlussgruppen enthalten einen Ganzschluss oder mehrere Ganzschlüsse in der Nebentonart (K4) mit »rauschendem« Charakter (und entsprechen damit häufig der Gestaltung von Überleitungen). Diese Ganzschlüsse in der Nebentonart werden häufig durch einen Triller ausgezeichnet, können virtuos angelegt sein und eine große Ausdehnung haben (Arientriller-Kadenz).