Signalakkorde der Kadenz

Einführung

Der Begriff Signalkakkorde stammt aus der Gehörbildung und wurde für Akkorde eingeführt, welche die Funktion eines Signals vor einer Kadenz bzw. einem wichtigen Ganz- oder Halbschluss haben:

Als Signalakkorde werden im folgenden alle Akkorde bezeichnet, die sich historisch aus der Dissonanzstation der zweistimmigen Kadenz entwickelt haben und im Sinne der Funktionstheorie als Sub- oder Doppeldominanten interpretiert werden.

Ulrich Kaiser, Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation, Höranalyse (= BSM 11), Kassel 1998, S. 377.

Zu den Signalakkorden zählen zum Beispiel:

  • der subdominantische Sext- oder Quintsextakkord,
  • der neapolitanische Sextakkord (Neapolitaner),
  • der doppeldominantische Sext- oder Quintsextakkord,
  • der verminderte Septakkord und
  • der übermäßige Sext-, Quintsext- sowie Terzquartakkord.

Die Dissonanzstation der Kadenz

Die Signalakkorde lassen sich historisch über das Kadenzmodell verstehen. Die Stelle, die im Zitat oben als Dissonanzstation bezeichnet worden ist, wird in der folgenden Abbildung (nach dem Ziehen des Sliders) rot markiert, die der Dissonanzstation folgende Dominante grün:

--:-- / --:--

Der Begriff Dissonanzstation orientiert sich an der in einer Kadenz (virtuell oder real) enthaltenen Dissonanz, also dem Zusammenspiel von Tenor- und Sopranklausel, die historisch gesehen für die Dissonanz einer Kadenz verantwortlich sind:

--:-- / --:--

Wichtig für die Formbildung tonaler Kompositionen war, dass diese Klänge nicht nur in einer Kadenz aus wenigen Akkorden, sondern auch in größeren Zusammenhängen ihre charakteristische Funktion behalten haben, ein wichtiges Signal für eine Kadenz bzw. folgenden Halb- oder Ganzschluss zu bilden. Das wird im Folgenden veranschaulicht.

Subdominantische Klänge

Der subdominantische Quintsextakkord

Eine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beliebte Variante ist ein Akkord, den die Funktionstheorie als Subdominante mit Sexte chiffrieren würde, wobei es für ein Verständnis der chromatischen Akkorde (und auch historisch) hilfreicher ist es, diesen Akkord als Sextakkord der zweiten Stufe zu interpretieren:

--:-- / --:--

Der subdominantische Quintsextakkord ist historisch gesehen ein Septakkord der zweiten Stufe und Teil einer Harmonik, die über zwei Quintfälle eine Tonika bzw. einen Schlussakkord herbeiführt (in dem Modell oben ii7-V-I oder d7-G-C) . Dieser Akkord ist besonders charakteristisch für die Generalbassmusik der erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, z.B. für die Schlussbildungen in den Choralsätzen von Johann Sebastian Bach:

--:-- / --:--

J. S. Bach, Kantate Halt im Gedächtnis Jesum Christ BWV 67,
Orchester: Netherlands Bach Society, Dirigent: Jos van Veldhoven, Quelle: YouTube

In Sonaten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet sich der subdominantische Quintsextakkord auch als Signal für groß angelegte Kadenzen. Charakteristisch für diese Verwendungsweise ist, dass der Signalakkord in Sonaten oftmals mehrere Takte dominiert (man spricht dann auch von einer Auskomponierung des Akkords). In der folgenden Abbildung wird beim Bewegen des Sliders der Signalakkord rot, die Dominante gelb und der tonikale Abschluss grün markiert:

--:-- / --:--

Interpret: unbekannt, Quelle: YouTube

Durchaus charakteristisch im Kopfsatz der Klaviersonate von Mozart ist, dass in T. 25 und 26 zuerst ein subdominantischer Quintsextakkord zu hören ist, der dann ab T. 27 in einen subdominantischen Sextakkord überführt wird.

Der subdominantische Sextakkord

Subdominantische Sextakkorde sind sehr beliebte Signalakkorde in der zweiten Hälfte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel der Klaviersonate von Mozart hat dabei eine charakteristische Verwendungsweise gezeigt, denn der subdominantische Sextakkord markiert insbesondere in der Instrumentalmusik dieser Zeit den Beginn musikalisch wichtiger Kadenzen.

--:-- / --:--

Ein solcher Sextakkord signalisiert den Beginn einer Kadenz am Ende des Kopfsatzes der Sonate für Klavier in F-Dur Op. 10, Nr. 2 von Ludwig van Beethoven. Beim Bewegen des Sliders wird der subdominantische Sextakkord dieser Kadenz in C-Dur grün markiert:

--:-- / --:--

L. v. Beethoven, Sonate für Klavier in F-Dur Op. 10, Nr. 2, 1. Satz,
Klavier: Valentina Lisitsa, Quelle: YouTube

Der Neapolitaner

Harmonisch gesehen ist der subdominantische Sextakkord eine Umkehrung der ii. Stufe in Dur (also im vorangegangenen Beispiel ein d-Moll Sextakkord in C-Dur). Wird die zweite Stufe tiefalteriert, entsteht ein Des-Dur, und der Sextakkord der tiefalterierten II. Stufe ist auch ein Signalakkord. Dieser Signalakkord hat aufgrund seiner kompositionsgeschichtlichen Bedeutung einen eigenen Namen erhalten: der Neapolitaner.

--:-- / --:--

Ein Neapolitaner als auskomponierter Signalakkord (wird beim Bewegen des Sliders rot markiert) erklingt zum Beispiel im Schlusssatz der Mondschein-Sonate bzw. der Klaviersonate in cis-Moll op. 27, Nr. 2 Ludwig van Beethovens:

--:-- / --:--

L. v. Beethoven, Sonate quasi una fantasia in cis-Moll op. 27 Nr. 2 (Mondschein-Sonate)
Klavier: Jürg Hanselmann (live am 29. September 2012, Kantonsschule Sargans), Quelle: YouTube

Und ein Neapolitaner, der nicht in einem virtuosen, sondern sehr sanglichen Kontext erklingt, signalisiert die Kadenz am Ende des Hauptsatzes im langsamen Satz des Klavierkonzerts in A-Dur KV 488:

--:-- / --:--

Wolfgang Amadé Mozart, Klavierkonzert in A-Dur KV 488, 2. Satz, Anfang,
aus: L'Art De Clara Haskil, Philips 420525-1, Aufnahme: 1955, CC0 (Public Domain).

Doppeldominantische Klänge

Der doppeldominantische Quintsext- und Sextakkord

Ein doppeldominantischer Quintsextakkord entsteht durch Chromatisierung des Basstones des subdominantischen Quintsextakkords. Als Signalakkord, für den Sie bisher nur subdominantische Klänge kennengelernt haben, erklingt nun ein Akkord, der in der Funktionstheorie als Doppeldominante interpretiert wird:

--:-- / --:--

Und auch diesen Akkord gibt es in einer Variante ohne die Dissonanz:

--:-- / --:--

Die doppeldominantischen Signalakkorde wurden im 18. und frühen 19. Jahrhundert häufig als Klangverschärfung bzw. zur Spannungssteigerung eingesetzt. Auf diese Weise können doppeldominantische Signalakkorde einen subdoimnantischen Signalakkord mit der Dominante einer Kadenz verbinden. Das folgende Beispiel entstammt dem Kopfsatz der Waldstein-Sonate von Ludwig v. Beethoven:

--:-- / --:--

Ludwig v. Beethoven, Sonate für Klavier in C-Dur Op. 53 (Waldstein), 1. Satz Allegro con brio
Klavier: Mikhail Pletnev, Quelle: YouTube

Der doppeldominantische verminderte Septakkord

Als eine weitergehende Klangverschärfung lässt sich der verminderte Septakkord interpretieren:

--:-- / --:--

Auch dieser Klang wurde in der Kompositionspraxis des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gerne dazu verwendet, einen subdominantischen Signalakkord mit der Dominante der Kadenz zu verbinden. Diese Klangfolge kündigt zum Beispiel die große Schlusskadenz in der Klaviersonate in D-Dur KV 284 von W. A. Mozart an (beim Ziehen des Sliders wird der doppeldominantische verminderte Septakkord rot markiert):

--:-- / --:--

W. A. Mozart, Sonate für Klavier KV 284 (Dürnitz), 1. Satz Allegro
Klavier: Maria João Pires, Quelle: YouTube

Der übermäßige Quintsextakkord

Das folgende Modell zeigt, wie im doppeldominantischen verminderten Septakkord durch Chromatisierung des a zu as eine neuer Klang als Signalakkord entsteht.

--:-- / --:--

Das erstmalige Vorkommen dieses außergewöhnlichen Klangs, in dem eine verminderte Terz vorkommt (fisas), könnte man leicht im 19. Jahrhundert verorten. Tatsächlich leitet jedoch schon Johann Sebastian Bach im Crucifixus seiner h-Moll-Messe (1748/1749) die (unerwartete) Schlusskadenz in G-Dur mit diesem Signalakkord ein:

--:-- / --:--

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde dieser Klang dann in der folgenden Lage ein Standard, um eine wichtige Ganz- oder Halbschlusskadenz anzukündigen:

--:-- / --:--

In Harmonielehren wird dieser Akkord auch als übermäßiger Quintsextakkord oder – in einer Variante ohne das es – als übermäßiger Sextakkord bezeichnet. Diese Benennung orientiert sich am Bass (as), dessen Leittonbewegung zur Dominante an eine phrygische Wendung erinnert, und an der zum Bass erklingenden übermäßigen Sexte (fis). Auf eindrucksvolle Weise signalisiert der übermäßige Sextakkord zum Beispiel das Ende des ersten Abschnitts in g-Moll, in der Pamina in der Zauberflöte KV 620 von W. A. Mozart ihr Leid beklagt:

--:-- / --:--

W. A. Mozart, Die Zauberflöte, Sopran: Hilde Güden, Wiener Philharmoniker, Leitung: Karl Böhm
Erscheinungsdatum: 1960, Lizenz: CC0 (in Deutschland Public Domain)

Eine weitere Klangvariante der Akkorde mit übermäßiger Sexte ist der übermäßige Terzquartakkord:

--:-- / --:--

Allen bisherigen Modellen gemeinsam ist, dass die Dominantstation nur aus einem Akkord besteht, der Dominante . In der Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist es jedoch üblich, dass der Eintritt des Dominantakkords mit einem Doppelvorhalt hinausgezögert wird, dem sogenannten Dominant-Quartsexttakkord (oder auch: Vorhalts-Quartsextakkord). Das folgende Beispiel zeigt einen Signalakkord mit übermäßiger Sexte und eine Dominante mit Vorhalts-Quartsextakkord:

--:-- / --:--
--:-- / --:--

Ludwig v. Beethoven, Sinfonie in c-Moll Op. 67, 2. Satz, T. 23−36.
Berliner Philharmoniker, Dirigent: Herbert v. Karajan, Aufnahme: 1962
Lizenz: CC0 (in Deutschland Public Domain)

Auch wenn im Vorangegangenen die Signalakkorde der Beispiele (mit Ausnahme der Arie der Pamina) immer Ganzschlusskadenzen angekündigt haben, soll das letzte Beispiel veranschaulichen, dass es nur eine Frage der metrischen Inszenierung ist, ob man einen Signalakkord als Ankündigung eines Halb- oder Ganzschlusses empfindet. In einem Halbschluss tritt die Dominante auf metrisch schwerer Zeit ein, in einem Ganzschluss führt die Dominante von einer metrisch leichten Zeit zu einer metrisch schweren Tonika:

--:-- / --:--