Akkorde mit übermäßiger Sexte

In diesem Tutorial erfährst du alles über Akkorde mit einer übermäßigen Sexte (z. B. den übermäßigen Sextakkord, den übermäßiger Quintsextakkord oder den übermäßigen Terzquartakkord): wie sie klingen, wie und in welchen Formen sie in der Musik eingesetzt werden und wie du sie ausrechnen bzw. spielen kannst.

Inhalt

Akkorde

Eine Griffbild, zwei Akkorde, mehrere Auflösungen

Höre dir den folgenden Akkord an. Konzentriere dich dabei auf den obersten Ton und stelle dir vor, wie du ihn auflösen würdest:

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Hast du dir die Auflösung des obersten Tons nach unten vorgestellt? In diesem Fall hast du einen Dominantseptakkord gehört, wobei der oberste Ton eine Septime ist und Septimen werden in der Musik einer bestimmten Stilistik nach unten aufgelöst. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten:

  1. Auflösung über eine kleine Sekunde abwärts in die Durterz einer Tonika oder
  2. Auflösung über eine große Sekunde abwärts in die Mollterz einer Tonika.

Hör dir die beiden Varianten an:

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Doch auch eine Auflösung des höchsten Tons nach oben ist denkbar. In diesem Fall erklingt ein übermäßiger Quintsextakkord. Höre dir auch diese Variante an. Vielleicht klingt sie für dich unerwartet, da du die vorige Auflösungsvariante noch im Ohr hast. Jedoch findet sich auch diese Auflösung des Klangs in der Literatur und sie kann beim Hören wie ein Signal einen neuen Abschnitt ankündigen:

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Hier nochmals beide Varianten im Vergleich: Dominantseptakkord und der übermäßige Quintsextakkord mit ihren jeweiligen Auflösungen. Höre sie dir an und betrachte dazu das Notenbild.

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Den unterschiedlichen Auflösungen entsprechend werden die obersten Töne unterschiedlich notiert: Der Ton es – kleine Septime zum Basston f – zeigt eine Auflösung abwärts an, der Ton dis – übermäßige Sexte zum Basston f – eine Auflösung aufwärts.

Achte als nächstes auf die Bassbewegung:

  • Bei einer Auflösung des Dominantseptakkords fällt der Bass eine Quinte nach unten (alternativ kann er auch eine Quarte nach oben steigen).
  • Bei einer Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords bewegt er sich eine kleine Sekunde nach unten (→ phrygische Sekunde).
Zusammenfassung

Zwei bei isoliertem Spiel in gleichstufig temperierter Stimmung gleich klingende, jedoch unterschiedlich notierte Akkorde, werden unterschiedlich aufgelöst:

  • Der Dominantseptakkord mit den Tönen f-a-c-es führt in die Tonika B-Dur. Nach einem Dominantseptakkord erklingt ein Quintfall im Bass, die Septime der Sopranstimme wird eine Sekunde abwärts aufgelöst (auch Gleitton genannt, also ein Leitton mit abwärtsgerichteter Strebetendenz).
  • Der übermäßige Quintsextakkord mit den Tönen f-a-c-dis in die Dominante E-Dur. Nach einem übermäßigen Quintsextakkord in der bisher gezeigten charakteristischen Lage erklingt dagegen zur Auflösung eine fallende kleine Sekunde im Bass (f-e = phrygische Sekunde) und eine steigende kleine Sekunde in der Oberstimme durch die Auflösung der übermäßigen Sexte (dis-e). Der Basston des Akkordes fungiert also als Gleitton, die übermäßige Sexte ein Leitton.
Begriffsklärung: übermäßiger Sextakkord, Quintsextakkord und Terzquartakkord

Unter den Akkorden mit übermäßiger Sexte werden drei – klanglich und in ihrer Verwendung ähnliche – Akkordtypen unterschieden:

  • Der übermäßige Sextakkord (in der englischsprachigen Musiktheorie Italian sixth) hat über dem Basston eine großen Terz und eine übermäßige Sexte – besteht also insgesamt aus nur drei verschiedenen Tönen.
  • Der übermäßige Quintsextakkord (German sixth) beinhaltet neben der großen Terz und der übermäßigen Sexte auch noch eine reine Quinte. In der Literatur wird dieser Akkord häufig über einen Quartsextvorhalt aufgelöst, wodurch sich eine Quintparallele vermeiden lässt (f-c → e-h).
  • Der übermäßige Terzquartakkord (French sixth) besteht aus einer großen Terz, einer übermäßigen Quarte und einer übermäßigen Sexte.
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Signal für Kadenzen

Akkorde mit übermäßiger Sexte in der Literatur

Akkorde mit übermäßiger Sexte kündigen in der Regel eine Dominante an. Sie kommen daher in einem Ganz- oder Halbschluss vor. Hier findest du mehr zu den sogenannten →Signalakkorden der Kadenz.

a) Halbschluss

Chopin: Nocturne cis-Moll (transponiert nach d-Moll)

Hör dir nun den Anfang des bekannten Nocturnes von Frédéric Chopin an (Zur angenehmeren Lesbarkeit ist das Notenbeispiel nach d-Moll transponiert): In der Introduktion erklingt als fünfter Akkord der übermäßige Quintsextakkord mit den Tönen b-d-f-gis. Wie im vorigen Beispiel löst sich die Oberstimme einen Halbton nach oben, die Bassstimme einen Halbton nach unten auf. Die Phrase endet damit auf einem A-Dur-Akkord, der Dominante. Damit bildet diese Akkordverbindung einen Halbschluss. Du kannst das Notenbeispiel aufdecken, um die Analyse zu sehen.

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F. Chopin, Nocturne cis-Moll op. posthum, Klavier: Georg Thoma, Lizenz CC0-1.0

Merke

Der typische Ort für Akkorde mit übermäßiger Sexte ist die erniedrigte 6. Bassstufe (bzw. die reguläre 6. Bassstufe in der natürlichen Molltonleiter), also einen Halbton über dem Dominantton, in den der Bass leittönig weiterführt.

Weiter oben wurde ein zunächst isoliert klingender Akkord gleichberechtigt in zwei verschiedene Richtungen aufgelöst. Tritt dieser aber in einem tonalen Kontext auf der 6. Bassstufe auf, so hören wir ihn eindeutig als übermäßigen Sextakkord und erwarten die Auflösung in die Dominante (wie in diesem Beispiel von Chopin).

Allerdings kann die Auflösung auch unerwartet anders erfolgen - mehr hierzu findest du im Dokument zur →Modulation mit dem übermäßigen Quintsextakkord (Link wird später ergänzt).

Mozart: Violinsonate KV 15 in B-Dur

Sehr charakteristisch ist in Sonaten der übermäßige Sextakkord als Signal für den Halbschluss in der Nebentonart, wie es sehr schön in der Klavier-Violinsonate KV 15 in B-Dur von W. A. Mozart zu sehen ist. Das folgende Beispiel zeigt den harmonischen Weg zur Nebentonart F-Dur, der übermäßige Quintsextakkord (beim Berühren der Abbildung rot markiert) signalisiert das Erreichen des Halbschlusses in der Nebentonart F-Dur:

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W. A. Mozart, Sonate für Klavier, Violin und Cello in B-Dur KV 15, Cembalo: Gary Cooper, Violine: Rachel Podger, Cello: Alison McGillivray, Quelle: YouTube

b) Ganzschluss

Beethovens 5. Sinfonie

Ein prominentes Beispiel für den Akkord mit übermäßiger Sexte im Rahmen einer Ganzschlusskadenz findet sich im zweiten Satz der 5. Sinfonie von L. v. Beethoven (beim Aufdecken wird der Akkord rot markiert). Die Kadenz führt nach C-Dur, entsprechend steht der übermäßige Quintsextakkord hier auf as, der erniedrigten 6. Bassstufe. Die darauffolgende Dominante erhält zunächst einen Quartsextvorhalt. Die Bassstufenbewegung ist also b6-5-1.

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Ludwig v. Beethoven, Sinfonie in c-Moll Op. 67, 2. Satz, T. 23−36, aus: Ludwig v. Beethoven, 9 Symphonien, Berliner Philharmoniker, Dirigent: Herbert v. Karajan, Aufnahme: 1962, CC0 Public Domain, Quelle: cc0.musik-openbooks.de/

Im Folgenden siehst du die Wendung aus der Sinfonie Beethovens als Klaviersatz (links), im zweiten Beispiel (rechts) wurde die Stimmführung vereinfacht:

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John Coltrane: "Mr. P.C."

Ein gutes Beispiel für den übermäßigen Quintsextakkord im Rahmen eines Ganzschlusses im Jazz ist der Blues "Mr. P.C." von John Coltrane. Wir hören die Basstonfolge as-g-c (verziert durch einen Walking Bass). Im Jazz notiert man den übermäßigen Quintsextakkord ganz pragmatisch enharmonisch umgedeutet als Dominantseptakkord, also As7. Man spricht auch von "Tritonussubstitution", weil der As7 den einen Tritonus entfernten D7 oder Dm7 in der regulären II-V-I-Kadenz ersetzen kann.

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Quelle: YouTube

Umkehrungen

Umkehrungen

Übermäßige Sextklänge dürften bereits im 16. Jahrhundert häufig gesungen worden sein. allerdings nur in der bisher beschriebenen Klanglage der Töne, in der die phrygische Sekunde in der Unterstimme liegt. Fasst man den übermäßigen Quintsextakkord als Terzenschichtung bzw. als Akkord auf, lassen sich auch Klanglagen denken.

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Ein sehr frühes Beispiel für den übermäßigen Quintsextklang in einer seltenen Lage (a) (in Tasten gedacht als Sekundakkord und in Terzen gedacht als Grundstellung) findet sich am atemberaubenden Schluss des Crucifixus der h-Moll-Messe BWV 232 von Johann Sebastian Bach:

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J. S. Bach, Messe in h-Moll, Crucifixus (Schluss), Collegium Vocale Gent, Ltg.: Philippe Herreweghe, Quelle: YouTube

Hilfe

Hilfe zum Errechnen der Akkorde mit übermäßiger Sexte

Spielen Sie zuerst übermäßige Quintsextakkorde auf dem Klavier. Um einen sehr häufig anzutreffenden Fehler zu vermeiden, empfehlen wir Ihnen, den übermäßigen Quintsextakkord sich nicht einfach als Dominantseptakkord vorzustellen (obwohl er sich auf den Klaviertasten so anfühlt). Fehler vermeiden helfen die folgenden Denkschritte:

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Bei der Auflösung können Sie den Denkweg rückwärts spielen, also:

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Zusammenfassung (Denkweg in Worten)

  • von einer Tonika aus den Dominantton errechnen (z.B. von F-Dur = c)
  • vom Dominantton aus Leittöne (kleine Sekunden) auf- und abwärts rechnen (von c = des und h, Achtung: nicht cis oder ces, weil das keine kleinen Sekunden, sondern chromatisch verfärbte Primen zu c wären)
  • verminderte Terz zur übermäßigen Sexte umdrehen und vom Halbton oberhalb der Dominante aus einen Durdreiklang bilden (= des-f-as-h).

Die Auflösung des übermäßigen Quintsextakkord verläuft quasi rückwärts:

  • Leittöne des übermäßigen Quintsextakkord in den Dominantgrundton auflösen,
  • Quart- und Sextvorhalt in Dominantterz und -quinte auflösen und
  • Dominante in die Tonika auflösen.

Herleitungen

Herleitungen der Akkorde mit übermäßiger Sexte

Systematisch lassen sich Akkorde mit übermäßiger Sexte auf zwei unterschiedliche Arten herleiten und für beide Herleitungen lassen sich Beispiele als der Literatur finden.

Die Doppeldominante mit tiefalterierter Quinte

Eine gebräuchliche Erklärung der Akkorde mit übermäßiger Sexte leitet verweist auf die Doppeldominante. Das folgende Beispiel aus der Einleitung der Schöpfung von Joseph Haydn veranschaulicht den Sachverhalt:

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Joseph Haydn, Die Schöpfung, Einleitung, Freiburger Barockorchester, Ltg.: René Jacobs, Quelle: YouTube

Kurz vor der Reprise ist zuerst ein doppeldominantischer Terzquartakkord zu hören (rot), der dann über die Tiefalterierung der Quint a zu as zu einem übermäßigen Quintsextakkord (gelb) wird, der sich über eine Dominante in eine Tonika auflöst (grün). Der übermäßige Quintsextakkord lässt sich im Rahmen dieses Ganzschlusses als eine chromatischen Verfärbung einer Doppeldominante verstehen.

Als Subdominante mit hochalteriertem Grundton

Insbesondere der übermäßige Sextakkord (mit fehlender Quinte) wird häufig als alterierte phrygische Wendung aufgefasst. In den folgenden Beispielen wäre die Chromatisierung fis als Verfärbung des Grundtons eines f-Moll-Klangs zu interpretieren:

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Das folgende Beispiel zeigt in der g-Moll-Fuge BWV 861 aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers den wichtigen Halbschluss vor der Engführung des Themas (nach einem wunderschön ausgearbeiteten Parallelismus-Sequenzmodell. Hier erklingt auf einem Durchgangsachtel der übermäßige Sextakkord, der wie eine Hochalteration des c wirkt:

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Aufgrund theoriegeschichtlicher Probleme ist es empfehlenswert, auf eine funktionstheoretische Deutung des Akkords zu verzichten und entsprechende Akkorde einfach nur nach ihrem Generalbassaufbau zu benennen: übermäßiger Sext- bzw. Quintsextakkord. Andere mögliche Bezeichnungen sind Signalakkord und Predominant.