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Das Boom-Festival in Portugal ist eines der größten Psytrance-Festivals der Welt. | Quelle: boomfestival.org
Psytrance ist ein Subgenre von Trance, klanglich jedoch stark von seinem großen Bruder entfernt und bildet kulturell eine eigene Szene. Es wird als Weiterentwicklung von Goa-Trance angesehen und oft einfach nur "Goa" genannt. Goa-Trance beschreibt in der Regel allerdings die ältere Variante dieser Musik, die ihren Namen von Outdoor-Partys im gleichnamigen indischen Bundesstaat bekam, welche bereits in den 1960er-Jahren gefeiert wurden. Der anfangs dort noch gespielte Psychedelic Rock wurde in den 1990ern durch experimentelle elektronische Musik abgelöst, welche dort ihren Namen bekam. Goa-Trance wurde international bekannt und entwickelte sich Ende der 90er-Jahre weiter zu Psytrance. Bunte Kleidung, Fernweh, Naturverbundenheit und erweiterte Bewusstseinszustände durch Meditation oder Psychedelika sind alles stark mit der Szene konnotierte Themen. Nicht umsonst tragen Songs Titel wie Forest of Reality, Mama India oder We found Peace.
Merkmale
Der Stil übernimmt zwar aus den anderen Trance-Stilen das typisch schnelle Tempo von 130 bis 150 bpm und die aggressiven Drum-Sounds, verzichtet aber zugunsten von düsteren "psychedlischen, organischen oder mechanischen Sounds" auf die euphorischen Melodien und Akkorde und die Fülle im Mix. Kennzeichnend sind der großflächige Einsatz fernöstlicher Instrumente und Vocals sowie der aggressive, maschinenhafte Bass. Generell kann dem Stil die Absicht nachgesagt werden, durch die gezielte Manipulation von Sounds eine quasi übernatürliche Erfahrung schaffen zu wollen.
Infected Mushroom, eines der bekanntesten Produzenten-Duos des Genres, beschreiben den Unterschied folgendermaßen:
A lot of times Trance will use melodies that achieve a level of harmonious agreement with our minds, many times Psy uses melodies that can be characterized as more ‘sinister’ or ‘heavy’. To boil it down, Trance is like skipping around in a flower garden, whereas Psy is like jumping on all of the flowers in the patch.
Im Folgenden sollen die genretypischen Merkmale anhand eines Demo-Loops von 142 bpm herausgearbeitet und dargestellt werden.
Drums
Die Drums zeichnen sich durch relativ kurze, aber durchsetzungsfähige Sounds aus. Kick, Clap und Hi-Hats haben alle starke Transienten, erklingen aber insgesamt recht kurz, wodurch mehr Platz für andere Elemente gelassen wird. Der Sound der Kick hat zudem durch eine schnell verlaufende Pitch Envelope viel Punch und wird für mehr Durchsetzungskraft im Mix von einer Hi-Hat unterstützt. Diese gliedert sich im 2. Drop mit ihrem durchgehenden Rhythmus in den Sechzehntel-betonten Groove der Musik ein.
Anstelle eines Crash-Beckens wird ein White-Noise-Sample verwendet, was sich mehr in die Ästhetik manipulierter Sounds einfügt und kurz vor dem 2. Drop kündigen vier sehr stark augmentierte Snare-Sounds den neuen Formteil an, wobei der letzte Snare-Sound eine sogenannte Pryda Snare ist. Solche starken Snare-Sounds vor dem Drop kommen im Psytrance oft vor.
Passend zur restlichen Ästhetik werden die Drums noch durch einzeln auftretende mechanische und organische Percussion-Sounds ergänzt und Dance-Music-typische Stilmittel wie ein verhallter Clap-sound oder ein Snareroll werden zur Markierung von Phrasenanfängen und -enden eingesetzt. Die sonst in anderen Dance-Stilen so prominenten 808- und 909-Sounds spielen im Psytrance keine besondere Rolle. Ethno- und World-music-inspirierte Drum- und Percussionsounds kommen hingegen häufig vor.
Bassline
Der repetetive, maschinenhafte Bass ist mit das charakteristischste Merkmal von Psytrance. Patterns von durchgehenden Sechzehnteln oder Achtel-Triolen sind die Norm; ab und zu werden aber auch nur Achtel im Offbeat eingesetzt. Solche Bass-Patterns werden oft auch als "rollend" oder "Rolling Bass" bezeichnet. Der lange Ton am Anfang jeder Viertakt-Phrase ist als künstlerische Freiheit zu verstehen.
Genauso entscheidend wie der Groove ist der fast schon knallige Sound des Basses, der durch sehr schnelle Filter- und Pitch-Envelope-Verläufe erzeugt wird. Der Subbass ertönt im selben Rhythmus, wodurch der Bass eine enorme Wucht bekommt, die in Verbindung mit der starken Kickdrum und dem hohen Tempo live über die starken PA-Systeme eine fast überwältigende Wirkung erzeugen.
Der Bass beginnt eigentlich auf einem sehr viel höheren Ton, wird aber dann mithilfe einer Pitch-Envelope innerhalb weniger Millisekunden wieder auf seinen Grundton gebracht. Dies geschieht so schnell, dass das menschliche Hirn keinen Tonhöhen-Unterschied wahrnimmt, sondern dies als zusätzliche hochfrequente Information mit dem Attack des Basses assoziiert. Zusätzlich rundet ein Low-Pass-Filter auch mithilfe einer Envelope den Sound ab, wodurch jeder Basston über seinen Verlauf hinweg abgedunkelt wird.
Vocals
Ebenfalls charakteristisch sind die Vocals, die eine "orientalische" Ästhetik hervorrufen sollen, und ihre durch einen Gate-Effekt erzeugte Rhythmisierung im 2. Drop. Da dieser Effekt in allen Formen von Trance benutzt wird, spricht man hier auch vom "Trance-Gate". Die Vocals reihen sich in die Goa-Ästhetik ein, die im Psytrance nach wie vor vorherrscht, während ihre Rhythmisierung sich in die der manipulierten, übernatürlich klingenden Sounds einfindet. Gesungene Texte kommen im Psytrance seltener vor und wenn doch, so stehen sie s gut wie nie in der englischen Sprache, die sonst in jeder anderen Form von Dance Music vorherrscht. Nicht selten sind allerdings englische Filmzitate oder solche aus Dokumentationen, deren Texte von den typischen Psytrance-Themen wie Fernweh und erweiterten Bewusstseinszuständen handeln.
Lead, Arp und Pad
Lead- und Arpeggio-Synth ergänzen sich in ihrer Funktion als vordergründiges Element jeweils im Drop und im Break, während das Pad weitestgehend dazu dient, Fülle und Tiefe im Mix herzustellen, sowie im Break zusammen mit dem Arp-Synth harmonischen Kontext zu liefern. Die Akkorde in diesem Formteil bestehen lediglich aus einer einfachen V-I-Verbindung von Abm und Eb, dessen Durterz zunächst noch durch einen Quartvorhalt vorenthalten wird und erst am Ende des Breaks erklingt. Das erzeugt zum einen Spannung, zum anderen gibt die für Dance-Music eigentlich untypische Farbe der Dominante dem Track eine gewisse Befremdlichkeit (gerade weil sie so untypisch ist), und trägt so auch zur Fernweh-Ästhetik der Musik bei. Zusätzlich bringen der Quartvorhalt und seine Auflösung noch eine gewisse Qualität der Endgültigkeit und Seriosität mit sich, die zur insgesamt düsteren Stimmung des Tracks beiträgt.
Passend zur fernöstlich angehauchten Ästhetik des Genres werden neben einfachem Moll oft entsprechende Skalen verwendet, wie z.B. harmonisch Moll/Dur, phrygisch, Mixolydisch-b9-b13 und zahlreiche weitere Skalen, die mit den Mitteln westlicher Harmonielehre eher schwer zu beschreiben sind (gerne hier korrigieren/ergänzen).
Alle drei Elemente sind wie viele andere Sounds stark verhallt und im Fall von Lead-Synth zusätzlich noch mit einem Ping-Pong-Delay im Dance-Music-typischen Rhythmus punktierter Achtel versehen und erinnern damit an das Muttergenre Trance. Der Lead-Synth erklingt außerdem anders als z.B. im klassischen (bzw. Uplifting) Trance in einer eher tieferen Lage. Lead-Synths und Melodien wie hier kommen im Psytrance nicht immer vor. Oft werden statt ihrer nur Arp-Synths, Vocals oder Samples eingesetzt (z.B. indischer Instrumente und Melodien) oder ihr Platz im Mix wird durch eine Aneinanderreihung psychedelischer Effektsounds eingenommen.
Das Timing des Delays des Lead-Synth wird im Break per Automation nach und nach verkürzt und dadurch immer höher, womit der Sound zu einem Effekt wird und sich mit den zahlreichen anderen FX-Sounds ergänzt. Ähnlich verhält es sich mit dem Arp-Synth, dessen Arpeggio-Tempo bis kurz vor den 2. Drop hin immer schneller wird und der dadurch ebenfalls ein spannungsteigender Effekt wird.
Earcandy/FX
Earcandy-Sounds nehmen im Psytrance eine Sonderstellung ein, da sie nicht wie in vielen anderen Stilen nur benutzt werden, um den Mix auszufüllen oder Lücken im Arrangement zu schließen. Im Gegenteil, sie tragen wesentlich zur düsteren und übernatürlichen Atmosphäre der Tracks bei und können, wie oben bereits erwähnt, auch zum vordergründigen Element eines Tracks werden. Hört man sich nur die beiden Earcandy-Spuren alleine an, fällt auf, wie vielschichtig und zahlreich diese sind. Es ist durchaus möglich, dass ein Track noch ein wesentlich dichteres Netz an Effektsounds beinhaltet als der hier vorliegende Demo-Loop.
Des weiteren können sich viele Elemente im Laufe eines Tracks zu Earcandy entwickeln, wie man zum Beispiel bei den Vocals oder dem Lead-Synth gesehen hat, oder erfüllen von Anfang an mehrere Zwecke.
Daneben kommen auch hier die Dance-typische Effekte vor, die zur Überleitung in andere Formteile gedacht sind. Diese fügen sich in die restliche Ästhetik des Tracks ein und sind verglichen denen anderer Stile recht dicht, kraftvoll und vordergründig zu hören.
Arrangement und Entwicklung im Verlauf
Die Drums beschränken sich im 1. Drop auf die Kickdrum, wodurch der Fokus auf den Bass und die Soundeffekte gelegt wird, die zusätzlich erklingen. Der Rest der Drums erklingt erst im 2. Drop und steigert dadurch gegenüber dem ersten Formteil die Energie. Passend dazu kommen auch die Vocals und ein paar Earcandy-Sounds erst im Break oder 2. Drop dazu. Diese Art des progressiven Songwritings ist recht typisch für das Arrangement der Drops in Psytrance; jedoch kann ein kurzer Demo-Loop wie hier diese Komponente natürlich nur begrenzt abbilden. Typisch sind auch – und hier ist eine große Gemeinsamkeit zu vielen anderen Trance-Stilen gegeben – der starke Kontrast des Breaks/Build-Ups zu den Drops und der sehr energiegeladene Build-Up. Spezifisch für Psytrance ist das Aufbrechen des rhythmischen Kontexts in diesem Formteil, was wie hier quasi zu einer Orientierungslosigkeit im Metrum führen kann, um dann erst im nächsten Drop oder noch während des Build-Ups wiederhergestellt zu werden. Nicht selten wechselt nach einem so großen Break/Build-Up der Bass auch seinen Groove; die gängigste Variante hier ist der Wechsel von einem Sechzehntel- zu einem Achtel-Triolen-basierten Pattern oder umgekehrt. Es sei außerdem noch darauf hingewiesen, wie energiegeladen der Build-Up durch das Zusammenspiel unter anderem der dichten und prominenten Effektsounds, der wuchtigen Snare-Drums und der weiteren oben beschriebenen Sounds und Mittel klingt. Dies zeigt auch die Verwandtschaft zu den anderen Trance-Stilen.
Mehrspurplayer
Der nachfolgende Player bietet die Möglichkeit, alle Elemente nach Belieben stummzuschalten, einzeln oder in verschiedenen Kombinationen anzuhören oder mit Hilfe des Faders in der Lautstärke zu reduzieren, um einzelne Aspekte der vorangegangen Analyse noch einmal besser nachvollziehen zu können.
Downloads
Hier sind sowohl die Masterdatei als auch die einzelnen Instrumente des Klangbeispiel sTrance als Stems zum Download bereitgestellt. Die Wav-Files können in eine DAW (z.B. Waveform) geladen werden und stehen zum freien Weiterarbeiten zur Verfügung (CC0).
Es empfiehlt sich dabei, das Songtempo in der DAW auf 142bpm zu stellen, da dann alle Spuren genau auf dem Grid liegen.
Bitte die Stems beim Import in eine DAW um etwa 5dB leiser machen, da es sonst zu Übersteuerungen kommen kann.
Hilight Tribe – Free Tibet (Vini Vici Remix) (machte das israelische Duo Vini Vici zu Weltstars und verhalf Psytrance 2017 zu einer Art Renaissance)
Hilight Tribe – Free Tibet (Vini Vici Remix) (2016) | Quelle: Youtube
Eniko vs Highko vs Rawar – Euterpe (Hi-Tech, eine wesentlich schnellere, progressivere und minimalistischere Variante von Psytrance)
Eniko vs Highko vs Rawar – Euterpe (2016) | Quelle: Youtube
Ritmo – Organic Rhythm
Ritmo – Organic Rhythm (2022) | Quelle: Youtube
Dimension 5 – Omega Centaurus (ein Oldschool Goa-Track)
Dimension 5 – Omega Centaurus (2007)| Quelle: Youtube