Alte Tonarten (Modi)

Das Thema Alte Tonarten, Kirchentonarten bzw. Modi ist sehr komplex. In diesem Tutorial werden einige pragmatische Hilfen zum Bestimmen von Modi gegeben.

Voraussetzungen: Tetrachorde und Tonleitern und Bestimmung der Vorzeichen einer Kirchentonleiter.

Für Profis: Wenn du dich für weitergehende Erläuterungen zum Thema interessierst, kannst du mehr erfahren in dem Tutorial Alte Tonarten (Modi) – Eine differenzierte Anleitung zum Verständnis .

Inhalt

Eine praktische Hilfe

Wenn du bisher gedacht hast, dass man den lydischen Modus an dem Tritonus f-h und den dorischen Modus an der großen Sexte d-h erkennen kann, kannst du dein Wissen hier erweitern. Denn im Hinblick auf Musik des 16. Jahrhunderts führt dieses Denken leider nicht selten zu einer fehlerhaften Bestimmung der Tonart bzw. eines Modus. Die sogenannten charakteristischen Intervalle (der Tritonus für Lydisch und große Sexte für Dorisch) helfen lediglich, die lydische bzw. dorische Tonleiter oder bestenfalls die Tonart einer einfachen Kompositionen aus dem Mikrokosmos von Bela Bartók zu bestimmen.

Die folgende Anleitung bietet dir eine praktische Hilfe im Umgang mit älterer mehrstimmiger Musik und ermöglicht es in vielen Fällen, die Tonart bzw. den Modus einer vor 1650 komponierten Musik angemessen zu bestimmen. Die folgende Grafik veranschaulicht diese pragmatische Vorgehensweise:

Vorgehensweise nach: Ulrich Kaiser, Der vierstimmige Satz. Kantionalsatz und Choralsatz, Kassel 2002, S. 27.
Abbildung herunterladen als PDF-Datei

Gehe anhand der Grafik wie folgt vor:

  • Bestimme die Finalis (hier sind in der Regel der Anfang und der Schluss einer Komposition aufschlussreich)
  • Bestimme anschließend die Terz über der Finalis unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung.
    • Ist die Terz über der Finalis klein, achte auf die Sekunde über der Finalis anhand der Generalvorzeichnung.
      • Ist die Sekunde über der Finalis groß, liegt eine Komposition im dorischen Modus (Dorisch) vor.
      • Ist die Sekunde über der Finalis klein, liegt eine Komposition im phrygischen Modus (Phrygisch) vor.
    • Ist die Terz über der Finalis groß, achte auf die Sekunde unter der Finalis anhand der Generalvorzeichnung.
      • Ist die Sekunde unter der Finalis klein, liegt eine Komposition im lydischen Modus (Lydisch) vor.
      • Ist die Sekunde unter der Finalis groß, liegt eine Komposition im Mixolydischen Modus (Mixolydisch) vor.

Beispiele

Toccata a 4 von Claudio Merulo (1533–1604):

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Aus heutiger Sicht würde man dieses Stück wahrscheinlich als eine Komposition in F-Dur bezeichnen (sie endet auch mit einer Kadenz in F). Das Problem: Cludio Merulo, der Komponist, kannte die Tonart F-Dur im heutigen Sinn noch nicht. Bestimmen wir die Tonart wie oben beschrieben, kommen wir zu dem folgenden Ergebnis:

  • Finalis ist f
  • die Terz über der Finalis f ist groß (f-a unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Sekunde unter der Finalis ist klein (f-e unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Tonart heißt Lydisch

Dass wir damit richtig liegen, zeigt uns ein Blick in die Partitur, denn Merulo hat die Tonart im Titel seiner Toccata angegeben, so dass wir mit Sicherheit sagen können, dass der Komponist die Komposition im lydischen Modus geschrieben hat (genauer: im hypolydischen Modus bzw. VI. Ton).

Nunc bibamus non sgeniter von Orlandus Lassus (1532–1594)

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Orlandus Lassus, Nunc bibamus non segniter
Chor: Alsfelder Vokalensemble, Leitung: Wolfgang Helbich, Quelle: YouTube

In diesem Fall führt der oben beschriebene Weg zu dem folgenden Ergebnis:

  • die Finalis ist d
  • die Terz über der Finalis d ist klein (d-f unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung, im Schlussklang hingegen erklingt im Cantus bzw. Alt ein fis)
  • die Sekunde über der Finalis ist groß (d-e unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Tonart heißt daher Dorisch

Benedicta sit Sancta Trinitas von Giovanni Pierluigi da Palestrina

Die Bestimmung eines Modus auf die oben beschriebene Weise funktioniert auch in chor- studienpraktischen Ausgaben, in denen Vorzeichen ergänzt und der Chorsatz transponiert worden sind. Das folgende Notenbeispiel zeigt die Motette Benedicta sit Sancta Trinitas von Palestrina in einer redigierten Ausgabe von Hermann Bäuerle aus dem Jahr 1904:

Palestrina, Benedicta sit Sancta Trinitas,
Ausgabe: Pierluigi da Palestrina in moderner Notation unter Zusammenziehung auf zwei Liniensysteme.
52 vierstimmige Motetten [...]
redigiert von Hermann Bäuerle, Regensburg 1904.

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Benedicta sit Sancta Trinitas, Coro melos Gloriae, Leitung: Juan Manuel Lara Cárdenas

In diesem Fall führt der oben beschriebene Weg zu dem folgenden Ergebnis:

  • die Finalis ist es
  • die Terz über der Finalis es ist groß (es-g unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Sekunde unter der Finalis ist klein (es-d unter Berücksichtigung der Generalvorzeichnung)
  • die Tonart heißt daher Lydisch

Wenn du den Slider nach rechts siehst, kannst du die Noten der alten Gesamtausgabe und die originale Tonart sehen (Finalis f mit einer b-Vorzeichnung). Auch in diesem Fall begegnet uns wieder ein lydischer bzw. hypolydischer Modus mit b-Vorzeichnung. Ob es sinnvoll ist, im Falle mehrstimmiger Musik zwischen authentischen und plagalen Modi zu unterscheiden (also z.B. zwischen Lydisch und Hypolydisch), wird in der Forschung umstritten diskutiert. Mehr zu den Problemen der Bestimmung eines Modus kannst du hier erfahren.

Achtung:

Es gibt Kompositionen im dorischen und lydischen Modus mit b-Vorzeichnung (die aus heutiger Sicht wie ein d-Moll oder F-Dur aussehen). Aus diesem Grund ist eine Modusbestimmung über die vermeintlich charakteristischen Intervalle wie ›dorischen Sexte‹ oder ›lydische Quarte‹ im Hinblick auf ältere Musik nicht zu empfehlen.