Alte Tonarten (Modi) – Eine differenzierte Anleitung zum Verständnis

Inhalt

Vorbemerkungen

Vorbemerkungen

Beschäftigt man sich nicht auf eine pragmatische Art mit dem Thema Kirchentonarten, Alte Tonarten oder Modi, steht man vor einer sehr komplexen Thematik, die fortwährenden Änderungen unterworfen war und in der Forschung entsprechend kontrovers diskutiert worden ist.

Die Frage nach der Gültigkeit der Modi für die Vokalpolyphonie des späten 15. und des 16. Jh. ist in der Forschung sehr kontrovers behandelt worden. Für Bernhard Meier (1974, 1992) »existieren […] die Modi im Bewußtsein des Komponisten schon vor aller konkreten musikalischen Erfindung« (1992, S. 14), sie bilden also – vergleichbar der Dur-Moll-Tonalität – ein fundamentales Referenzsystem und Kompositionsprinzip, das nicht nur den Choral, sondern auch die Polyphonie determiniert [...]
Carl Dahlhaus wandte sich vehement gegen Meiers Thesen. Er bestritt zwar nicht grundsätzlich dessen Behauptung von der universalen Gültigkeit des kirchentonalen Systems, lehnte aber die Gültigkeit des Tenorprinzips für diese Musik ab und sprach von einem »authentisch-plagalen Gesamtmodus« (1968, S. 184); wichtiger für ihn war der Zusammenhang zwischen Modalität und Klang- bzw. Klauseldisposition im Hinblick auf die Entwicklung hin zur harmonischen Tonalität.
Viel grundlegender ist die Kritik von Harold S.  Powers: Er bestreitet, daß die Modi überhaupt notwendige Grundlage der mehrstimmigen Komposition waren. Er schlägt statt dessen ein neues Klassifizierungsprinzip vor, den »tonal type« (nach dem von S. Hermelink [1960] eingeführten, in ähnlicher Weise verwendeten »Tonartentyp«), der die Elemente zusammenfaßt, über die sich ein Komponist mindestens im klaren sein mußte, bevor er mit dem Schreiben begann: Tonsystem (cantus durus oder mollis), Schlüsselung und Grundton.

David Hiley, Thomas Schmidt-Beste und Christian Berger, Art. Modus, Ab ca. 1470, in: MGG Online (2016).

Theorie

Zur Theorie

Die acht Modi

In der alia musica, einem musiktheoretischen Traktat aus dem 9. Jahrhundert, werden die Namen der indogermanischen (bzw. griechischen) Volksstämme Dorer, Phrygier und Lydier zur Bezeichnung für die Modi des Liturgischen Gesangs erwähnt. Danach gehören gregorianische Gesänge mit der Finalis d zum dorischen, mit der Finalis e zum phrygischen, mit der Finalis f zum lydischen und mit der Finalis g zum mixolydischen Modus. Diese Systematik wird heute auch als pseudo-griechisch bezeichnet, da die Benennung in der alia musica von der griechischen Nomenklatur (nach Boethius) abweicht.

Über die Tonbuchstaben des mittelalterlichen Tonsystems bzw. des systema teleion und diese Modi war es Theoretikern früher möglich, Gesänge zu notieren.

Vorzeichnungen

Transpositionen

Im 16. Jahrhundert wurden zur Notation von Musik üblicherweise nur zwei Skalen verwendet: die Skala durus (cantus durus) mit dem Ton b durus (unserem heutigen h) und die Skala mollis (cantus mollis) mit dem Ton b mollis (unserem heutigen b).

Name
cantus durus c d e f g a h
cantus mollis c d e f g a b

Für die oben genannten acht Modi heißt das: Jeder Modus konnte entweder ohne Vorzeichen (im sog. untransponierten System) oder mit einem b (im sog. transponierten System) notiert werden. Praetorius beschreibt das in seinem Syntagma musicum für den dorischen Modus wie folgt (ein Kommentar lässt sich durch das Ziehen des Sliders einblenden):

Wäre alles im Hinblick auf die Tonarten des 16. Jahrhundert logisch, gäbe es daher nur die folgenden Tonarten mit der entsprechenden Vorzeichnung:

 

Dorisch

Dorisch

Phrygisch

Phrygisch

Lydisch

Lydisch

Mixolydisch**

Mixolydisch

Vorzeichnung

Finalis

d

g

e

a

f

b

g

c

Doch leider sind Musik und Musiktheorie nur selten logisch. Denn wahrscheinlich hat in das Dorische und Lydisch über Gesangsregeln der Solmisation das b Eingang in die Generalvorzeichnung gefunden. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, einen dorischen Modus wie ein modernes d-Moll (also mit b-Vorzeichnung) und den lydischen Modus wie ein modernes F-Dur zu notieren (vgl. hierzu die Beispiele in: Alte Tonarten (Modi) – Eine praktische Hilfe). In Bezug auf die Modi Dorisch und Lydisch müssen die folgenden Fälle berücksichtigt werden:

 

Dorisch

Dorisch

Lydisch

Lydisch

Vorzeichnung

Finalis

d

d

f

f

An diesem Punkt dürfte verständlich geworden sein, warum in vielen Fällen die praktische Hilfe zur Bestimmung eines Modus hilfreich ist. Eine Methode, die Sie natürlich nicht mehr benötigen, wenn Sie eine Komposition eingehender analysieren und weitere Aspekte wie Melodiemodelle und Stimmenumfänge, Schlüsselungen sowie Kadenzdispositionen berücksichtigen können.

Melodie

Melodiemodelle

Bei Theoretikern finden sich zudem Memorierformeln, die zur Identifikation eines Modus dienten. Insbesondere die charakteristischen Wendungen dieser Memorierformeln können eine gute Hilfe bei der Bestimmung eines Modus sein. Die folgende Tabelle zeigt die Memorierformeln, wie sie sich in dem Traktat De musica cum tonario (Cap. 11) von Johannes Affligemensis finden:

--:-- / --:--

Darüber hinaus geht man heute davon aus, dass Komponisten die einzelnen Stimmen bereits so erfunden haben, dass diese in ihrem Verlauf über die Tonart Auskunft geben. Verantwortlich dafür sind die charakteristischen Töne eines Modus, die sogenannten Quint-Quart-Spezies für die authentischen (D-a-d, E-a-e, F-c-f und G-d-g) bzw. Quart-Quint-Spezies für die plagalen (A-d-a, H-e-h, C-f-c und D-g-d) Modi. Die folgende Abbildung stammt aus dem 3. Teil des Syntagma Musicum von Michael Praetorius. Beim Berühren der Abbildung werden Charakteristika der einstimmigen Melodieverläufe (rechts) zu den Modi (links) veranschaulicht.

Schlüssel

Schlüsselungen (Chiavetten)

Das folgende Beispiel zeigt konventionelle Schlüsselungen um 1600. Ziel der verschiedenen Schlüsselungen war es früher, dass Hilfslinien beim Notieren der einzelnen Stimmen vermieden werden konnten. Heute können wird dagegen die Schlüsselungen als Indiz für einen bestimmten Modus verwenden:

Tonart

Chiavetten

Alternativen

Modi 1s, 3, 4 und 8

 

Modi 2 und 6

 

Modus 1

Modus 5

 

Modus 7

Modus 2s

 

Kadenzen

Legende: s = selten

Kadenzdispositionen

Entscheidend zur Bestimmung eines Modus ist auch, auf welchen Tönen der Komponist im Verlauf eines Stückes die Kadenzen positioniert hat. Diese sogenannte Kadenzdisposition ist in vielen Fällen verlässlicher als der Anfang- und Schlussklang eines Werkes. Bernhard Meier (1994, S. 181) gibt für die acht Modi die folgenden Kadenzorte an:

Tonart Kadenzen 1. Ranges Kadenzen 2. Ranges Kadenzen 3. Ranges
1. Modus d, d' a f
2. Modus d A und f a
3. Modus e, e' a, selten c g
4. Modus e a g und c
5. Modus f, f' c' a
6. Modus f c und a c'
7. Modus g, g' d' c'
8. Modus g c' und d d'

Singen

Singen

Solmisation und Toncharakter

In der Praxis waren zum Bewältigen des liturgischen Repertoires die Solmisationssilben verbreitet, die Guido von Arezzo erfunden haben soll und die anzeigen, in welchem Umfeld ein Ton erklingt. Ein e hat im cantus durus einen Charakter, der durch einen Halbton darüber und einen Ganzton darunter bestimmt ist. Den gleichen mi-Charakter hat ein a im cantus mollis.

Die Solmisationssilben sind Teil des Johannes-Hymnus, den Kinder früher so lange üben mussten, bis sie sich beim Singen der ersten Silbe einer Zeile die ganze Zeile und das Tonumfeld (also den ganzen Hymnus) innerlich vorstellen konnten. Die Solmisationsilben dienten also der innerlichen Hörvorstellung und sinnlichen Erschließung des Tonsystems. Die Silben ermöglichten sogar das Singen unbekannter Choräle über Handzeichen (mithilfe der sogenannten ›Guidonischen Hand‹):

Die Töne des Tonsystems, die über die Solmisationssilben erlernt wurden, standen allerdings nur in einer losen Beziehung zu den Modi bzw. Tonarten. Heute sind wir es hingegen gewohnt, ein Tonsystem, das durch Tonleitern repräsentiert wird, mit Tonarten zu identifizieren. Die Tonleiter c-d-e-f-g-a-h-c beispielsweise interpretieren wir mit der Tonart C-Dur und empfinden den ersten Ton bzw. das c wie selbstverständlich als Grundton dieser Tonart. Die Schwierigkeit beim Verständnis alter Tonarten liegt heute darin, dass die Töne des Tonsystems relativ unabhängig von den Tonarten waren. Über die Anweisungen, Leittöne in Kadenzen zu ergänzen und einen einzelnen Ton über la als fa (also z.B. die Wechselnoten a-h-a, d-e-d immer als a-b-a bzw. d-es-d) zu singen, müssen wir uns einen Modus relativ unabhängig von bestimmten Tönen vorstellen, die aus heutiger Sicht nicht zum Modus gehören. Die folgenden beiden Beispiele zeigen Anweisungen zu den beiden genannten Regeln der Solmisation:

Das folgende Beispiel zeigt, wie eine charakteristische Melodiewendung aufgrund der una nota super la-Regel gesungen wurde, auch wenn als Generalvorzeichnung kein b vorgezeichnet worden ist. Beim Berühren der Abbildung sehen Sie, wie diese Wendung wahrscheinlich gesungen worden ist sowie die Skala, die in Verbindung mit der Gesangsregel zu der Änderung geführt hat:

Probleme

Probleme der Modusbestimmung

Wenn Vorzeichnung, Schlüsselung, Schlussklang und Kadenzdisposition zu einem plausiblen Ergebnis führen, ist eine Modusbestimmung unproblematisch. Oftmals allerdings führt eine Untersuchung der einzelnen Parameter zu sich widersprechenden Ergebnissen.

Zum Beispiel komponiert Adrian Willaert in seinem Pater noster viele Kadenzen auf f und g, was keinem in der Theorie erörterten Schema entspricht, sich jedoch damit erklären lässt, dass alle Zeilen der Pater-noster-Choralmelodie auf diesen beiden Tönen enden.

Darüber hinaus ist − wie oben erwähnt − die melodische Führung der Einzelstimmen bedeutsam. Jochen Brieger schreibt in seinem Artikel Alternative Methoden der Modusbestimmung:

Für eine Zeit, in der die Existenz einer Partitur eher eine Ausnahme als die Regel darstellte und jeder geschulte Sänger mit dem gregorianischen Repertoire und seinen typischen Wendungen vertraut war, erscheint mir die Modusbetrachtung anhand der Melodik eine angemessene Methode zu sein [...] Den Modus gibt es aus meiner Sicht nicht, sondern eine Komposition definiert sich über einzelne, modal unterschiedlich geprägte Abschnitte.

Jochen Brieger, »Alternative Methoden der Modusbestimmung«, in: ZGMTH 3/1 (2006), S. 15–26.

Literatur:

  • Edmond de Coussemaker, Scriptorum de musica medii aevi nova series, Tomus I–IV, Paris 1864–1876.
  • David Hiley, Stichwort Modus, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Bd. 6 (Sachteil), Kassel 1997.
  • Bernhard Meier, Alte Tonarten dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts, Kassel 1992, zitiert nach der 2. Aufl. 1994.
  • Michael Praetorius, Syntagma musicum, Bd. III, Wolfenbüttel 1619.