Formenlehre: Einheit 10 – Wiener Klassik: Sonate als Formtyp und mehrsätziger Zyklus

Sonate als Zyklus, Sonatensatzform und deren Dramaturgie, Konzertsatz – PDF


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Sonate als mehrsätziger Zyklus

Kerngattung der Instrumentalmusik des 18. und 19. Jahrhunderts

Sätze und gängige Formtypen

Beispiele für Tempobezeichnungen

I – Kopfsatz: Sonatensatzform

Allegro, Allegro moderato, Allegro vivace, Allegro con brio etc.

II – Langsamer Satz: Adagio-Form, Thema und Variationen

Largo, Adagio, Lento, Andante, Andante con moto etc.

III – Tänzerischer Satz: Menuett oder Scherzo (mit Trio)

Allegretto, Moderato, Allegro, Allegro vivace etc.

IV – Finale: Sonatensatzform, Rondo

Allegro, Vivace, Presto, Prestissimo etc.

Besetzungen

Satzzahl

   

Sonderformen und abweichende Satzfolgen

Klaviersonate

3–4, evtl. 2

(a) Der erste Satz kann ein langsamer Variationensatz sein (zB bei Mozart)
(b) Der zweite und dritte Satz können vertauscht werden (zB bei Beethoven)
(c) Der langsame Satz kann entfallen oder durch einen weiteren tänzerischen Satz ersetzt werden
(d) Zweisätzige Sonaten: zB langsamer Satz und Rondo, Sonatensatzform und Variationensatz

Klaviertrio, Streichquartett

4

Symphonie

4

Solokonzert

3

Sonatine (Diminutiv der Sonate)
Geringerer kompositorischer und spieltechnischer Anspruch, kürzer (meist zweisätzig oder dreisätzig)

  • Hörbeispiel – Muzio Clementi: Sonatine für Klavier C-Dur op. 36 Nr. 3 (1797), I. Satz: Spiritoso
  • Hörbeispiel – Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate C-Dur KV 545 »Sonata facile« (1788), I. Satz: Allegro
  • Hörbeispiel – Sophie Maria Westenholz: Klaviersonate C-Dur (ca. 1783), I. Satz: Allegro

Sonatensatzform

auch: Sonatenhauptsatzform (nach Hermann Grabner), bei Hepokoski und Darcy: Type 3 Sonata
Beherrschender Formtyp der Wiener Klassik, entspricht einer erweiterten dreiteiligen Liedform (großformales A – B – A')
Entwicklung einerseits aus der (zweiteiligen) barocken Suitensatzform, andererseits aus der (dreiteiligen) italienischen Ouvertüre

Formfunktionen der drei Hauptteile
Exposition und Reprise: fest gefügt, Orte der Setzung und Stabilität (Konturiertheit der Themen, verbindlicher Tonartenplan)
Durchführung: locker gefügt, Ort der Entwicklung und des Übergangs; typische Merkmale:

  • mögliche Untergliederung in Durchführungsbeginn, Durchführungskern und Rückleitung
  • motivisch-thematische Arbeit: Abspaltung, Zergliederung, Sequenzierung des Materials der Exposition
  • Modulation in entlegenere Tonarten; Rückleitung häufig durch Dominant-Orgelpunkt

Binnenstruktur der Exposition und Reprise
Sektionen (Hauptsatz, Seitensatz) untergliedert in Themengestalten (Hauptthema, Seitenthemen) sowie gangartige Passagen bzw. Episoden
Verbindung zwischen Haupt- und Seitensatz: modulierende Überleitung oder Mittelzäsur (MC); nach dem Seitenthema evtl. Schlussgruppe

Wiederholung als formbildendes Element
In der frühklassischen forma bipartita werden beide Teile wiederholt     ||:   Exposition   :||:   Durchführung   |   Reprise   :||
Im späten 18. Jahrhundert wird in der Regel nur die Exposition wiederholt, ab dem 19. Jahrhundert auch diese nicht mehr regelmäßig

Idealtypischer Bauplan einer klassischen Sonatensatzform (Type 3 Sonata)
Lizenz: CC0 | gemeinfrei

Prinzip der Exposition ab dem späten 18. Jahrhundert: Themendualismus (Haupt- und Seitenthema kontrastieren charakterlich und tonal)
– Abwandlung der Reprise gegenüber der Exposition: Beibehaltung der Themen, aber Verzicht auf tonalen Kontrast
– Alternative, vor allem im 18. Jahrhundert: Monothematik (ein Hauptthema fungiert in einer Kontrasttonart auch als Seitenthema)

Optionale Erweiterungsteile
(a) Langsame Einleitung: beliebt in ersten Sätzen von Symphonien, ggf. mit Wechsel des Tongeschlechts (Dur ↔ Moll)
(b) Coda: evtl. mit Bezugnahme auf die Durchführung, kann die Dreiteiligkeit zur Vierteiligkeit erweitern (A – B – A' – B')

Übersicht: Historische und moderne SonatentheorienPDF
Ende des 18. Jahrhunderts: Interpunktisches Formmodell nach Heinrich Christoph Koch (forma bipartita: tonale Stationen, Kadenzordnung)
Mitte des 19. Jahrhunderts: Themendualismus nach Adolf Bernhard Marx (forma tripartita: Hauptsatz und Seitensatz, motivische Arbeit)
Mitte des 20. Jahrhunderts: Festigung und Vereinheitlichung der Terminologie bei Arnold Schönberg und Erwin Ratz
Ende des 20. Jahrhunderts: Theorie der Formfunktionen nach William Caplin
Anfang des 21. Jahrhunderts: Sonata Theory nach James Hepokoski und Warren Darcy (thematische Zonen, trajectories, rotations)

Exp: Hauptsatz
Exp: Seitensatz
Durchführung
Rep: Hauptsatz
Rep: Seitensatz
Coda
Exp: Hauptsatz

Hauptthema (f-Moll) – Überleitung (modulierend)

Exp: Seitensatz

Seitenthema (As-Dur) – Gang bzw. Episode – Schlussgruppe (As-Dur)

Durchführung

Durchführungsbeginn (As-Dur, b-Moll, c-Moll) – Durchführungskern – Rückleitung (Orgelpunkt)

Rep: Hauptsatz

Hauptthema (f-Moll) – Überleitung

Rep: Seitensatz

Seitenthema (f-Moll) – Gang – Schlussgruppe (f-Moll)

Coda
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Ludwig van Beethoven: Klaviersonate f-Moll op. 2 Nr. 1 (1795), I. Satz: Allegro
Quellen: IMSLP | CC0 OER Musik, Public Domain

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Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (1808), I. Satz: Allegro con brio, Exposition
Quellen: IMLSP | YouTube
Formübersicht mit Wellenform: PDF

Konzertsatzform

auch: Konzertsonatenform, bei Hepokoski und Darcy: Type 5 Sonata
Gängiges Formmodell für erste Sätze klassischer Solokonzerte: modifizierte Sonatensatzform mit zwei Expositionen

Formteil

Merkmale

Tutti-Exposition   

Ritornell (Hauptthema) und nur rudimentär ausgeführtes Seitenthema, noch ohne tonalen Kontrast zum Hauptthema

Solo-Exposition

Hauptthema, Modulation, ausgearbeiteter Seitensatz; dann Wiederkehr des Tutti-Ritornells in der Kontrasttonart

Durchführung

ähnliche Techniken wie in anderen Sonatensatzformen

Reprise

mit Solokadenz (meist durch Quartsextakkord und Fermate eingeleitet) und Schlussritornell

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Wolfgang Amadeus Mozart: Flötenkonzert G-Dur KV 313 (1778), I. Satz: Allegro maestoso, Exposition
Quellen: IMSLP | YouTube

Aufgaben zur Einheit 10
  1. Lesen Sie die Artikel »Sonate« und »Sonatensatzform« aus dem Lexikon Musiklehre von Clemens Kühn (Kassel 2016, S. 251–256).
  2. Untersuchen Sie nach dem Gehör die Exposition des ersten Satzes der Klaviersonate C-Dur von Sophie Westenholz.
  3. Untersuchen und gliedern Sie den ersten Satz aus der Klaviersonate f-Moll op. 2 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven.
  4. Untersuchen und gliedern Sie die Exposition des ersten Satzes aus der Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 von Ludwig van Beethoven.
  5. Untersuchen und gliedern Sie beide Expositionen des ersten Satzes aus dem Flötenkonzert G-Dur KV 313 von Wolfgang Amadeus Mozart.