Formenlehre: Einheit 10 – Wiener Klassik: Sonate als Formtyp und mehrsätziger Zyklus
Sonate als Zyklus, Sonatensatzform und deren Dramaturgie, Konzertsatz – PDF
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Sätze und gängige Formtypen | Beispiele für Tempobezeichnungen |
---|---|
I – Kopfsatz: Sonatensatzform | Allegro, Allegro moderato, Allegro vivace, Allegro con brio etc. |
II – Langsamer Satz: Adagio-Form, Thema und Variationen | Largo, Adagio, Lento, Andante, Andante con moto etc. |
III – Tänzerischer Satz: Menuett oder Scherzo (mit Trio) | Allegretto, Moderato, Allegro, Allegro vivace etc. |
IV – Finale: Sonatensatzform, Rondo | Allegro, Vivace, Presto, Prestissimo etc. |
Besetzungen | Satzzahl |
| Sonderformen und abweichende Satzfolgen |
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Klaviersonate | 3–4, evtl. 2 | (a) Der erste Satz kann ein langsamer Variationensatz sein (zB bei Mozart) | |
Klaviertrio, Streichquartett | 4 | ||
Symphonie | 4 | ||
Solokonzert | 3 |
Sonatine (Diminutiv der Sonate)
Geringerer kompositorischer und spieltechnischer Anspruch, kürzer (meist zweisätzig oder dreisätzig)
- Hörbeispiel – Muzio Clementi: Sonatine für Klavier C-Dur op. 36 Nr. 3 (1797), I. Satz: Spiritoso
- Hörbeispiel – Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate C-Dur KV 545 »Sonata facile« (1788), I. Satz: Allegro
- Hörbeispiel – Sophie Maria Westenholz: Klaviersonate C-Dur (ca. 1783), I. Satz: Allegro
Sonatensatzform
auch: Sonatenhauptsatzform (nach Hermann Grabner), bei Hepokoski und Darcy: Type 3 Sonata
Beherrschender Formtyp der Wiener Klassik, entspricht einer erweiterten dreiteiligen Liedform (großformales A – B – A')
Entwicklung einerseits aus der (zweiteiligen) barocken Suitensatzform, andererseits aus der (dreiteiligen) italienischen Ouvertüre
Formfunktionen der drei Hauptteile
Exposition und Reprise: fest gefügt, Orte der Setzung und Stabilität (Konturiertheit der Themen, verbindlicher Tonartenplan)
Durchführung: locker gefügt, Ort der Entwicklung und des Übergangs; typische Merkmale:
- mögliche Untergliederung in Durchführungsbeginn, Durchführungskern und Rückleitung
- motivisch-thematische Arbeit: Abspaltung, Zergliederung, Sequenzierung des Materials der Exposition
- Modulation in entlegenere Tonarten; Rückleitung häufig durch Dominant-Orgelpunkt
Binnenstruktur der Exposition und Reprise
Sektionen (Hauptsatz, Seitensatz) untergliedert in Themengestalten (Hauptthema, Seitenthemen) sowie gangartige Passagen bzw. Episoden
Verbindung zwischen Haupt- und Seitensatz: modulierende Überleitung oder Mittelzäsur (MC); nach dem Seitenthema evtl. Schlussgruppe
Wiederholung als formbildendes Element
In der frühklassischen forma bipartita werden beide Teile wiederholt ||: Exposition :||: Durchführung | Reprise :||
Im späten 18. Jahrhundert wird in der Regel nur die Exposition wiederholt, ab dem 19. Jahrhundert auch diese nicht mehr regelmäßig
Idealtypischer Bauplan einer klassischen Sonatensatzform (Type 3 Sonata)
Lizenz: CC0 | gemeinfrei
Prinzip der Exposition ab dem späten 18. Jahrhundert: Themendualismus (Haupt- und Seitenthema kontrastieren charakterlich und tonal)
– Abwandlung der Reprise gegenüber der Exposition: Beibehaltung der Themen, aber Verzicht auf tonalen Kontrast
– Alternative, vor allem im 18. Jahrhundert: Monothematik (ein Hauptthema fungiert in einer Kontrasttonart auch als Seitenthema)
Optionale Erweiterungsteile
(a) Langsame Einleitung: beliebt in ersten Sätzen von Symphonien, ggf. mit Wechsel des Tongeschlechts (Dur ↔ Moll)
(b) Coda: evtl. mit Bezugnahme auf die Durchführung, kann die Dreiteiligkeit zur Vierteiligkeit erweitern (A – B – A' – B')
Übersicht: Historische und moderne Sonatentheorien – PDF
Ende des 18. Jahrhunderts: Interpunktisches Formmodell nach Heinrich Christoph Koch (forma bipartita: tonale Stationen, Kadenzordnung)
Mitte des 19. Jahrhunderts: Themendualismus nach Adolf Bernhard Marx (forma tripartita: Hauptsatz und Seitensatz, motivische Arbeit)
Mitte des 20. Jahrhunderts: Festigung und Vereinheitlichung der Terminologie bei Arnold Schönberg und Erwin Ratz
Ende des 20. Jahrhunderts: Theorie der Formfunktionen nach William Caplin
Anfang des 21. Jahrhunderts: Sonata Theory nach James Hepokoski und Warren Darcy (thematische Zonen, trajectories, rotations)
- Beethoven op. 2 Nr. 1
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Hauptthema (f-Moll) – Überleitung (modulierend)
Seitenthema (As-Dur) – Gang bzw. Episode – Schlussgruppe (As-Dur)
Durchführungsbeginn (As-Dur, b-Moll, c-Moll) – Durchführungskern – Rückleitung (Orgelpunkt)
Hauptthema (f-Moll) – Überleitung
Seitenthema (f-Moll) – Gang – Schlussgruppe (f-Moll)
Ludwig van Beethoven: Klaviersonate f-Moll op. 2 Nr. 1 (1795), I. Satz: Allegro
Quellen: IMSLP | CC0 OER Musik, Public Domain
- Beethoven op. 67
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Formteil | Merkmale |
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Tutti-Exposition | Ritornell (Hauptthema) und nur rudimentär ausgeführtes Seitenthema, noch ohne tonalen Kontrast zum Hauptthema |
Solo-Exposition | Hauptthema, Modulation, ausgearbeiteter Seitensatz; dann Wiederkehr des Tutti-Ritornells in der Kontrasttonart |
Durchführung | ähnliche Techniken wie in anderen Sonatensatzformen |
Reprise | mit Solokadenz (meist durch Quartsextakkord und Fermate eingeleitet) und Schlussritornell |
- Lesen Sie die Artikel »Sonate« und »Sonatensatzform« aus dem Lexikon Musiklehre von Clemens Kühn (Kassel 2016, S. 251–256).
- Untersuchen Sie nach dem Gehör die Exposition des ersten Satzes der Klaviersonate C-Dur von Sophie Westenholz.
- Untersuchen und gliedern Sie den ersten Satz aus der Klaviersonate f-Moll op. 2 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven.
- Untersuchen und gliedern Sie die Exposition des ersten Satzes aus der Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 von Ludwig van Beethoven.
- Untersuchen und gliedern Sie beide Expositionen des ersten Satzes aus dem Flötenkonzert G-Dur KV 313 von Wolfgang Amadeus Mozart.