Formenlehre: Einheit 7 – Barock: Polyphone Gattungen, kontrapunktische Satztechniken
Ricercar, Fuge, Invention; Imitation, Themengestalten, mehrfacher Kontrapunkt – PDF
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Polyphone Instrumentalgattungen
Kontrapunkt = Lehre vom mehrstimmigen Satz zweier oder mehrerer Stimmen (punctus contra punctum)
Polyphonie = Hierarchiefreie Eigenständigkeit gleichzeitig erklingender Stimmen, oft imitatorisch, rhythmische Vielfalt
- Hörbeispiel – Giovanni Gabrieli: Sacrae symphoniae (1597), Canzon septimi toni für acht Stimmen
- Hörbeispiel – Johann Jakob Froberger: Libro quarto für Cembalo (1656), Ricercar VII
Gattung | Merkmale |
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Ricercar, Canzone, auch: Fantasia | Frühbarocke Vorgängergattungen der Fuge |
Fuge (bzw. Fughetta) | Maßgebliche Gattung, Form und Satztechnik des Barock: |
Invention | Zwei- oder dreistimmiger polyphoner Satz für ein Tasteninstrument |
Choralvorspiel und Choralvariation | Polyphoner, oft improvisatorischer Orgelsatz über eine Choralmelodie |
Präludium und Fuge | (a) als bipolarer Zyklus (nach Arnfried Edler): |
(b) als ›omnitonaler‹ Zyklus, alle Tonarten durchlaufend: |
Einsatzschemata der Satzprinzipien Kanon und Fuge
Lizenz: CC0 | gemeinfrei
- Girolamo Frescobaldi
Seite 1
- Johann Caspar Fischer
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Kontrapunktische Satztechniken
Imitation (lat. fuga)
Oberbegriff für Konstruktionen aus zwei oder mehr Stimmen, die zeitversetzt mit dem gleichen Thema oder soggetto einsetzen
Parameter der Imitation: (a) Einsatzabstand: Angabe in Notenwerten oder Takten, (b) Einsatzintervall: häufig 4↑↓, 5↑↓, 8↑↓
(1) Kanon = Thema in Kombination mit sich selbst, oft enger zeitlicher Abstand (Engführung); alle Einsatzintervalle möglich
(2) Doppelkanon = zwei Themen werden paarweise imitiert (bzw. es laufen zwei zweistimmige Kanons gleichzeitig ab)
(3) Fugendurchführung = Thema erklingt vollständig, bevor es imitiert wird (5↑↓), dann von einem Kontrapunkt begleitet
(4) Fugato = fugenartig gestaltete Passage eines längeren Satzes oder Werkes, häufig in einem Mittelteil oder Schlussteil
(5) Engführung bzw. stretto = kanonartige Passage mit verdichteter Einsatzfolge, etwa als Steigerung am Schluss einer Fuge
Satztechnik in Fugen
Stets zwei Themengestalten im Quintabstand: Dux (auch: proposta) in der Grundtonart, Comes (auch: riposta) in der Oberquinttonart
Reale Beantwortung = Comes entspricht einer exakten Transposition des Dux; nach dem Comes ist eine Rückmodulation notwendig
Tonale Beantwortung = Anpassung / modale Einrichtung des Comes gegenüber dem Dux nach ›Themenkopfregel‹ (Marpurg)
Kontrapunkt = Gegenstimme zum Fugenthema, die als Fortsetzung des Themas in Kombination mit demselben erscheint
Kontrasubjekt bzw. beibehaltener Kontrapunkt = Gegenstimme, die stets in Kombination mit dem Fugenthema auftritt
Durchführung = tonal stabile Passage, während der ein Fugenthema durch die Stimmen läuft (erste Durchführung = Fugenexposition)
Zwischenspiel = themenfreie Passage zwischen zwei Durchführungen, häufig von Abspaltung und Sequenzierung bestimmt
Binnenzwischenspiel = kurze rückmodulierende Passage zwischen Comes und dem dritten Themeneinsatz einer Durchführung
Doppelfuge, Tripelfuge etc. = Fuge mit mehreren Themen, die zunächst separat durchgeführt und dann kombiniert werden
Fugenform: Idealtypischer Bauplan einer spätbarocken Fuge | ||||||
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Exposition (Df 1) | Zwischenspiel 1 | Durchführung 2 | Zwischenspiel 2 | Durchführung 3 | Zwischenspiel 3 | Durchführung 4 |
I / i | (modulierend) | V / III | (modulierend) | vi / iv | (modulierend) | I / i |
Abgeleitete Themengestalten
In der Barockzeit nur gelegentlich vertreten; verstärkter Einsatz als Reihentechniken in dodekaphonen Werken des 20. Jahrhunderts
- Hörbeispiel – Paul Hindemith: Ludus tonalis (1942), Fuga tertia in F (Spiegelfuge mit Umkehrungen und Krebsgestalten)
Prinzip | Merkmale | Beispiel |
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(a) Augmentation | Vergrößerung (beispielsweise Verdopplung) der Notenwerte | zB: Halbe → Ganze | Viertel → Halbe |
(b) Diminution | Verkleinerung (beispielsweise Halbierung) der Notenwerte | zB: Halbe → Viertel | Viertel → Achtel |
(c) Umkehrung | vertikale Inversion (Fortschreitungsintervalle werden gespiegelt) | c d f e d c → c H G A H c |
(d) Krebs | horizontale Inversion (Rückläufigkeit: Reihenfolge der Töne wird umgekehrt | c d f e d c → c d e f d c |
Johann Sebastian Bach: Das wohltemperierte Clavier, Band I (1722)
Exposition der Fuge g-Moll BWV 861 mit Analyse
g-Moll
(modulierend)
B-Dur
(modulierend)
c-Moll
(modulierend)
g-Moll
Satzprinzip | Merkmale | Kombinationen im 3fachen Kp | ||||||
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Doppelter Kontrapunkt | Oberstimme und Unterstimme eines Stimmpaars vertauschbar (2 Kombinationen) | Ost | Ost | Mst | Mst | Ust | Ust | |
Dreifacher Kontrapunkt | alle Stimmen eines dreistimmigen Satzes vertauschbar (6 Kombinationen) | Mst | Ust | Ost | Ust | Ost | Mst | |
Ust | Mst | Ust | Ost | Mst | Ost |
Intervalltabelle für den doppelten Kontrapunkt der Oktave | Intervalltabelle für den doppelten Kontrapunkt der Duodezime | |||||||||||||||||||
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1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | |
8 | 7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1 | 12 | 11 | 10 | 9 | 8 | 7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1 |
- Machen Sie sich stilistische und satztechnische Unterschiede zwischen Canzone und Ricercar und der spätbarocken Fuge bewusst.
Hören Sie die Beispiele. - Untersuchen Sie den Beginn des Ricercar terzo von Girolamo Frescobaldi im Hinblick auf seine Imitationsstruktur.
- Untersuchen Sie die Fuge Nr. 13 G-Dur aus Ariadne musica von Johann Caspar Ferdinand Fischer im Hinblick auf ihre Imitationsstruktur.
- Untersuchen und gliedern Sie die Fuge g-Moll (WTC I) von Johann Sebastian Bach. Es gibt vier Fugendurchführungen.
- Identifizieren Sie Augmentationen und Umkehrungen des Themas in der Fuge c-Moll (WTC II) von Johann Sebastian Bach.
- Lokalisieren Sie Stimmenkombinationen im dreifachen Kontrapunkt der Oktave in der Sinfonia f-Moll von Johann Sebastian Bach.