Formenlehre: Einheit 4 – Barock: Ostinato-Formen, Variationsdenken, Satzmodelle

Ostinati, Bassmodelle, mehrstimmige Satzmodelle; Musikästhetik: Klangrede, rhetorische Form – PDF


Zur Startseite | Zurück zu Einheit 3 – Renaissance | Weiter zu Einheit 5 – Barock

Ostinato-Formen

Chaconne (auch: Ciaccona, Chacona)

Passacaglia (auch: Passacaille, Pasacalle)

Wahrscheinlich lateinamerikanischen Ursprungs
Variationen über ein vier- oder achttaktiges Bassmodell
Meist im Dreiertakt, Dur oder Moll, eher bewegtes Tempo

Ursprung: spanischer Volkstanz (pasar la calle), englisch auch: ground
Achttaktiges Thema, meist im Bass, evtl. auch in den Oberstimmen
Dreier- oder Vierertakt, häufig in Moll, langsameres Tempo

Bassmodelle

  • Hörbeispiel – Englisches Volkslied: Greensleeves – Passamezzo antico
  • Hörbeispiel – Luis de Narváez: Libro No. 6 para tañer Vihuela (1538), Diferencias sobre Guardame las vacas – Romanesca
  • Hörbeispiel – Georg Friedrich Händel: Suites de pièces (1733), Chaconne in G HWV 435 – Ruggiero
  • Hörbeispiel – Johann Sebastian Bach: Aria mit 30 Veränderungen »Goldberg-Variationen« BWV 988 (1741) – Ruggiero

Modell

Charakteristische Stufenfolge

La Folia (portugiesischen Ursprungs)

i – V – i – VII – III – VII – i – V

Romanesca (italienisch oder spanisch)

I – V – vi – III / iii

Passamezzo antico (italienisch)

i – VII – i – V

Passamezzo moderno (italienisch)

I – IV – I – V

Ruggiero (italienisch) und Varianten

I – V6 – #iv°6 – V – I6 – IV – V – I

Gängige Bassmodelle in vierstimmiger Harmonisierung
Lizenz: CC0 | gemeinfrei

Mehrstimmige Satzmodelle

  • Hörbeispiel – Claudio Monteverdi: Achtes Madrigalbuch (1638), Nr. 18: Lamento della ninfa – diatonischer Lamentobass
  • Hörbeispiel – Henry Purcell: Dido and Aeneas (1689), Lamento der Dido »When I am laid« – chromatischer Lamentobass
  • Hörbeispiel – Johann Pachelbel: Kanon und Gigue in D (1694) – Dur-Moll-Parallelismus

I. Skalenmodelle

Charakteristische Stufenfolge

Beschreibung

Oktavregel (Regola dell'ottava)

I – V6 – #iv°6 – V – V2 – I6 – vii°6 – I

Harmonisierung einer diatonischen Skala (↓↑)

Linearer Parallelismus

I – V6 – vi – iii6 – IV – I6

Grundstellungen und Sextakkorde im Wechsel (↓↑)

Diatonischer Lamentobass

i – v6 – iv6 – V

Harmonisierung eines phrygischen Tetrachords (↓)

Chromatischer Lamentobass

i – V6 – v6 – IV6 – iv6 – V

Harmonisierung eines passus duriusculus (↓)

II. Fundamentschrittmodelle

Charakteristische Stufenfolge

Beschreibung

Dur-Moll-Parallelismus (nach Dahlhaus)

I – V | vi – iii | IV – I

Quintanstieg, terzweise sequenziert (↓↑)

Quintfallsequenz (Fonte)

I – IV | vii° – iii | vi – ii | V – I

Quintfall, sekundweise abwärts sequenziert

Quintanstiegssequenz

I – V | ii – vi | iii

Quintanstieg, sekundweise aufwärts sequenziert

Monte-Sequenz (nach Riepel)

V – I | vi – ii | vii° – iii | I – IV

Quintfall, sekundweise aufwärts sequenziert

Fallende Quintanstiege

i – v | VII – iv | VI – III

Quintanstieg, sekundweise abwärts sequenziert

--:-- / --:--

Jean-Baptiste Lully: Air des hautbois sur les Folies d'Espagne (1672)
Quellen: IMSLP | YouTube

--:-- / --:--

Henry Purcell: King Arthur (1691), Chacony in F
Quellen: IMSLP | YouTube

--:-- / --:--

Barbara Strozzi: Arie op. 8 (1664), Nr. 6: Che si può fare
Quellen: IMSLP | YouTube

Musikästhetik des Barock

Neue Entwicklungen im frühen 17. Jahrhundert
Verhältnis der Stimmen: nicht mehr nur polyphone Gleichberechtigung; neu entstehendes Prinzip der Monodie: Solostimme + Begleitung
Variationsdenken: Erklungenes kann stetig weiterentwickelt werden, Wiederholung zulässig, Abkehr vom varietas-Gebot der Renaissance
Generalbass: Harmonisches Denken vom Bass her, akkordischer Satz als Grundlage der Komposition und Aufführungspraxis
Themenbau: melodisch-rhythmische Konturiertheit statt soggetto-Prinzip, Entwicklung aus einem motorischen Impuls
Akzentstufentakt: Taktstriche implizieren nun eine metrische Hierarchie bzw. ein Betonungsgefüge (Eins ist schwerste Zeit)

Musik als Klangrede
Verzierungstechnik: Variantenbildung durch Diminution und Ornamentierung (in der Regel rein performativ, nicht notiert)
Affektenlehre: Gestaltung der Musik analog zu Emotionen und Gemütsbewegungen (zB: Tonmalerei, Tonartensemantik)
Figurenlehre: Bezeichnung von expressiven Wendungen analog zu Figuren der Redekunst (Burmeister, Kircher, Bernhard etc.)
– Beispiele: anabasis, katabasis, circulatio, exclamatio, interrogatio, heterolepsis, noema, suspiratio, abruptio, aposiopesis

Formteil

Rhetorische Disposition (nach Mattheson)

Mögliche musikalische Entsprechungen bzw. Formfunktionen

(1) exordium

Einleitung, Zweck und Absicht der Rede

Vorstellung des Themas bzw. Hauptgedankens

(2) narratio

Erzählung oder Bericht

Fortführung und Ausarbeitung des Themas

(3) propositio

Eigentlicher Vortrag, Kern des Anliegens

Spannungsaufbau, Steigerung, Zuspitzung

(4) confirmatio

Bekräftigung der Aussage

Spannungsabfall, vorläufige Kadenzierung

(5) confutatio

Auflösung oder Widerlegung

Verzögerung des Schlusses (Trugschluss, motivo di cadenza)

(6) peroratio

Schlussteil (auch: conclusio)

Auflösung, Epilog, Schlusskadenz

Aufgaben zur Einheit 4
  1. Machen Sie sich mit den verschiedenen Bassmodellen und mehrstimmigen Satzmodellen vertraut und vergegenwärtigen Sie sich ggf.
    deren Sequenzcharakter. Hören Sie die Beispiele.
  2. Untersuchen und gliedern Sie die Komposition Air des hautbois sur les Folies d'Espagne von Jean-Baptiste Lully
    und identifizieren Sie das vorliegende Bassmodell.
  3. Untersuchen Sie die Chacony in F aus Henry Purcells Semi-Opera King Arthur und identifizieren Sie das vorliegende Bassmodell.
  4. Untersuchen Sie die Arie Che si può fare von Barbara Strozzi und beobachten Sie das Verhältnis zwischen ostinatem Bass und Singstimme.