Improvisiern lernen
Improvisieren könnte man auch als „musikalisches Sprechen“ bezeichnen: es geht um die Fähigkeit, musikalisch Sätze bilden, Geschichten erfinden und sich spontan ausdrücken zu können. Dies ist für jeden Musiker eine gewinnbringende Erfahrung und für manche Berufe sogar eine zentrale Fähigkeit. Denn Improvisieren kann man lernen - man muss es nur machen und üben (so wie alles andere in der Musik auch).
Da die Improvisation ein sehr weit gefasster Begriff ist, kann es jedoch manchmal schwierig sein, einen geeigneten Ausgangspunkt zum Arbeiten zu finden. Beim Üben einer fertigen Komposition ist die Aufgabe verhältnismäßig klar: Stück heraussuchen, Noten lernen, sich über das Werk informieren, Feilen am musikalischen Ausdruck der eigenen Interpretation. Wo aber beginnen beim Improvisieren üben?
Hier kann es hilfreich sein, sich konkrete Vorgaben zu machen und diese als Ausgangspunkte zu nutzen. Auf diese kann man sich Stück für Stück verschiedene Bereiche der Improvisation erarbeiten, ohne sich zu sehr zwischen endlosen Möglichkeiten und Ideen zu verlieren. Um einen besseren Überblick zu erhalten und konkrete Übungen entwickeln zu können, sind in folgender Übersicht acht Ausgangspunkte (eigentlich Ausgangsfelder) dargestellt. In diesen Feldern sind verschiedenste Improvisations-Ideen zusammengefasst, in der Hoffnung, so möglichst gut das breite Feld improvisatorischer Möglichkeiten abzudecken.
Inhalt
Ausgangsfelder für die Improvisation
Die Grafik zeigt die erwähnten Ausgangsfelder, ungefähr geordnet von Improvisationsansätzen mit wenigen, offenen Vorgaben („sehr frei“, blauere Farbe, linke Seite der Grafik) zu Improvisationsansätzen mit vielen, deutlichen Vorgaben („sehr gebunden“, gelbere Farbe, rechte Seite der Grafik).
Jedes dieser Ausgangsfelder soll im Folgenden kurz besprochen und mit einer einfach zugänglichen Übung vorgestellt werden. Falls vorhanden, sind oma-Artikel verlinkt welche sich genauer mit dem entsprechenden Improvisationsansatz beschäftigen.
Festgelegte musikalische Parameter
Als Ausgang der Improvisation dient der Fokus auf einen festgelegten musikalischen Parameter, wie etwa
- Dichte
- Dynamik
- Artikulation
- Lage
- Klangfarbe
- Intervall
- etc.
Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass er eine klare Leitlinie bildet (das Hauptmittel zur Gestaltung einer Improvisation ist dieser oder jener Parameter), aber sonst keinerlei Einschränkungen vorgibt, auf die man sich konzentrieren müsste. Zudem wird der Fokus von dem Parameter „Tonalität“ weggelenkt, der in beim Improvisieren schnell die anderen, ebenfalls für das Musikalische Spiel sehr wichtigen Aspekte verdrängt.
Lenkt die dadurch eher freiere Tonalität durch den eventuell ungewohnten Klang von der Aufgabe ab, kann dieser Ansatz auch sehr gut zB mit Elementen der Modalen Improvisation kombiniert werden.
Außermusikalische Impulse
Weiterführende Artikel: Frei improvisieren mit dem eigenen Instrument
Als Ausgangspunkt der Improvisation dient die Umsetzung eines außermusikalischen Impulses. Dies kann alles Mögliche sein, wie etwa eine Stimmung (fröhlich, traurig), ein aktives Verb (jemanden zum Narren machen, etwas anhimmeln), eine Situation (Waldspaziergang), ein Gegenstand (Baum) usw.
Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass die Vorgabe sehr abstrakt und damit maximal weit weg von einengenden Urteilen wie „falsch“ und „richtig“ ist, deren Abwesenheit die Qualität des Spiels deutlich erhöhen kann. Dafür kann diese Freiheit auch herausfordernd sein, in welchem Fall beispielsweise zB eine einfache Melodie hinzugenommen werden kann („spiele die Melodie von Ich geh‘ mit meiner Laterne in einem fröhliche, traurigen, jemand anhimmelnden, waldspaziergangesken usw. Kontext“) und Elemente der melodischen / rhythmischen Improvisation genutzt werden können.
Melodische / rhythmische Improvisation
Weiterführende Artikel: Improvisieren lernen Schritt für Schritt
Eine kurze Melodiezeile oder ein Rhythmus können ebenfalls Ausgangspunkte für eine Improvisation sein. Diese kann sich dabei in unterschiedliche Richtungen entfalten; aus der Melodie kann eine Modalität und aus dem Rhythmus eine Taktart herausgelesen werden, welche als Improvisationsgrundlage dienen; durch Variation können die Melodie / der Rhythmus fortgesponnen werden; angelehnt an eine kleine A-B - Form kann das Ausgangsmaterial gezielt durch eine andere Melodie / Rhythmus kontrastiert werden, und so weiter. Der Artikel Ausgangspunkte für die Improvisation: Melodik beschäftigt sich genauer mit dem Improvisieren kirchentonaler Melodien und bietet einige schöne Übungen zu dem Thema.
Tonreihenimprovisation
Bei der Reihenimprovisation wird eine Tonreihe als Ausgangspunkt einer Improvisation gewählt. Diese Reihe kann auf vielerlei Weise in die Improvisation eingebaut werden: so kann sie kann rhythmsisiert, harmonisiert und als Thema verwendet werden; einzelne Motive aus der Reihe können extrahiert werden; die Intervallstrukturen der Reihe können als Grundlage einer Improvisation dienen; usw.
Modale Improvisation
Weiterführende Artikel: "Ausgangspunkte für die Improvisation: Melodie"
Innerhalb des Feldes der Modalen Improvisation gibt es viele verschiedene Ansatzpunkte, welche selbst unterschiedlich „frei“ oder „gebunden“ sind. Die Möglichkeiten reichen vom bloßen Festlegen eines Tonmaterials („Spiele nur in D-Mixolydisch“) über die Kombination mit bestimmten thematischen Vorgaben (siehe Prüfungsaufgaben modale Improvisation) bis hin zu den komplexen Anwendungscodes, die modal reich entwickelte Musikkulturen wie etwa die indische, arabische oder persische ihren Maqām, Dastgāh oder Raga zuschreiben.
Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass das tonale Material begrenzt ist und es somit nicht zu beliebigen Tonkombinationen kommt. Außerdem sind die Möglichkeiten der Modulation begrenzt, was die Kreativität im Umgang mit einem begrenzten Material und das Ausloten dessen Möglichkeiten fördert.
Techniken der Modalen Improvisation, insbesondere in seiner Auffassung als bloße Festlegung des Tonmaterials, lässt sich sehr gut mit verschiedenen freieren, aber auch stilgebundenen Improvisationen (Soli über Akkorde, etc.) kombinieren.
Ostinatoimprovisation
Als Ausgangspunkt der Improvisation dient ein Ostinatomodell, welches von einem Instrument / einer Hand am Klavier / einer vorher eingespielten Aufnahme gespielt wird. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass beim mehrstimmigen Zusammenspiel eine Stimme durch das Ostinato klar definiert ist; dies erlaubt der anderen Stimme Freiheiten im Spiel mit dem Wissen, was von der ostinaten Stimme melodisch und rhythmisch zu erwarten ist.
Die Ostinatoimprovisation lässt sich sehr gut mit anderen Ansätzen kombinieren, etwa in dem aus dem Ostinato eine Modalität herausgehört wird, oder stiltypische Ostinati in eine bestimmte stilgebundene Improvisationsrichtung führen.
Solieren über eine Akkordfolge
Zum Solieren über eine feste Akkordfolge gibt es verschiedene Ansätze, insbesondere aus dem Bereich des Jazz und der Rock- und Popmusik. Häufig zu findende Tipps sind etwa:
- Ohne zu viel Nachdenken über theoretische Zusammenhänge durchs Hören austesten, welche Töne in welcher Akkordverbingung welchen Charakter haben.
- Skalen ausmachen, welche zu der Akkordfolge oder wenigstens dem einzelnen Akkord passen und diese als Tonvorrat für die Improvisation nutzen.
- Sich die Akkordtöne vorstellen und diese sowie eventuelle Options-, Neben- und Durchgangsnoten als Tonvorrat für die Improvisation nutzen.
Improvisation durch Variation
Dies kann Verschiedenes beinhalten, vom Variieren einer Abfolge von nur zwei Tönen bishin zu Variationssätzen in Anlehnung an bestimmte Stilistiken. Das Prinzip ist in jedem Fall jedoch dasselbe: ausgehend von einer klar definierten, einfachen musikalischen Idee - häufig eine Melodie - werden Variationen improvisiert. Dabei kann alles variiert werden, was einem in den Sinn kommt: Taktart ("An der schönen blauen Donau" im 4/4-Takt?), Interpretation einer Liedmelodie (zB angepasst an den Text mal traurig, mal fröhlich etc.), Gestus und Artikulation ("Eine kleine Nachtmusik" als Triumphmarsch"), Tongeschlecht (... oder in Moll?), und so weiter.
Konzeptuell besteht eine enge Verwandtschaft zur Übemethode des Differenziellen Lernens (siehe oma-Artikel "Differenzielles Üben am Klavier").
Stilgebundene Improvisation
Weiterführende Artikel: Klavierimprovisation im Stil von Yann Tiersens Amélie, Menuette improvisieren
Hierunter fallen alle Ansätze, die die Improvisation innerhalb der Grenzen einer bestimmten Stilistik umfassen. Dafür ist es notwendig, sich genau mit dem entsprechenden Genre zu befassen. Vergleichbar mit dem Erlernen einer Sprache ist hier das Ziel, einen Musikstil so gut zu kennen, dass ein korrektes und authentisch klingendes "Sprechen der Sprache" beziehungsweise Improvisieren der Gattung möglich ist. Analog zum Sprachlernen gibt es auch für musikalische Stilistiken verschiedene Lernwege, vom intuitiven Zugang von Kindern an ihre Muttersprache (in der Musik: hören und nachmachen, über einen sehr sehr langen Zeitraum) hin zu einem theoretischeren Lernen. Dieses umfasst dann Beschäftigung mit "Grammatik" bzw. Musiktheorie, "Vokabeln" beziehungsweise typischen Phrasen/Verläufen/Figuren/Formen, das fleißige Hören und Lesen von Originallitertur bzw. authentischen Aufnahmen, sowie natürlich "Sprechen" bzw. Spielen von diesen Stücken - am besten noch mit "Muttersprachlern" gemeinsam.
Tipps zum Improvisieren lernen
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Lernprozesse zulassen. Improvisieren muss man genauso üben wie Interpretieren. Die häufig anzutreffende Erwartung, dass alles Improvisierte direkt perfekt sein muss, kann daher nur zu Enttäuschungen führen und verhindert das Entstehen eines Lernprozesses; es würde ja auch niemand von sich erwarten, ein neues Literaturstück direkt CD-reif vom Blatt zu spielen.
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Zu Beginn ist es sehr hilfreich, sich entweder sehr weite (zB: Töne komplett egal) oder sehr enge Grenzen (zB: nur zwei Töne, definierter Takt) zu setzen
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Zwischenziele setzen. Auch das gilt analog zum Üben von Literaturstücken: oft hilft es, sich die Dinge Schritt für Schritt vorzunehmen. Möchte man beispielsweise an modaler Improvisation arbeiten, könnte eine Aufteilung wie folgt aussehen:
- Tonleitern / Arpeggien / etüdenmäßige Figuren innerhalb des gewählten Modus spielen, Fokus alleine auf dem "in-die-Finger-kriegen" der Skala
- Ausprobieren von kadenziellen Bewegungen: wie komme ich in diesem Modus zu einem Schluss?
- Kreieren eines Themas in diesem Modus, etwa als Satz / als Periode / ...
- Spielen einer Form wie zum Beispiel A B A, Fokus auf einem starken Kontrast zwischen den Formteilen
- usw
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sich selbst wertungsfrei zuzuhören: nicht das Gespielte direkt in "falsch" oder "richtig" einteilen, sondern einfach nur hören und wahrnehmen, wie es klingt
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Fokus von den Tönen (was wird gespielt) wegnehmen, hin zu wie wird etwas gespielt. Dies macht oft den größeren Unterschied!