Die übermäßige Quarte (Tritonus) und verminderte Quinte
Umgangssprachlich werden sowohl die übermäßige Quarte als auch die verminderte Quinte als Tritonus bezeichnet. Jedoch ist genau genommen nur die übermäßige Quarte ein Tritonus, weil sie aus drei Ganztonschritten besteht (tritonus = lat. Dreiton, von griech. tritonon). Die vermindert Quinte hingegen setzt sich aus zwei Ganz- und zwei Halbtonschritten zusammen:
Theoriegeschichtlich galten sowohl die übermäßige Quarte als auch die übermäßige Quinte als »Teufel in der Musik«. Jedoch nicht nur diese Intervalle: Alle perfekten Konsonanzen (also neben der Quarte und Quinte auch die Oktave und Prime), die mit den Tonsilben ›mi‹ und ›fa‹ verschiedener Hexachorde gesungen wurden, wurden als »diabolus in musica« geächtet:
Aus: F. Ioanne Nucio (Nüßler), Musices Poeticae sive de Compositione Cantus, 1613
→ Digitalisat
Auf welche Weise werden die Stimmen Mi & Fa gegeneinander gesetzt? Mi & Fa in Prime [unisono], Quarte, Quinte und Oktave und die übrigen perfekten Intervalle dürfen niemals gegeneinander gesetzt werden. Man kann nämlich nicht sagen, wie sehr das Gegeneinandersetzen von weichen und auch harten Stimmen die Ohren beleidigt.
F. Ioanne Nucio, Musices Poeticae sive de Compositione Cantus, 1613 (Übersetzung)
Es ist hilfreich zu wissen, dass bei einem diatonischen Halbton (z.B. h und c) der untere Ton als hart und der obere als weich bezeichnet worden ist. Das mag seinen Ursprung in der Doppelnote b/h haben, weil die Saite des Stammtons b gegenüber der Saite des Stammtons h weicher bzw. die h-Saite gegenüber der b-Saite härter gespannt war. Zusammenklänge zwischen den ›weichen‹ Tönen b und es auf der einen sowie den ›harten‹ Tönen e und h auf der anderen Seite (chromatischer Halbtonschritt, übermäßige Quarte, verminderte Quinte und übermäßige Oktave) sollten nach Nucius nicht verwendet werden.
Die Anleitung von Nucius ist 1613 gedruckt worden. Zu dieser Zeit allerdings hatte sich das ›Mi contra Fa‹ in der Praxis bereits durchgesetzt (z.B. in der Oper und im Madrigal). Unglaublich schöne Musik könnten wir heute nicht hören, wenn sich die Komponisten an die Anweisungen von Nucius gehalten hätten. Das folgende Beispiel stammt aus dem Lamento della Ninfa von Claudio Monteverdi (veröffentlicht im 8. Madrigalbuch, 1638), in dem die Solistin kurz vor dem Ende den ausdrucksvollen Melodiesprung d-gis singt:
Cl. Monteverdi, Lamento della Ninfa.
Sopran: Emma Kirkby, Tenöre: Paul Agnew und Andrew King, Bass: Alan Ewing.
The Consort of Musicke, Ltg.: Anthony Rooley, Quelle: YouTube
Ein wenig früher endet mit dem gleichen Sprung d-gis in der Melodie sogar das Madrigal Mille volte il di von Carlo Gesualdo (6. Madrigalbuch, 1611):
Carlo Gesualdo, Mille volte il di, Ensemberlino Vocale, Ltg: Ulrich Kaiser
Im 18. Jahrhundert lassen sich viele ausdrucksvolle Beispiele für dieses Intervall finden. Die historisch gewachsene Verbindung von der verminderten Quinte und schmerzhaftem Ausdruck findet sich sogar gelegentlich noch im 19. Jahrhundert, z.B. wenn Max im Freischütz singt: »mich fasst Verzweiflung, foltert Spott«.
Carl Maria von Weber, Der Freischütz, Szene des Max, Tenor: Rudolf Schock,
Berliner Philharmoniker, Joseph Keilberg, Erstaufnahme 1959, Lizenz: CC0 (in Deutschland)
Gegenüber der verminderten Quinte findet sich die übermäßige Quarte als Melodieintervall in Kompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts ausgesprochen selten. In der Sinfonia in f-Moll von Johann Sebastian Bach erklingt im Bass ein chromatischer Lamentobass, während der Komponist in der jeweils dritten Phrase des Themas eine übermäßige Quarte (zuerst im Alt b-e, dann im Sopran f-h) verwendet:
J. S. Bach, Sinfonia Nr. 9 in f-Moll BWV 795, Klavier: Glenn Gould, Quelle: YouTube