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Figurenlehre
Figurenlehre! – Figurenlehre?
1908 veröffentlichte der Musikwissenschaftler Arnold Schering einen Aufsatz mit dem Titel »Die Lehre von den musikalischen Figuren«. Dieser Aufsatz endet mit einem Appell und zwei Empfehlungen:
Aufgabe für die Zukunft bleibt, die Lehre von den musikalischen Figuren geschichtlich zu fundieren, sie in ihren Einzelheiten darzustellen und die Beobachtung ihrer Regeln in der Praxis der Komposition nachzuweisen. Vielleicht ergeben sich daraus neue Gesichtspunkte zur Bewertung des formalen Teils der älteren Musik. Für das 17. Jahrhundert sind namentlich Carissimis Werke außerordentlich belehrend [...] Für die Zeit Scheibes dagegen dürften Job. Seb. Bachs Werke die meisten Anregungen zum Studium der musikalischen Figuren bieten.
Arnold Schering, »Die Lehre von den musikalischen Figuren«, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 21 (1908), S. 106–114.
Ungefähr 100 Jahre später schrieb die Musikwissenschaftlerin Janina Klassen zum Thema Figurenlehre:
Auffällig ist, dass die einzelnen Kataloge sehr verschiedene Systematiken zeigen und darüber hinaus auch ganz unterschiedliche Figurenrepertoires enthalten, die kaum oder gar nicht kompatibel sind. Diese Beobachtung hat erstaunlicherweise wenig Zweifel beziehungsweise Kritik hervorgerufen, obwohl gerade damit das Modell einer Figurenlehre, wie sie in der musiktheoretischen und -wissenschaftlichen Praxis gehandhabt wird, am gründlichsten in Frage gestellt ist.
Janina Klassen, »Musica poetica und musikalische Figurenlehre – ein produktives Missverständnis«, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Stuttgart 2001, S. 80
In der Zeit zwischen diesen beiden Aufsätzen hat sich – ausgehend von der Musikwissenschaft, über die Musiktheorie bis in die allgemeinbildenden Schulen – eine Lesart für ältere Musik etabliert, bei der man sich angesichts der Kritik fragen muss, warum sie so verbreitet und beliebt ist.
Figuren
Was ist eine musikalische Figur?
Arnold Schering war der Meinung, dass es eine »Reihe feststehender, mit termini technici belegter Ausdruckswendungen« gibt, »die als Nachahmung der poetischen ›Figuren‹ zur größeren Lebendigkeit und stilistischen Verschönerung der Musik dienen und gewissermaßen den tonpoetischen Schmuck eines Stückes ausmachen«. Er führte aus, viele musikalische Figuren seien
unmittelbare Übertragungen poetischer Figuren ins Musikalische, z. B. der Ausruf (Exclamatio), der Zweifel (Dubitatio), die Frage (Interrogatio), die Wiederholung (Repetitio), der Anfang einer Periode mit dem Schlußglied der vorigen (Anadiplosis); und manche, darunter die Ellipse (in der nur der Hauptbegriff unter Weglassung der übrigen Satzglieder ausgedrückt wird)
Schering a.a.O.
seien deswegen auch nur in der Vokalmusik bzw. in Verbindung mit Worten möglich. Daneben gebe es auch
rein musikalische Figuren, deren Herkunft aus dem poetischen Figurenschatz nicht abzuleiten ist. Hierher rechnen ältere wie jüngere Schriftsteller den Vorhalt (Syncopatio), den Durchgang (Transitus), die Fuge (Fuga), die Generalpause (Homoioteleuton), die Versetzung eines Motivs in eine höhere oder tiefere Tonlage (Hyperbaton), ja wohl auch den doppelten Kontrapunkt. Ein prinzipieller Unterschied zwischen solchen rein musikalischen und jenen aus der Oratorie und Poetik abgeleiteten Figuren wird im allgemeinen nicht beobachtet; in den Aufzählungen stehen beide vielmehr ungeordnet nebeneinander [...]
a.a.O.
Seine These belegt Schering durch Quellen (z.B. durch Mauritius Vogt, Conclave thesauri magnae artis Musicae, Prag 1719) und seine etwas bunt geratene Figurentabelle enthält beispielsweise folgende Erklärungen:
- Anabasis bedeutet ein Aufsteigen der Stimme bei Worten wie ascendit in caelum.
- Catabasis bedeutet ein Absteigen der Stimme bei Worten wie descendit ad inferos.
- Anadiplosis: Wenn der Anfang einer Periode aus dem Ende der vorhergehenden genommen ist, z. B.
- [...]
- Antitheton = Gegensatz, wie er bei Themen und Gegenthemen und bei Gegenüberstellung von Dissonanzen erscheint. Eine gewöhnliche Figur.
- Aposiopesis = Verschweigung. Sie liegt dort vor, wo eigentlich anderes gesungen werden sollte, wie in dem Beispiel:
- [...]
- Climax = Stufenweises Aufsteigen. Eine gewöhnliche Figur.
- Ecphonisis = Ausruf, wie »O«! »Ach Schmerz« usw.
- Epanalepsis = Wiederholte Nachdrücklichkeit. Eine gewöhnliche Figur.
- [...]«
Die Kataloge
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind dann einige einflussreiche musikwissenschaftliche Publikationen erschienen, die das Analysieren mithilfe musikalischen Figuren stark befördert haben. Dazu gehören:
- Joseph Müller-Blattau (Hg.), Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, Leipzig 1926.
- Hans-Heinrich Unger, Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert, Würzburg 1941.
- Rolf Dammann, Der Musikbegriff im deutschen Barock, Köln 1967.
- Dietrich Bartels, Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 1985.
Probleme
Probleme in der Analyse
Probleme der Analyse lassen sich am besten an einem Analysebeispiel veranschaulichen. In dem Aufsatz »Musical-Rhetorical Figures illustrated in Bach’s Matthäus-Passion« wird angemerkt, dass die Figur der Anabasis (Ascensus) Ausdruck für erhabene Bilder oder positive Gefühle ist und im Falle der Matthäus-Passion die Vorhersehung repräsentiert, symbolisiert durch den Heiligen Geist. Păun und Pepelea erläutern:
Anabasis, Ascensus – an asceding musical passage which expresses exalted images or positive feelings. Since Bach surely knew the spiritual connotation associated with the Baroque bass, it is well-worth noticing this particular instrument, which accurately reflects the ongoing events. Thus, right at the beginning, in the opening chorus, the bass renders this musical figure, as a moral support of what was about to happen, the work of providence represented here by the Holy Spirit
Florin Păun und Roxana Pepelea, »Musical-Rhetorical Figures illustrated in Bach’s Matthäus-Passion«, in: Bulletin of the Transilvania University of Braşov 60 (2018), S. 229–238.
Dafür wird in dem Aufsatz das folgende Beispiel aus dem Eingangschor in e-Moll der Matthäuspassion BWV 244 von J. S. Bach gegeben:
Johann Sebastian Bach, Matthäuspassion BWV 244, Eingangschor, Quelle: YouTube
Wäre dann auch diese Passage in einer e-Moll-Komposition von J. S. Bach als Vorhersehung zu interpretieren, die durch den Heiligen Geist symbolisiert wird? Immerhin entsteht durch die Septimsprünge abwärts zu jedem Taktbeginn der Eindruck einer endlos langen Tonleiterbewegung aufwärts:
Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge in e-Moll BWV 548, Fuge T. 112 ff., Quelle: YouTube
Oder wie sähe es mit einer Interpretation dieser Passage in f-Moll aus:
Johann Sebastian Bach, Präludium in f-Moll BWV 534, T. 17–21, Quelle: YouTube
Und wäre dann die umgedrehte Bewegungsrichtung als Katabasis zu verstehen, zu der Păun und Pepelea schreiben:
Catabasis, Descensus – a descending musical passage, which reflects a sombre atmosphere or negative feelings (see Fig. 8). In No. 71, Recitative there is such a passage depicting the death of Jesus [...]
Păun und Pepelea a.a.O.
In der Dorischen Toccata führt eine solche Tonleiter nicht nur scheinbar endlos abwärts, sondern zugleich auch in eine tiefe (neapolitanische) Tonartenregion:
Quelle: YouTube
Neben den bisher erwähnten spezifischen Bedeutungen lässt sich nicht ausschließen, dass Tonleiterbewegungen ab- wie aufwärts im 18. Jahrhundert lediglich beliebte Diminutionen von Quintfall- bzw. Quintanstiegsequenzen gewesen sind, die in der Instrumentalmusik unzählige Male vorkommen und von dort aus selbstverständlich auch Eingang in Vokalmusik gefunden haben könnten.
Wäre es in diesem Fall legitim, solche Sequenzen mit einer spezifischen Bedeutung zu belasten? Und wenn ja, auf welche Weise bzw. anhand welcher Kriterien können angemessen Interpretation von einer beliebigen Deutung unterschieden werden?
Die vorangegangenen Beispiele stehen exemplarisch für ein Problem: Anhand einzelner Werke lässt sich schnell für bestimmte Stellen eine spezifische Semantik bestimmen. Doch ob solche Erklärungen einer Überprüfung durch statistische Untersuchung in Werken desselben Komponisten, in verschiedenen Gattungen oder sogar in Werken einer ganzen Epoche standhalten, lässt sich mit gutem Recht bezweifeln.
Probleme in der Wissenschaft
Carl Dahlhaus hat über den Begriff der musikalischen Figur geschrieben:
Das Wort Figur ist demnach ein Begriff für musikalische Phänomene, die jeweils den Theoretikern als irregulär erschienen. Das Vorbild der Rhetorik war ein theoretischer Rechtstitel, aber kein praktischer Anlaß für die musikalischen Phänomene.
Carl Dahlhaus, »Die Figur superficiales in den Traktaten Christoph Bernhards«, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress Bamberg 1953, Kassel 1954, S. 135–138.
Musiktheorie als Problem
Musikalische Figuren sind nach Dahlhaus aus der Rhetorik entliehene Labels für musiktheoretische Probleme, die man sich in der damaligen Zeit noch nicht erklären konnte. Er weist darauf hin, dass die meisten Beispiele Bernhards (zum Beispiel für Extensio, Ellipsis, Mora (Retardatio)) usw. auf einer freien melodischen Bewegung zwischen den Tönen des Dominantsept-Akkords oder des Quintsext-Akkords der vierten Stufe in Moll beruhen. Dinge, die sich also im 21. Jahrhundert problemlos musiktheoretisch klassifizieren lassen, wurden von Bernhard mithilfe seiner Denkkategorien als ungewöhnliche Arten des Durchgangs und der Synkope verstanden. Dahlhaus schreibt:
Analoges gilt für den ›Passus duriusculus‹, den chromatischen Quartgang abwärts und aufwärts (M-Bl 77-78). Bernhards Einspruch gegen den Begriff Chromatik wurde als versteckter Hinweis auf eine rhetorische Bedeutung der Figur aufgefaßt. Die Definition der Figur lautet: ›Passus duriusculus, einer Stimme gegen sich selbst, ist, wenn eine Stimme ein Semitonium minus steiget oder fället‹. Die zunächst etwas rätselhafte Wendung ›einer Stimme gegen sich selbst‹ wird verständlich durch Bernhards Verweis auf den Querstand beim ›Passus duriusculus plurium vocum‹: Der einfache Passus duriusculus gilt als eine Folge von Querständen ›einer Stimme gegen sich selbst‹, ist also als Figur musiktheoretisch ›uneigentlich‹ benannt. Den Begriff Chromatik lehnt Bernhard ab, weil er Akzidentien - abgesehen von Leittönen in Kadenzen (M-Bl 5'S) - als Zeichen für Systemwechsel auffaßt.
Dahlhaus, a.a.O.
Dahlhaus folgert daraus:
Einige Figurennamen sind demnach nur vorläufige Termini technici ohne musiktheoretischen Erkenntniswert. Die neuerdings versuchte rhetorisch-bildliche Deutung auf Grund der Namen beruft sich auf eine experimentelle Redeweise, und die Vermutung, daß Bernhard ›eine systematische Figurenlehre der Rhetorik anscheinend als selbstverständlich voraussetze‹, ist unbegründet; denn Bernhards oft zitierter Vergleich von Musik und Rhetorik wegen der ›Menge der Figuren‹ in beiden Disziplinen (M-Bl 147) ist eine bloß formale Analogie wie zahlreiche traditionelle Vergleiche beider Künste auf Grund ähnlicher Wirkungen oder auf der Basis von Zahlen.
a.a.O.
Weltanschauung als Problem
Ein weiteres Problem liegt darin, dass analytische Anwendungen rhetorischer Konzepte auf der Annahme basieren, dass sich Komponisten der Vergangenheit während ihres Lateinstudiums mit Konzepten der Rhetorik auseinandergesetzt hätten und deswegen in ihrem Denken diese Kategorien von Bedeutung gewesen seien. Im Oxford Music Online heißt es dazu:
Research into Bach's education, however, shows that much of his training in rhetoric involved rote memorization. Only on rare occasions was Leopold Mozart grateful for his knowledge of Latin (letter of 5 November 1765), and in a letter of 5 February 1778 he advised his son to purchase a German translation of the psalms before attempting to set them in Latin. Much of Mozart's instruction was probably practical, concerned with proper pronunciation and issues of text-setting rather than delving into the precepts of oratory. Wolfgang himself disclaimed the ability to ‘arrange the parts of a speech’ effectively (letter of 9 November 1777), and was already an established musician before he began to study Latin in the late 1760s.
Blake Wilson, George J. Buelow und Peter A. Hoyt, »Rhetoric and music« (2001), in: Oxford Music Online
Solche und entsprechende Befunde zeigen, dass es problematisch ist anzunehmen, die klassische Rhetorik sei im 18. Jahrhundert Teil einer umfassenden Weltanschauung gewesen, die kompositorische Entscheidungen von Musikern dieser Zeit beeinflusst habe. Darüber hinaus lässt sich nicht ausschließen, dass umgekehrt die musikalische Praxis auf das Schreiben über Rhetorik gewirkt hat. Dazu schreiben die Autoren im Oxford Music Online:
In fact, the ability of contemporaneous theorists to relate the six-part oration to both the da capo aria and sonata form (see Bonds, 1991) suggests that rhetoric did not provide models for composers; rather, writers on music seem to have adapted rhetorical concepts to conform – however tenuously – to musical practice.
a.a.O.
Terminologie als Problem
Nicht zuletzt wurde schon früh – wenn auch nebensächlich – die Uneinheitlichkeit hinsichtlich der Bedeutung des Repertoires an Figuren erwähnt:
[...] wie denn überhaupt die Ansichten über Zahl, Wert und Benennung der einzelnen Figuren stark auseinandergehen.
Schering 1908, S. 108.
Erst im 21. Jahrhundert hat allerdings Janina Klassen daraus Konsequenzen für die musikalische Analyse gezogen:
Der heutige Gebrauch der Figurenlehre als analytischer Zugriff auf ältere Musik und die verschiedenartigen Konzeptionen von Figurenlehren im 16., 17. und 18. Jahrhundert unterscheiden sich grundlegend [...] Sowohl die ästhetischen, kunsttheoretischen und ideologischen Unterschiede zwischen dem 19. Jahrhundert und früheren Jahrhunderten als auch diejenigen zwischen den einzelnen Figurenlehren verbieten den systematischen Einsatz von ›Figurenlehre‹.
Janina Klassen, »Figurenlehre und Analyse. Notizen zum heutigen Gebrauch«, in: ZGMTH 3/3, S. 285.
Funktionen
Funktionen
Doch wenn aus wissenschaftlicher Sicht die musikalische Figurenlehre als Methode der Analyse fragwürdig ist, welche Gründe gibt es dann, sie in spezifischen Kontexten weiterhin zu verwenden?
Jede musikalische Analyse basiert auf willentlich getroffenen (willkürlichen) Entscheidungen des Analysierenden. Die Frage, warum sich Analysierende für die Figurenlehre als Methode entscheiden, verweist auf die Absicht, warum Musik mithilfe von Figuren analysiert wird.
Kontext Pädagogik
Im Kontext der Ausbildung (Schule, Musikhochschule usw.) werden musikalische Figuren gerne bemüht, um zu zeigen, auf welche Art eine bestimmte Textbedeutung von Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts vertont worden ist. Das Problem ergibt sich in diesem Kontext nicht aus der Feststellung, dass sich Textbedeutung und musikalische Umsetzung zu entsprechen scheinen, sondern aus der Kausalität, dass spezifische Textinhalte eine bestimmte musikalische Gestaltung bewirken. Wird diese Kausalität als stabil unterstellt, lässt sich das Erkennen einer musikalischen Gestaltung und ihrer Bedeutung in ein Bewertungssystem integrieren, das gute Leistungen ohne spezifische Musikkenntnisse ermöglicht. Denn Textinhalte lassen sich sprachlich und Figuren visuell erfassen, beide Zugangsformen verdecken ein Hören, das erlernt werden muss und auf die Musik als klingendes Ereignis gerichtet ist.
Kontext Wissenschaft
In wissenschaftlichen Kontexten werden musikalische Figuren in der Regel verwendet, um die Absicht des Komponisten, die kompositorische Umsetzung und auch ihre Qualität zu veranschaulichen. Wissenschaftstheoretisch wird diese Verwendung spätestens seit Hans-Georg Gadamer kritisch reflektiert.
Hermeneutik
Hans-Georg Gadamer erläutert ein auf Friedrich D. E. Schleiermacher gegründetes psychologisches Verstehen. Er schreibt dazu:
Die Hermeneutik umfasst grammatische und psychologische Auslegungskunst. Schleiermachers Eigenstes ist aber die psychologische Interpretation. Sie ist letzten Endes ein divinatorisches Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers, eine Auffassung des ›inneren Hergangs‹ der Abfassung eines Werkes, ein Nachbilden des schöpferischen Aktes. Verstehen ist also eine auf eine ursprüngliche Produktion bezogene Reproduktion [...]
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 7/2010, S. 191.
Mit der psychologischen Auslegungskunst, die auf das Denken des Dichters oder Komponisten rekurriert, verbindet sich immer auch ein latenter Machtanspruch. Denn beim Rekurs auf das Denken des Schöpfers ist zwar nicht auszuschließen, dass man sich irrt, doch das Ausschalten von Irrtümern wiederum dient nur dem Ziel, sich dem einen Denken, nämlich dem des Schöpfers, zu nähern. Gadamer merkt deshalb an:
[...] das Interesse, das für Schleiermacher diese methodische Abstraktion motivierte, war nicht die des Historikers, sondern die des Theologen. Er wollte lehren, wie man die Rede und schriftliche Überlieferung zu verstehen hat, weil es auf die eine, die biblische Überlieferung, für die Glaubenslehre ankommt.
a.a.O. S. 201
Das psychologische Verstehen Gadamers nennt Wolfgang Ludwig Schneider Meinungsverstehen und trennt es vom Sachverstehen einer jüngeren Hermeneutik. Er schreibt:
Gadamer setzt sich strikt gegenüber der Reduktion von Verstehen auf psychologisches Verstehen, auf den Nachvollzug der Sinnintentionen eines Autors oder Akteurs ab. Er tut dies mit Hilfe der Unterscheidung von Sachverstehen und Meinungsverstehen (Gadamer 1965: 278f). Meinungsverstehen entspricht dem psychologischen Verstehen Schleiermachers wie auch dem historischen Verstehen, dem es um die Restitution des ursprünglichen Sinnes von Texten, Handlungen oder Artefakten aus der Perspektive der Zeitgenossen geht. Die Bedeutung des Meinungsverstehens ist für Gadamer jedoch abgeleiteter Art. Die Führungsrolle im Prozeß der Auslegung kommt dem Sachverstehen zu. Das Sachverstehen richtet sich unmittelbar auf das zu verstehende Sinngebilde selbst. Es fragt nicht danach, was der Autor dabei im Sinn hatte, welche ›gedanklichen Erlebnisse‹ ihn bewegten, sondern was das Sinngebilde bedeutet.
Wolfgang Ludwig Schneider, »Hermeneutik sozialer Systeme. Konvergenzen zwischen Systemtheorie und philosophischer Hermeneutik«, in: Zeitschrift für Soziologie 21 (1992), S. 428.
Oder in Gadamers eigenen Worten:
Daraus folgt auch – was die Hermeneutik nie vergessen sollte –, daß der Künstler, der ein Gebilde schaffte, nicht der berufene Interpret desselben ist. Als Interpret hat er vor dem bloß Aufnehmenden keinen prinzipiellen Vorrang an Autorität. Er ist, sofern er selbst reflektiert, sein eigener Leser. Die Meinung, die er als Reflektierender hat, ist nicht maßgeblich. Der Maßstab der Auslegung ist allein, was der Sinngehalt der Schöpfung ist, was diese ›meint‹.
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 7/2010, S. 196.
Konstruktivistische Systemtheorie
Dass Kunstschaffende hinsichtlich der Bedeutung ihrer Kunst keine höhere Autorität als Analysierenden haben, gilt auch in der konstruktivistischen Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Er schreibt dazu:
Das, was sich als Kunstwerk der Beobachtung preisgibt, leistet einen eigenständigen, nicht in ein anderes Medium übersetzbaren Beitrag zur Kommunikation. Und auch der Künstler kann nur sehen, was er gewollt hat, wenn er sieht, was er gemacht hat.
Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main (TB-Ausg.) 1997, S. 44.
Aus Sicht der konstruktivistischen Systemtheorie lässt sich über die Psyche eines Kunstschaffenden immer nur spekulieren (auch über die eines noch lebenden). Und der Code des Wissenschaftssystems (wahr/unwahr) besagt nichts anderes, als dass wissenschaftliche Ergebnisse überprüfbar sein müssen, wodurch ein Raum für Forschung entsteht, in dem alles Wahre sich später auch als unwahr erweisen kann. Was sich allerdings als Spekulation der Überprüfung bzw. dem Code des Wissenschaftssystems entzieht, ist für das Wissenschaftssystem nicht anschlussfähig, sondern wertlos. Die konstruktivistische Systemtheorie geht daher nicht davon aus, dass wissenschaftliche Beobachtung einer künstlerischen Absicht oder einer an ihr bemessenen kompositorischen Gestaltung zu folgen habe. Nach Luhmann sind der Beobachtung kaum Grenzen gesetzt:
Auch Verfolger aller Arten, Moralisten, soziale Bewegungen, religiöse Eiferer kann man auf diese Weise mit Gewinn betrachten. [...] Allerdings darf das nicht zu dem Fehler führen, nunmehr die Verfolger zu Opfern zu machen und sie zu verfolgen; oder die Moralisten nun ihrerseits moralisch zu verurteilen. Der theoretische Vorrang der Operation des Beobachtens führt vielmehr nur zu der Frage, welche Folgen es hat, wenn so beobachtet wird, wie beobachtet wird - und nicht weiter.
Luhmann, Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S. 150.
Der Fokus Beobachtung von Beobachtungen (oder: »wie beobachtet wird«) ist klar auf die Frage gerichtet, welcher Vorteil sich für die Forschung ergibt, wenn eine Komposition aus einer spezifischen Perspektive betrachtet wird. Doch ganz gleich, welche Perspektive für ein bestimmtes Forschungsvorhaben gewählt wird, warnt Luhmann davor, dass
[...] nicht festgestellt werden kann, wie die Welt wirklich beschaffen ist, sondern nur, wie sie intersubjektiv übereinstimmend konstruiert werden kann mit der Folge, daß die Kommunikation fortgesetzt werden kann und nicht mangels Verständigungsmöglichkeiten abgebrochen werden muß.
a.a.O.