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Der Neapolitaner (der Neapolitanische Sextakkord)

Als Neapolitaner oder Neapolitanischer Sextakkord wird ein Klang bezeichnet, der sich funktional als Mollsubdominante mit tiefalterierter Sexte (anstelle der Quinte), akkordisch als tiefalterierte zweite Stufe oder kontrapunktisch als chromatisch alterierter Vorhalt (Pathopoeia) verstehen lässt.

Der Neapolitaner als Figur zum Ausdruck von Schmerz

Der sogenannte Neapolitanische Sextakkord (oder auch kurz: Neapolitaner) hat seine Wurzeln im phrygischen Modus. Erklingt hier über der vierten Tonleiterstufe des Phrygischen auf e ein Sextakkord, ist es durch die phrygische Sekunde e-f ein F-Dur-Sextakkord:

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Der E-Dur-Schlussklang im Beispiel oben verweist dabei nicht auf die Tonart E-Dur, sondern ist lediglich als Aufhellung des Schlussakkordes zu verstehen (›picardische Terz‹), da der Molldreiklang im 17. Jahrhundert noch nicht als schlussfähig galt.
Der phrygische Modus wurde von vielen Komponisten mit Affekten wie Klage und Trauer in Verbindung gebracht, Choräle der Kar-Zeit (Fastenzeit) wie »O Haupt voll Blut und Wunden« sind im phrygischen Modus komponiert. Ein weiteres Beispiel für den Sextakkord auf der vierten Tonleiterstufe im Phrygischen (in moderner Lesart: B-Dur-Sextakkord im Verhältnis zu Finalis a) im Affekt des Trauerns finden sich in dem geistlichen Madrigal »Da Jakob die Rede vollendet hatte« von Johann Hermann Schein (beim Berühren der folgenden Abbildung wird der Klang, aus dem sich der Neapolitanische Sextakkord entwickelt hat, grün markiert, rot hingegen die Finalis oder modern gesprochen, der Grundton des Abschnitts). Beachten Sie nicht nur die außergewöhnliche Klanglichkeit dieser Sextakkordkette (›Fauxbourdon‹-Satz), sondern auch die Aufhebung des geraden Pulses zum ungeraden:

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Externer Link Youtube: Johann Hermann Schein - Da Jakob vollendet hatte (Israelis Brünnlein), Ensemble Vocal Européen, Philippe Herreweghe

Erklingt die eingangs gezeigt kontrapunktische Wendung in Moll, ergibt sich als Sextakkord über der vierten Tonleiterstufe ein anderer Klang (modern gesprochen: die Umkehrung des verminderten Dreiklangs der zweiten Stufe). In e-Moll ist das der Akkord fis-a-c bzw. dessen erste Umkehrung a-c-fis. Um in einer Kadenz in Moll den phrygischen Sextakkord zu erzeugen, muss Chromatik verwendet bzw. die Wechselnote im Sopran e-fis-e zu e-f-e tiefalteriert werden:

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Beachten Sie bitte auch in diesem Fall, dass die E-Dur-Schlussklänge nicht auf die Tonart E-Dur-Tonart verweisen, sondern wiederum nur die Aufhellung des Schlussakkordes darstellen (picardische Terz). Auf die gleiche Weise wie das f in der Kadenz in Moll lässt sich das b in der Weinen-Passage von Joseph Hermann Schein erklären. Es gibt sogar einige zeitgenössische Musiktheoretiker, die solche außergewöhnlichen musikalischen Wendungen mit einem Namen belegt haben. Joachim Burmeister schrieb:

Pathopoeia fit quando textus semitoniis ita explicatur, ut quod affectus creet nihil ejus intentatum rlinqui videatur. Pathopoeia geschieht, wenn der Text durch Halbtöne derart ausgedrückt wird, dass niemand dadurch unberührt bleibt.

Burmeister 1599, zitiert nach Dietrich Bartel, Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 1985, 3/1997, S. 223.

Wobei wir natürlich heute streng genommen nicht wissen können, ob Scheins Weinen-Passage die Menschen früher tatsächlich berührt hat und es deswegen legitim ist, die entsprechende Wendung heute als Pathopoeia zu bezeichnen. Aber in dem Wort Pathopoeia steckt griechisch πάθος/páthos = Leid und ποιέω = machen, eine Pathopoeia wäre also die »Leid machende« Chromatik, was semantisch zu der Vertonung des Weinens im geistlichen Madrigal von Schein passen würde. In der Oper Jephte von Giacomo Carissimi gibt es kurz vor dem berühmten Schlusschor »Plorate fili Israel« ein Rezitativ, in dem sehr viele neapolitanische Klänge den traurigen Affekt unterstreichen.

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Externer Link: Youtube: Plorate Colles from the oratorio "Jephte" by composer Giacomo Carrissimi (1605-1674), Beautiful voice of Janet Coxwell (Soprano)

In dem Hörbeispiel aus der Oper Jephte erklingen zwei neapolitanische Sexzakkorde: Ein F-Dur-Sextakkord (grün) in Bezug auf die Kadenz mit der Finalis e (rot) und ein B-Dur-Sextakkord (grün) in Bezug auf die Kadenz mit der Finalis a (rot, beim Berühren der Abbildung sind die Farben zu sehen). Für den neapolitanischen Sextakkord in der e-Kadenz ist kein Vorzeichen notwendig (das fis, das zwei Takte vorher zu hören war, gilt hier nicht mehr). In der Kadenz auf a hingegen wird für den Neapolitaner das b als Vorzeichen gebraucht.

Durch die häufige Verwendung des Neapolitaners in der italienischen Oper des 17. Jahrhunderts wurde der Klang schnell zum Klischee und verlor seine ursprüngliche Bedeutung als Träger für einen besonderen Ausdruck (z.B. für ›Leid‹ und ›Schmerz‹). Doch auch in später Zeit lässt sich der Neapolitaner noch in seiner ursprünglichen Bedeutung entdecken.

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Mozart, Die Zauberflöte. Hilde Güden, Walter Berry, Kurt Böhme, Wiener Philharmoniker, Karl Böhm,
Decca ‎– SX 21173-M, veröffentlicht 1960, Public Domain.

Der Neapolitaner (grün), ist hier gegen Ende der Arie Teil der großen Schlusskadenz in der Grundtonart g-Moll (rot). Zwischen dem Neapolitaner und der Tonika erklingt (gelb) die Dominante D-Dur und deren Umspielung durch doppeldominantische Klänge (Doppeldominante a-cis-e-g und übermäßiger Terzquartakkord es-g-a-cis). Beim Eintritt des Neapolitaners singt Pamina das Wort »Ruh'« und viele weitere Merkmale sprechen dafür, dass Mozarts seine Musik als symbolische Umsetzung des Textinhaltes verstanden wissen wollte. Denn beim nächsten Erscheinen im Text verbindet Mozart die »Ruh'« mit einem ›himmelwärts führenden‹ Oktavsprung zum zweigestrichenen g, während der Tod in die Tiefen der Hölle mit einem noch größeren Intervall abzustürzen scheint. Vor dem Hintergrund christlicher Semantik (in umgekehrter Reihenfolge: »hinabgestiegen in das Reich des Todes [...] aufgefahren in den Himmel«) scheint diese Musik regelrecht zu verständigen Hörerinnen und Hörern zu ›sprechen‹.

Der Neapolitaner als Signal für den Schluss

Dass die häufige Verwendung des Neapolitaners zum Verlust seiner ursprünglichen Bedeutung geführt hat, ist bereits erwähnt worden. Doch auch ohne die spezifisch außermusikalische Bedeutung ist der Neapolitaner in der Instrumentalmusik des 18. und 19. Jahrhunderts ein wichtiges Ereignis geblieben. In der Passacaglia und Fuge in c-Moll BWV 582 von Johann Sebastian Bach erklingt er beispielsweise kurz vor dem Schluss des ganzen Werks (Rechenweg: Tonart c-Moll -> tiefalterierte zweite Stufe = Des-Dur -> Neapolitaner = Des-Dur-Sextakkord, beim Berühren der Abbildung werden der Neapolitaner grün und die Schlussakkord mit picardischer Aufhellung rot markiert):

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Source: Youtube

Anhand dieses Beispiels könnte eingewendet werden, dass Passacaglia und Fuge in der Tonart c-Moll komponiert worden seien, einer Tonart also, in viele dramatische Werke charakterisiert und dass deshalb der Neapolitaner in dieser Komposition noch etwas vom Ausdruck des ›Leidens‹ oder der ›Schmerzen‹ transportieren würde. Das mag für dieses Stück zutreffend sein, jedoch findet sich der Neapolitaner auch in anderen, weniger dramatischen Werken Bachs als Signal für den Schluss, z.B. in der viel freundlicheren Toccata in F-Dur BWV 540 (Rechenweg: Tonart F-Dur -> tiefalterierte zweite Stufe = Ges-Dur -> Neapolitaner = Ges-Dur-Sextakkord, beim Berühren dieser Abbildung werden Neapolitaner und Schlussakkord wieder farbig markiert):

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Source: Youtube

Der Neapolitaner kann daher neben der Funktion eines Symbols für ›Leid‹ und ›Schmerz‹ auch eine syntaktische Funktion wie die Ankündigung einer wichtigen Kadenz bzw. eines musikalischen Schlusses in einer Komposition übernehmen.

Der Neapolitaner als besondere Klangfläche (Region)

In dem bekannten c-Moll-Prélude Op. 28, Nr. 20 von Frédéric Chopin erklingt ein Neapolitaner als Signal für den Schluss. Jedoch hat dieser Neapolitaner etwas Besonderes:

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Quelle: YouTube

Im ersten Takt erklingt eine Kadenz in c-Moll mit einer einfachen Subdominante (f-Moll), am Ende des Beispiels erklingt auch eine Kadenz mit einer ähnlichen Oberstimme. An dieser Stelle jedoch ersetzt Chopin die Subdominante durch den Neapolitaner (Rechenweg: Tonart c-Moll -> tiefalterierte zweite Stufe = Des-Dur -> Neapolitaner = Des-Dur-Sextakkord, farbliche Markierungen wie gehabt). Die Besonderheit: Der Neapolitaner erklingt nicht als Sextakkord, sondern als Grundstelliger Dreiklang. Er ist eingebettet in eine Quintfallsequenz mit den Fundamenten as, des, g und c. Man kann an diesem Beispiel sehr schön sehen, dass sich der Klang verselbständigt hat und der Neapolitaner nicht mehr an den Sextakkord bzw. an eine Stimmführung gekoppelt ist, die im Kontrapunkt bzw. der Stimmführung (Pathopoeia) wurzelt. Die Verselbständigung des Neapolitaner-Klangs kann soweit gehen, dass eine ganze Regionen in der Tonart des Neapolitaner erklingen wie beispielsweise in der Sonate in f-Moll Op. 57 (›Appassionata‹) von Ludwig v. Beethoven. Hier wird gleich die ganze erste Taktgruppe aus der Grundtonart f-Moll in die Tonart des Neapolitaners Ges-Dur gerückt und aus dieser anfänglichen harmonischen Spannung bezieht die ganze Komposition einen wesentlichen Reiz:

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Quelle: YouTube

Der Neapolitaner als Modulationsmittel

In vielen Harmonielehren wird dem Neapolitaner als Modulationsmittel viel Raum gegeben. Die Bedeutung einer Modulation über den Neapolitaner wird allerdings überschätzt, denn sie kommt in komponierter Musik nur recht selten vor. Ein Beispiel hierfür wäre die Modulation von C-Dur nach e-Moll über F-Dur (einfache Subdominante in C-Dur und Neapolitaner in e-Moll) im zweiten Satz der Sonate in a-Moll D 784 von Franz Schubert (T. 103 ff.). Ein bekannteres Beispiel allerdings dürfte der Übergang zur Reprise in der Sonate ›facile‹ in C-Dur KV 545 von W. A. Mozart sein:

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Erterner Link YouTube: Mozart: Piano Sonata No. 16 in C Major, K. 545 "Sonata facile" - 1. Allegro · Lang Lang

Hier erklingt in T. 50 (grün) ein B-Dur-Sextakkord, der in Bezug auf die vorhergehende Quintfallsequenz und Durchführungstonart a-Moll Neapolitaner ist. Ihm folgt allerdings keine Kadenz nach a-Moll, sondern ein C-Dur-Dominantseptakkord, der in die Reprise in der ›falsche‹ Tonart F-Dur (T. 42) führt.