Die Sekunden
In der klassischen Kontrapunktlehre gelten Sekunden als dissonante Intervalle. Ihr Gebrauch war daher besonderen Regeln unterworfen (vgl. Durchgang, Dreh- oder Wechselnote, Synkope). Die Zählung der Sekunden zu den Dissonanzen liegt ein Denken zugrunde, dass Intervalle nach den Schwingungsverhältnissen der an einem Zusammenklang beteiligten Töne qualifiziert. Und da die Töne von Sekunden gemessen an der perfekten Oktave (2:1) recht komplexe Schwingungsverhältnisse (9:8, 10:9, 16:15) aufweisen, galten Sie als dissonant.
Sekunden wurden jedoch nicht immer als Dissonanzen betrachtet. In mittelalterlichen Traktaten beispielsweise werden Sekunden als consonantiae bezeichnet. Seit Hucbald (ausgehendes 9. Jahrhundert) hat es sich durchgesetzt, Intervalle sowohl als Zusammenklang (symphoniae) als auch als melodisches Ereignis anzusehen. Und die Zählung der Sekunde zu den consonantiae orientierte sich – im Gegensatz zu der Betrachtungsweise der Schwingungsverhätnisse der zusammenklingenden Töne – am Gebrauch der Intervalle in der musikalischen Praxis. Guido zählte die Sekunden zusammen mit den Terzen, der Quarte und der Quinte wahrscheinlich zu den sechs consonantiae, weil diese Intervalle in gregorianischen Gesangsmelodien am häufigsten vorkamen.
Für die Musik des 16. und 17. Jahrhundert wurde dann ein Denken bedeutsam, dass nicht mehr Intervalle, sondern nur noch eine einzelne Stimme als dissonant ansah. Die dissonierende Stimme bezeichnete Giovanni Maria Artusi, der vermeintliche Widersacher von Claudio Monteverdi, als patiente (von lat. pati = leiden, erdulden) und nur die Patiens-Stimme war Regeln wie der Vorbereitung und Auflösung unterworfen. Für die Agens-Stimme (von lat. agere = treiben, handeln) galten diese Einschränkungen nicht. Als Normalfall für die Auflösung einer dissonierenden Stimme galt der Sekundschritt abwärts. Im 17. und 18. Jahrhundert gab es jedoch auch Ausnahmen, in denen das Sekundintervall auch über einen Aufwärtsschritt aufgelöst werden konnte. Beide Arten der Auflösung lassen sich über eine parallele Terzbewegung erklären, in der eine Stimme verzögert voranschreitet:
Terzparallelen abwärts
Terzparallelen abwärts mit Verzögerung der unteren Stimme
Terzparallelen aufwärts mit Verzögerung der oberen Stimme
Während die Abwärtsbewegung als Standardauflösung für den Vorhalt bzw. die Synkopendissonanz galt, bezeichnete Christoph Bernhard die Dissonanzbildung mit Aufwärtsauflösung als Mora, wobei das seltene Vorkommen und der besondere Ausdruck dieser Wendung im 17. Jahrhundert Ursache für die Namensbildung gewesen sein dürfte.
Aus melodischer Sicht ist die Sekundbewegung in modaler und tonaler Musik die häufigste Bewegung überhaupt. Für das kontrapunktische Komponieren wurden Regeln für die Verbindung von Sekundschritten und Sprüngen gegeben, die ein ästhetisch gelungenes Ergebnis gewährleisten sollten. Demnach gilt eine Melodie dann als gelungen, wenn ihre Kurve wie die Flugbahn eines geworfenen Balls verläuft. Übertragen auf die Musik besagt diese Regel, dass ein Melodieverlauf, der von unten nach oben und wieder abwärts führt, genau dann als gelungen zu gelten hat, wenn unten die größeren und oben die kleineren Intervalle erklingen:
Dieses ästhetische Empfinden lässt sich noch in Quellen des 18. Jahrhunderts beobachten. Das folgende Beispiel entstammt den Anfangsgründe zur musikalischen Setzkunst aus dem Jahre 1768 von Joseph Riepel:
In komponierten Stücken des 15. bis 18. Jahrhunderts finden sich jedoch viele Beispiele, die nicht im Einklang mit dieser Regel stehen. Komponisten dürften daher das Urteil, ob eine Fortschreitung ›gut‹ oder ›schlecht‹ klingt, über den individuellen Kontext und nicht über starre Regeln gefällt haben.