6. Wissenschaftliches Lesen

Inhalt

Das wissenschaftliche Lesen unterscheidet sich von dem Lesen alltäglicher Texte. Ein Roman oder Zeitungsartikel liest man in der Regel von vorne nach hinten durch. Für wissenschaftliche Texte gibt es dagegen verschiedene Lesetechniken, die ein zielgerichtetes Auswerten in unterschiedlicher Weise und Reihenfolge ermöglichen. Wie man Texte liest, ist also durch die Textart vorbestimmt. Beim wissenschaftlichen Lesen sollte daher immer eine bewusste Entscheidung erfolgen, wie man sie liest.
Ein weiterer Unterschied zum alltäglichen Lesen ist eine aktive und produktive Lesehaltung, indem die Erkenntnisse bereits während der Lektüre dokumentiert und verarbeitet werden. Diese bilden nämlich bereits wichtige Bausteine für den anschließenden Schreibprozess. Gängig Techniken sind:

  • Annotierung und Markierungen wichtiger Stellen, z.B. durch Unterstreichung, Anmerkungen am Rand des Textes (NIEMALS in aus der Bibliothek entliehenen Büchern!) -> zeitsparend, aber schnell unübersichtlich
  • Exzerpte (darunter kann man sowohl eine Sammlung wörtlicher Zitate als auch die – gegebenenfalls kritisch kommentierte – Zusammenfassung in eigenen Worten verstehen) -> zeitaufwändig, aber präzise
  • Verschiedene Formen der graphischen Aufbereitung, (z.B. Tabellen oder Mind-Maps)

Die Dokumentation von Exzerpten und eigenen Gedanken während des Lesens sollte stets gewissenhaft und vollständig erfolgen, etwa durch Erfassung der genauen Fundstelle. Nichts ist ärgerlicher, als ein Buch oder gar mehrere Bücher nach einer zitierten Passage durchsuchen zu müssen, da man sich die Seitenzahl, Autor_in oder Titel nicht notiert hat!

Querlesen

Nicht alle Texte, die man bei der Recherche gefunden hat, haben die gleiche Bedeutung für die Arbeit. In einem ersten Schritt gilt es herauszufinden, welche Texte wirklich relevant für die Fragestellung sind. Die dafür benötigte Lesetechnik heißt Querlesen oder diagonales Lesen. Dabei hilft es, zu wissen, wie wissenschaftliche Texte in der Regel aufgebaut sind, worauf in einer späteren Lektion noch eingegangen wird. Nahezu alle Texte enthalten eine Einleitung und ein Fazit, in denen die wesentlichen Inhalte, Methoden und Erkenntnisse erläutert werden. Monografien und Sammelbände haben ein Inhaltsverzeichnis sowie einen Klappentext oder eine Kurzbeschreibung, Aufsätze oder Kapitel in Sammelbänden dagegen sogenannte Abstracts, in denen die zentralen Aspekte der Texte kurz und prägnant zusammengefasst werden. Ein sinnvoller erster Schritt ist es, diese Bestandteile auszuwerten, da hier in der Regel schnell erkennbar ist, ob der Text grundsätzlich zur Fragestellung passt.

Punktuelles Lesen

Eine weitere Technik ist das punktuelle Lesen. Benötigt man aus einem Text nur einen Teilaspekt oder eine Einzelinformation, ist diese bei digitalen Texten durch die Volltextsuche nach Stichworten oder Namen leicht zu finden. In den meisten gedruckten Publikationen gibt es Register, in denen aufgelistet ist, auf welchen Seiten Personennamen und wichtige Begriffe zu finden sind. Auch genügt bisweilen die Lektüre eines bestimmten Abschnitts, Kapitels oder Absatzes. Es empfiehlt sich jedoch, die Inhalte des restlichen Texts zumindest durch Querlesen zu erfassen, um die jeweilige Passage angemessen einordnen zu können.

Intensives Lesen

Diejenigen Texte, die für eine Arbeit besonders relevant sind, müssen vollständig erfasst werden. Dies erfolgt durch das sogenannte intensive Lesen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten bestimmte Lesestrategien systematisch anzuwenden, etwa durch unterschiedliche Leseschritte, die stets in derselben Reihenfolge durchlaufen werden (z.B. die SQ3R-Methode von Francis Robinson). All diesen Systematiken ist gemeinsam, dass der Leseprozess vor- und nachbereitet wird.

In der Vorbereitung werden Informationen über den Kontext des Textes eingeholt und die Erkenntnisziele formuliert, die durch die Lektüre des Textes geklärt werden sollen. Vor allem bei längeren Texten ist es zudem sinnvoll, sich einen Überblick über die Struktur des gesamten Textes zu verschaffen. Schließlich sind nicht nur die Einzelinformationen für das Verständnis des ganzen Textes notwendig; auch umgekehrt versteht man häufig Einzelinformationen erst dann vollständig, wenn man sich über ihre Funktion innerhalb der gesamten Argumentationsstruktur im Klaren ist. Auch hier bietet sich die Technik des Querlesens zur Vorbereitung der eigentlichen Lektüre an.

In der zentralen Phase des Lesens sind verschiedene Aspekte von Bedeutung:

  • Der genaue Nachvollzug des Inhalts, des Aufbaus und der Argumentation des Textes
  • Eine kritische Grundhaltung gegenüber diesen Aussagen: Sind alle Kriterien der Wissenschaftlichkeit vollumfänglich erfüllt? Ist der Text aufgrund neuerer Erkenntnisse der Forschung womöglich veraltet? Insbesondere Aussagen, die in die eigene Arbeit übernommen werden, sollten möglichst anhand anderer Quellen überprüft und eingeordnet werden.
  • Die nachvollziehbare Dokumentation aller Erkenntnisse: Die Aussagen des Textes sollten klar von eigenen Gedanken zu diesem Text getrennt werden. Man sollte zudem die genaue Stelle im Text dokumentieren, z.B. mit der Seitenzahl.

In der abschließenden Phase der Nachbereitung geht es zum einen darum, die einzelnen Informationen des gelesenen Textausschnittes wieder in Beziehung mit dem gesamten Text und mit dem Forschungsvorhaben zu setzen. Zudem ist es in der Regel nötig, die eigenen Notizen nochmals auf das Wesentliche zu reduzieren und klar zu strukturieren.

Ob die hier geschilderte Einteilung des Leseprozesses in drei Phasen jedes Mal sinnvoll oder gar notwendig ist, hängt stets vom Einzelfall ab. Auch die Auswahl der Lesetechniken ist abhängig von den Vorlieben der lesenden Person und von der Art und Länge des Textes. Wichtig beim wissenschaftlichen Lesen sind vor allem drei Aspekte:

  • Die klare Dokumentation aller Erkenntnisse
  • Die kritische Grundhaltung gegenüber dem Text
  • Die bewusste und planvolle Steuerung des Leseprozesses

Weiterführende Literatur

  • Matthew Gardner, Sara Springfeld, Musikwissenschaftliches Arbeiten. Eine Einführung, 2. Auflage, Kassel u.a. 2018.
  • Norbert Franck, Joachim Stary, Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens. Eine praktische Anleitung, 17. überarbeitete Auflage, Paderborn 2013.
  • Otto Kruse, Lesen und Schreiben, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Konstanz, 2018.