Differenzielles Üben am Klavier
Differenzielles Üben ist eine Methode des Übens, die der Pianist Martin Widmaier von einem Modell aus den Sport- und Trainingswissenschaften abgeleitet hat, dem Differenziellen Lehren und Lernen nach Wolfgang Schöllhorn. Zur Wirksamkeit des Differenziellen Lehrens und Lernens liegen beeindruckende Studien in verschiedenen Sportarten vor.
Das Modell des Differenziellen Lehrens und Lernens geht davon aus, dass sich Lernen und Leistungssteigerung durch das Erfahren von Unterschieden (Differenzen) ereignen und nicht durch die bloße Wiederholung des Gleichen. Ineffizient ist demnach auch das Üben am Instrument, wenn versucht wird, die eine, erstrebte „Lösung“ möglichst oft und adäquat zu wiederholen (Widmaier nennt diese Übemethode „das konventionelle Üben in der Konservatorientradition“). Stattdessen soll man sich ein Klavierstück erschließen, indem man Varianten erprobt, um Unterschiede zu erfahren, sich gleichsam den „Lösungsraum“ erschließt, indem man dessen Randbereich abtastet. (vgl. Widmaier 2016, S. 20)
Zu beachten ist dabei, dass die Varianten nicht beliebig gewählt werden. Essentiell ist vielmehr „die Unterschiedlichkeit der Durchgänge, nicht einfach deren Buntheit; das Gegeneinanderhalten, nicht das beziehungslose Nebeneinanderstellen“ (Widmaier 2016, S. 26) – der Gedanke Wie fühlt es sich an, wenn ich dieses Stück Musik bewusst anders gestalte als zuvor.
Inhalt
- Wie geht differenzielles Training im Sport?
- Wie geht differenzielles Üben am Klavier?
- Improvisierendes Üben bei Günter Philipp
Siehe auch den Artikel Differenzielles Üben mit Gruppen (Schulklassen).
1. Wie geht differenzielles Training im Sport? – Ein Beispiel
Martin Widmaier führt Beispiele für differenzielles Training nach Wolfgang Schöllhorn aus dem Bereich des Fußballs an:
In einer empirischen Studie zum Torschusstraining werden Faktoren variiert, die besonders „fehlerträchtig“ sind (Standbein-Ball-Relation, Schussbein-Ball-Relation, Körpergeometrie, Oberkörperhaltung und Armhaltung). Zusätzlich wird mit unterschiedlichen Bällen experimentiert (Gewicht, Größe, Form, Masseverteilung und Oberfläche). Um keine Übung zweimal machen zu müssen, werden die Variationen auch beliebig kombiniert.
Ein jüngeres Konzeptpapier zum Torschusstraining untergliedert die Varationsmöglichkeiten in sechs Kategorien:
- Anlauf (z.B. anfersen, Sidesteps machen, auf einem Bein hüpfen);
- Standbein (z.B. weit weg vom Ball, hinterm Ball, gebeugt);
- Spielbein (z.B. nach hinten außen ausholen, das Kniegelenk strecken, den Aufschwung abbremsen);
- Situation (z.B. Ball ruht, Ball wird gedribbelt, Ball wird zugespielt);
- Körperhaltung (z.B. einen Arm hochhalten, mit den Armen kreisen, den Oberkörper vorlegen);
- Zusatzaufgaben (z.B. ein Auge schließen, blinzeln, die Trefferzone eingrenzen). (Widmaier 2016, S. 32)
Kurzes Interview mit Wolfgang Schöllhorn zum differenziellen Training im Fußball, Quelle: Youtube
2. Wie geht differenzielles Üben am Klavier?
Beim differenziellen Üben am Klavier verfährt man ähnlich: Effizientes Lernen wird begünstigt durch das bewusste Erzeugen von Unterschieden, von Variationen, durch das umfassende Abtasten des Lösungsraums in dessen Randbereichen. Dies passiert dabei immer spielerisch, angetrieben von der Neugier nach andersartigen Klängen und kompositorischen Möglichkeiten, mit wachem Zuhören und improvisatorischem Geist und nie technisch im bloßen Wiederholen und Automatisieren von Varianten!
Beim differenziellen Üben gilt es daher auch, eigene Varianten des Differenzierens zu finden, sich eigene herausfordernde Aufgaben zu stellen – abhängig vom vorliegenden Objekt/der vorliegenden Komposition, den vorliegenden Rahmenbedingungen (Instrument, Raum etc.) und auch den persönlichen Problemen und Schwierigkeiten.
Martin Widmaier hat eine Fülle von zu variierenden Parametern aufgelistet, an denen man sich orientieren, die man erproben kann. Für diese möglichen Varianten hat er eine Systematik mit zwei Oberkategorien entwickelt: die Kategorien Geografie des Übens (Mensch) und Geografie des Übens (Musik). (vgl. Widmaier 2016, S. 161-211)
In der Kategorie Mensch sind die Parameter versammelt, die das Zusammenspiel zwischen dem Übenden und dem Instrument im weiteren Sinne betreffen (dabei ist vorausgesetzt, „dass Spieltechnik gesund, instrumentenfreundlich und musikalisch sein muss“ (Widmaier 2016, S. 152):
- Klavierbank & Co
- Stütz- und Spielapparat
- Arm und Hand
- Vierfingerhand und Daumen
- Grundsätzliches (z.B. Mimik, Emotion, Koordination, Kondition)
Die Kategorie Musik subsumiert Parameter, die die Komposition/das vorliegende Objekt verändern:
- Zeitverlauf
- Klanggestalt
- Das Miteinander von Zeitverlauf und Klanggestalt
Welche Varianten kann ich beispielsweise für mein Üben nutzen?
Geografie des Übens (Mensch)
Sitzmöbel – Instrument
- unterschiedliche Stühle
- verschiedene Sitzhöhen/-positionen
- im Stehen
- am Boden sitzend
- unterschiedliche Instrumente verwenden (auch Keyboards mit ungewichteten bzw. enger mensurierten Tasten, mit anderen Tastenoberflächen)
- am E-Piano/Silent-Piano: lautlos spielen
- mit Handschuhen spielen
Raum – Licht
- Licht an oder aus
- im Dunkeln spielen
- das Instrument an einen anderen Platz stellen
- unterschiedliche Nachhallverhältnisse wahrnehmen und das Tempo anpassen
Blattspiel – Auswendigspiel
- beim Auswendigspiel die Augen schließen
- in die Ferne schauen
- der linken Hand zuschauen
Geografie des Übens (Musik)
Zeitverlauf
- das Metrum mit Bewegung verkörpern (Schritte gehen, Tupfen mit den Fingern, Tanzen, Dirigieren, …)
- Rhythmen versprachlichen
- Rhythmen klopfen oder klatschen
- Rhythmen verändern/umkehren
- in halbem Tempo, in viertel Tempo spielen
- langsame Sätze in doppeltem Tempo spielen
- verschiedene Tempi anwenden
- verschiedene Charaktere erproben: schwerfällig, schreitend, sprunghaft, ...
- eine Stelle im Ritardando oder Accelerando spielen
- einen Abschnitt im Rubato gestalten
- für eine Melodie das Metrum/die Taktart ändern, z.B. von 4/4 nach 3/4
- mit Metronom spielen (in Vierteln, Ganzen, Achteln, auf Zählzeiten 2 und 4, als Off-Beats, im Sechsertakt auf Zählzeiten 1, 3 und 5 oder 2, 4 und 6)
- mit Playalong spielen
- zu einer Aufnahme spielen
Klanggestalt
- ein Dur-Stück in Moll spielen (und umgekehrt)
- ein Stück in eine andere Tonalität übersetzen, z.B. nach dorisch
- ungewöhnliche Harmonien „normalisieren“ (z.B. beim neapolitanischen Sextakkord die große Sexte spielen)
- eine Melodie singen
- eine Melodie „betexten“
- eine figurierte Passage auf ihr harmonisches Gerüst reduzieren („summarisches Spiel“)
- für eine figurierte Passage andere Figurationen erfinden
- auftretende Satzmodelle/Schemata extrahieren und (anders) figurieren
- verschiedene Klanglichkeiten erproben (dunkel-hell, matt-glänzend, weich-hart, …)
- unterschiedliche Artikulationsverläufe erfinden (z.B. häufiger Staccato verwenden)
- Artikulationsarten erproben (z.B. leichtes Staccato, kurzes Staccato, sehr kurzes Staccato, extrem kurzes Staccato, ...)
- unterschiedliche dynamische Entwicklungen ausprobieren (sehr leise und heimlich, ein großes Crescendo, sforzati, ...)
- mit bzw. ohne Pedal spielen
- wenig bzw. viel Pedal verwenden
- frühes bzw. spätes Pedal anwenden
Summarisches Spiel am Beispiel von BWV 846
Erfundene Figuration am Beispiel von BWV 846
Veränderte Taktart und Figuration am Beispiel von BWV 846
In Moll gespielt, figuriert und transponiert, am Beispiel von BWV 846
Figuration rückwärts, Hände über Kreuz, viel Pedal, am Beispiel von BWV 846
Übevarianten mit Graham Fitch
In den drei folgenden Videoausschnitten zeigt der Pianist Graham Fitch Varianten des Übens. Diese Varianten möchten als Anregung verstanden werden zum Erfinden von Übungen zu bestimmten Aspekten des eigenen Klavierspiels, anhand derer Unterschiede (Differenzen) erfahrbar werden können.
- Üben einer Walzer-/Mazurkafigur der linken Hand:
Quelle: Youtube
- summarisches Spiel, getrennte Hände, rhythmische Varianten, Pedalvarianten, Artikulationsvarianten, Miming, Zielpunkte anspielen, taktweiser Wechsel der Tempi, taktweiser Wechsel zwischen den Händen:
Quelle: Youtube
- summarisches Spiel, Miming, reduzierendes Spiel
Quelle: Youtube
Der Klavierpädagoge Günther Philipp hat den Begriff Summarisches Spiel wie folgt definiert:
"Das Reduzieren eines Stücks auf Wesentliches (grobe Formumrisse, Urlinien, Harmoniefolge, wichtige rhythmisch-metrische Schwerpunkte usw.) kann beim summarischen Spiel in unterschiedlichen Graden geschehen. Das "Vereinfachen" erfolgt gleichsam auf verschiedenen Ebenen, wobei die Grundstruktur nicht angetastet wird, jedoch Verzierungen, Füllstimmen, Begleitfigurationen, Verdopplungen und dergleichen mehr oder weniger weggelassen oder zusammengeschlossen werden. (...) Man schält die Grundform der musikalischen Architektur heraus. (Philipp 2003, S. 586)
3. Improvisierendes Üben bei Günter Philipp
Günter Philipp verweist in seinem 2003 erschienenen Buch Klavierspiel und Improvisation bereits auf die Notwendigkeit des differenziellen Übens, ohne den Begriff und die Ausführungen zum Differenziellen Trainingsmodell Wolfgang Schöllhorns kennen zu können:
Prinzipiell sollten die drei folgenden unterschiedlichen Möglichkeiten des Übens einander ergänzen; die übliche Beschränkung auf die erste Art kann heute keinesfalls mehr genügen:
- Es werden durch übendes Wiederholen bestimmte Tonfolgen, Abläufe, Spielbewegungen automatisiert. So entstehen Fertigkeiten, deren Übertragung und Anwendung auf andere Strukturen kaum gelingt. Sie sind auch für das Improvisieren untauglich, weil das unschöpferische starre ‚motorische Diktat‘ dominieren würde.
- Viel bessere Resultate erzielt der Übende durch wechselnde Varianten, also rhythmische, dynamische, Pedal-, Anschlags-, Gestaltung und Einstellungsveränderungen vielfältigster Art (…). Durch sie wird der Transfer auf andere, aber ähnliche Aufgaben leichter ermöglicht. Für das Improvisieren schafft dies eine nützliche Basis, soweit man sich in den Entscheidungen für bestimmte Abläufe beherrscht und auf Spielformeln beschränkt, die bereits automatisiert wurden. Der erarbeitete technische Fundus ist reichhaltiger als bei der üblichen Übungsmethode.
- Optimale Erfolge können wir vom improvisatorischen Üben erwarten. Dieses beschränkt sich nicht auf festgelegte (komponierte) Figuren und ihre Varianten, sondern bezieht das Trainieren von Bewegungszügen, Griff-Folgen, Spielformeln, Kombinationen und Permutationen ein, ohne alle Parameter vorzuschreiben. Vor allem die Tonauswahl soll, unter Beibehalten anderer Merkmale oder Bestimmungsgrößen (z.B. Rhythmus, Dichte, Bewegungsrichtung, Griffstruktur, Zusammenspiel oder Alternieren der Hände) ständig verändert werden. Es sind gleichsam immer neue „Spielregeln“ aufzustellen, die bestimmte Freiräume lassen, in denen sich die Phantasie des Spielers, seine spontane Entscheidung oder auch der (hier legitime!) Zufall einmischen können. Dabei sind also geistige Wendigkeit, blitzschnelles Umschalten und stetige Einschätzung des im jeweiligen Moment Machbaren gefordert. Dies alles ist sehr schwer und und eben gerade deshalb so nützlich; es ist aber jeweils auch nur so schwierig, wie es sich der Übende selbst macht.
Mit der nötigen Erfindungsaufgabe des Schülers oder Lehrers wird das improvisatorische Üben auf allen Ausbildungsstufen vom Anfänger bis zum Virtuosen sinnvoll anwendbar. Man muß nur das Prinzip erfaßt haben und die eigene geistige Trägheit überwinden. Das Abdriften in Übungsweise 1 ist ja immer auch ein Zeichen für mangelnde Anstrengungsbereitschaft, für Bequemlichkeit und schlechte Gewohnheit. Andererseits ist das improvisatorische Üben so abwechslungsreich und interessant, daß eine Übermüdung durch Einförmigkeit und Langeweile kaum auftritt. Die Spielfreude beim Entdecken immer wieder neuer Möglichkeiten schließt psychische Übersättigung weitgehend aus, und der Studierende gewinnt Selbstvertrauen und eine anwendungsbereite Technik, wenn er sich selbst die Probleme stellt und neue pianistische Abläufe herausfindet.
Banale ‚Fingerübungen‘, gefährlich mechanisch von Noten gespielt, können weitgehend eingeschränkt werden. Ohne Vorausdenken, rasches Reagieren und kritisches Hören funktioniert improvisierendes Üben nicht. Es läßt sich sowohl auf spontan selbsterfundene Strukturen (Trainingsmodelle) anwenden wie auf das Werkstudium, wobei schwierige Stellen bzw. Passagen herausgegriffen und variantenreich improvisiert werden, was schließlich dem angestrebten Originalvortrag zugute kommt. Das frei verwandelnde Bearbeiten der Spielprobleme motiviert eher als der übliche einseitige Drill des ‚Einschleifens‘. (Philipp 2003, S. 588-589)
Auch Martin Widmaier bezieht sich in seiner Darstellung des differenziellen Übens auf diese von Günter Philipp genannten unterschiedlichen Übemodelle:
Solche probaten Maßnahmen [gemeint sind Übe-Varianten wie z.B. das Verändern des Tempos, d. Verf.] sind beim variantenreichen Üben eher erwähnenswerte Hauptsache, beim differenziellen Üben eher selbstverständliche Nebensache. Eine differenziell arbeitende Pianistin greift zwar laufend auf Standardvarianten zurück, misst dem improvisierenden und analysierenden Üben aber weit größere Bedeutung bei. (Widmaier 2016, S. 207)
Zur Vertiefung empfiehlt sich die Lektüre der beiden unten genannten Monographien, bei Widmaier insbesondere die Seiten 161–207, bei Philipp insbesondere die Seiten 587–618.
Literatur
- Martin Widmaier: Zur Systemdynamik des Übens. Differenzielles Lernen am Klavier, Schott 2016.
- Günter Philipp: Klavierspiel und Improvisation. Ein Lehr- und Bekenntnisbuch über musikalische, technische und psychologische Grundlagen, Verlag Klaus-Jürgen Kamprad 2003.
Ein weiterer Artikel auf der OMA, der sich mit differenziellem Üben innerhalb von Gruppen beschäftig, ist: Differenzielles Üben mit Gruppen (Schulklassen)