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Die Motette ›Garrit gallus / In nova fert / Neuma‹ aus dem ›Roman de Fauvel‹

Der sogenannte Roman de Fauvel ist in zwei Versionen überliefert. 1317 entstand in Paris die zweite Fassung, von der nur eine einzige Handschrift (= handgeschriebenes Buch) überliefert ist. Eine Seite daraus seht ihr hier:

Eine Seite der zweiten Fassung des Roman de Fauvel von 1317
Quelle: Bibliothèque nationale de France, fr. 146, fol. 36v (=Blatt 36, Rückseite)

Detail: musizierende Spielleute
Bibliothèque nationale de France, fr. 146, fol. 36v | Quelle: Wikipedia.org

Aufgaben

  • Beschreibt das Bild aus dem Roman de Fauvel und überlegt, worum es in diesem „Roman“ gehen könnte. (Eine höhere Auflösung findet ihr hier.)
  • Entwickelt anhand der Abbildung mögliche Fragestellungen für den weiteren Unterrichtsverlauf.

Im Unterschied zur ersten Fassung des Roman de Fauvel enthält die zweite zahlreiche ein- und mehrstimmige Musikstücke (siehe die oben abgebildete Seite). Eines davon ist die folgende dreistimmige Motette, die den komplizierten lateinischen Titel Garrit gallus / In nova fert / Noema trägt. Eine Motette (von frz. mot = Wort) ist eine mehrstimmige Vokalkomposition.

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Philippe de Vitry, In nova fert, Quelle: YouTube

Aufgaben

  • Hört die Motette und äußert euch zu euren Eindrücken.
  • Überlegt, inwiefern sie den Erwartungen entspricht, die durch die oben abgebildete Seite geweckt wurden.

Die Motette Garrit gallus / In nova fert / Noema wurde oft dem Komponisten und Musiktheoretiker Philippe de Vitry (1291–1361) zugeschrieben, stammt aber wahrscheinlich von einem anonymen Komponisten aus seinem Umkreis. In der überlieferten Handschrift ist sie – wie damals üblich – in Einzelstimmen notiert. In der linken Spalte steht die Oberstimme (Triplum von lat. triplo = dreifach), in der rechten die Mittelstimme (Duplum oder Motetus von lat. duplo = doppelt bzw. frz. mot = Wort), im jeweils letzten beschrifteten System über beide Spalten verteilt die Unterstimme (Tenor von lat. tenere = halten):

Eine Seite der zweiten Fassung des Roman de Fauvel von 1317
Quelle: Bibliothèque nationale de France, fr. 146, fol. 44v (= Blatt 44, Rückseite)

Aufgaben

  • Arbeitet heraus, welche Auffälligkeiten die abgebildete Handschrift der Motette zeigt.
  • Überlegt, welche Zusammenhänge zwischen den Bezeichnungen der einzelnen Stimmen und ihrer Rolle innerhalb des Tonsatzes zu erkennen sind.

Die Motette ist in Mensuralnotation notiert, einem Vorläufer unserer modernen Notenschrift. Um 1320 wurden vor allem die folgenden Noten- und Pausenwerte verwendet:

Darüber hinaus wurden auch der Punkt hinter einer Note verwendet, der – wie heute auch – eine Note um die Hälfte ihres Wertes verlängert. Der Anfang der Motette sieht mithilfe von Mensuralnoten und in Partiturform notiert folgendermaßen aus:

Quelle: IMSLP

Aufgaben

  • Vergleicht den Partiturausschnitt der Motette mit ihrer oben stehenden Handschrift.
  • Hört den Anfang der Motette ohne und mit parallelem Verfolgen des Notentextes. Wie lässt sich das Verhältnis von Höreindruck und komponierter Struktur beschreiben?

Grundlage der Motette ist der als Neuma (gr./lat. = „Zeichen“, „Wink“ bzw. „Neume“ als Zeichen zur Notation gregorianischer Choräle) bezeichnete Tenor. Bei ihm handelt es sich nicht – wie es sonst häufig der Fall ist – um eine bereits bekannte Melodie, sondern um eine eigens für dieses Stück entwickelte, 36 Töne enthaltende Tonfolge. Der Komponist kombiniert sie mit einem nur drei verschiedene Notenwerte umfassenden rhythmischen Ablauf. Dieser ist durch einen Wechsel von Dreiteilung (perfekte Teilung) und Zweiteilung (imperfekte Teilung) übergeordneter Notenwerte geprägt, was in moderner Notation u.a. zu einem Wechsel von Dreiviertel- und Zweivierteltakt führt:

Aufgaben

  • Singt die dem Tenor der Motette zugrunde liegende Tonfolge und klatscht die verwendete rhythmische Struktur.
  • Notiert die verwendete rhythmische Struktur dreimal in je einem Notensystem.
  • Übertragt die einzelnen Melodietöne auf die Notenwerte der drei identischen rhythmischen Abläufe.
  • Singt und spielt die so entstehende Verbindung von Tonhöhen und Rhythmen. Sprecht nach dem Musizieren über die unterschiedlichen Wirkungen der Melodie, der rhythmischen Struktur und der Verbindung dieser beiden Gestaltungselemente.
  • Für Fortgeschrittene: Singt bzw. spielt den Tenor parallel zur Aufnahme der Motette. (Tipp: Auf Youtube lässt sich die Ablaufgeschwindigkeit der Audiodatei reduzieren, sodass die Aufgabe leichter zu lösen ist.)

Das hier verwendete kompositorische Verfahren heißt Isorhythmie (isos = gr. „gleich“). Die vorhandene Tonfolge wird als Color (= lat. „Farbe“), der rhythmische Ablauf als Talea (= lat. „Balken“, „Barren“) bezeichnet. Das Prinzip der Isorhythmik wird in der Motette Garrit gallus / in nova fert / Neuma nur im Tenor angewendet, während es in später entstandenen isorhythmischen Motetten teilweise auch in den Oberstimmen zum Einsatz kommt.

Neben dem Tenor lassen sich auch die beiden Oberstimmen in heutige Notation übertragen, sodass eine leichter nachvollziehbare Partitur entsteht:

Aufgaben

  • Vergegenwärtigt euch das Prinzip der Isorhythmie und versucht, es bei nochmaligem Hören der Motette nachzuvollziehen.
  • Hört erneut den Anfang der Motette erneut ohne und mit parallelem Verfolgen des Notentextes und präzisiert eure frühere Beschreibung des Verhältnisses von gehörten und komponierten Strukturen.
  • Für Fortgeschrittene: Studiert sukzessive die Rhythmik der beiden Oberstimmen ein. Singt/spielt das Stück in folgenden Gruppen: Gruppe 1: Singen des Tenors (auf "na"), Gruppe 2: Spielen der Rhythmik des Duplums (mit den Händen auf den Knien), Gruppe 3: Spielen der Rhythmik des Triplums (mit den Fingern auf die Tischplatte). Achtet dabei auf die unterschiedlichen Wirkungen, die durch den Wechsel von Drei- und Zweiteilung der jeweils längeren Notenwerte entstehen.

Die für die Motette charakteristische Verwendung von ternärer und binärer Teilung rhythmischer Werte innerhalb der Mensuralnotation stellt eine musikgeschichtliche Neuerung dar. Philippe de Vitry hielt ihre musiktheoretischen Grundlagen in seinem 1322 erschienenen Traktat Ars nova erstmals fest. Der Begriff Ars nova (lat. = „neue Kunst“) etablierte sich fortan für diese neue, experimentelle Musik, die von der Ars antiqua (lat. = „alte Kunst“ – diese umfasst sämtliche zuvor entstandene Musik) abgegrenzt wurde. Der Roman de Fauvel gilt – neben seinen literarischen Qualitäten – als wichtigste Sammlung von Kompositionen der Ars nova.

Wie eingangs erwähnt, ist die Motette Garrit Gallus / In nova fert / Neuma als Bestandteil der zweiten Fassung des Roman de Fauvel überliefert. Dieser umfasst zwei Bücher und wird dem am Pariser Königshof tätigen Notar Gervès du Bus zugeschrieben. Obwohl dieser – ebenso wie der offenbar in das Projekt eingebundene Philippe de Vitry – in höchsten Adelskreisen verkehrte, handelt es sich bei seinem Text um eine beißende Satire auf die damalige höfische Gesellschaft. Fauvel (von frz. „fauve“ = „fahlgelb“ bzw. „Falbe“, ein Pferd mit hellem Körper und dunklen Haaren an Mähne und Schweif, oder von altfranzösisch „faus“ = „falsch“, „schlecht“ und „vel“ = „treulos“). Fauvel wird in der Handschrift des Romans sogar als König dargestellt:

Der Name Fauvel ist ein Akronym (ein aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter zusammengesetztes Kurzwort), in dem sich negative Charaktereigenschaften miteinander verbinden:

Flaterie (Schmeichelei),
Avarice (Geiz),
U/Vilanie (Niederträchtigkeit),
Variété (Unbeständigkeit),
Envie (Neid),
Lâcheté (Feigheit)

Auch die Motette Garrit gallus / In nova fert / Neuma hat politische Hintergründe. Die Texte der beiden Oberstimmen zeichnen sich einerseits durch zahlreiche Bezugnahmen auf die griechische und römische Mythologie sowie auf die Bibel aus, spielen andererseits jedoch auch auf Geschehnisse um Philipp IV. (den Schönen, 1268-1314) und seinen einflussreichen Kammerherrn Enguerrand de Maringny (um 1260–1315) an.

Der im Triplum vertonte Text „Garrit gallus“ (lat. = „Es kräht der Hahn“, auch zu verstehen als: „Es plappert der Franzose“) weist auf intensive Lautäußerungen hin. Dagegen zitiert der Beginn des Duplums (bzw. Motetus) den Anfang der Metamorphosen des römischen Dichters Publius Ovidius Naso (genannt Ovid). Dieses 1–8 n. Chr. entstandene Werk gilt als klassisch gewordener literarischer Neubeginn, wie ihn auch der in die Motette übernommene, hier leicht abgewandelte Satz „In nova fert animus mutatas dicere formas“ (lat. = „Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue Körper, so treibt mich der Geist“) nahelegt.

Michele Pasotti deutet die Motette als Spiegelbild der musikgeschichtlichen Situation zu ihrer Entstehungszeit. Dabei bezieht er den Hahn (bzw. Gallier) auf Francesco Landinis (ca. 1325–1397) Madrigal Si dolce non sono, in dem dieses Bild ebenfalls zu finden ist, und nimmt zudem Philippe de Vitry als Autor der Motette Garrit gallus / In nova fert / Neuma an:

Er [der von Landini vertonte Text] erzählt von einem Hahn („gallus“, ein Wort, das auch Gallier, also Franzose bedeutet), dessen Gesang schöner und süßer ist, als alles, was Orpheus, Apollo, Philomena (die Nachtigall) oder Amphion hervorbrachten. Alle mythischen „Autoritäten“ werden von einer neuen Gesangsart überflügelt, die aus den Wäldern kommt und davor nie zu hören war: Es ist die neue Kunst, die Ars Nova, und dieser Gallier ist Philippe de Vitry. [...] Letzterer öffnete den Weg, indem er die Ars Nova mit einer Motette begann, die die ersten zwei Verse von Ovids Metamorphosen zitierte: „In nova fert animus mutatas dicere formas” („Mein Geist drängt mich, Gestalten zu beschreiben, die sich in neue Körper verwandelten.“) Eigentlich beginnt die gesamte Ars Nova unter dem Zeichen von Verwandlung, von radikalen Änderungen und einem experimentellen Verhalten, das vielleicht ihre größte Stärke ist.

In: Booklet zur CD: Michele Pasotti: Metamorfosi trecento. La fonte musica, S. 25 f.

Die herausragende musikgeschichtliche Stellung isorhythmischer Motetten der Ars nova fassen Ludwig Finscher und Annegrit Laubenthal zusammen, wobei sie diese als „höchste in der Hierarchie der musikalischen Gattungen“ der damaligen Zeit ansehen, die sich durch eine besondere „subtilitas“ (lat. = „Feinheit“) auszeichnet:

Im Typus der isorhythmischen Motette [...] zeigt sich diese „subtilitas“ vor allem auf zwei Ebenen: in der Kombination eines Choralausschnittes mit dazu passenden präexistenten oder ad hoc gedichteten Texten und im Aufbau des Werkes aus metrisch-rhythmisch identischen oder einander proportionalen Abschnitten. Die Kombination mehrerer gleichzeitig erklingender, einander kommentierender und gemeinsam auf den Choralausschnitt Bezug nehmender Texte (wobei Ausmaß und Intensität dieser Bezüge allerdings sehr unterschiedlich sein konnten) entsprach mittelalterlichen Denkformen [...] – ebenso wie der hierarchische Aufbau der Komposition vom Choralausschnitt im Tenor aus, dem „fundamentum relationis“ [lat. = „Bezugsgrundlage“], und wie die Ordnung des Ganzen nach Zahlen und Proportionen, durch welche die Motette zum Inbegriff der musica wurde, die ihrerseits Abbild der nach Zahl, Maß und Gewicht geordneten Welt war.

Ludwig Finscher und Annegret Laubenthal, „‚Cantiones quae vulgo motectae vocantur‘. Arten der Motette im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 3, Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts, Sonderausg. Laaber 1996, S. 284.

Aufgaben

  • Entwickelt auf der Grundlage der oben stehenden Zitate eine zusammenfassende Deutung der Motette Garrit gallus / In nova fert / Neuma.
  • Fasst die wichtigsten Informationen dieser Lerneinheit übersichtlich zusammen.
  • Geht eure eingangs formulierten Fragestellungen nochmals durch und klärt offen gebliebene Fragen.
  • Vergleicht im Anschluss an diese Lerneinheit die Motetten Garrit gallus / In nova fert / Neuma und Nuper rosarum flores (von Guillaume Dufay).