I-IV-I oder V-I-V; wie heißt denn das? Hat das 'nen Begriff? Die Musikexperten, mal bitte in die Kommentare: wie heißt das, was ich jetzt hier spiele!
Marti Fischer, Wie geht eigentlich ABBA, Timecode 6:01–6:19
Inhalt
Das Pattern
Anlässlich eines Workshops und Konzerts an der Hochschule für Musik und Theater München hat Marti eine Frage wiederholt, die er bereits in seinem ABBA-Video gestellt hat. Hier findest du Erklärungen für das von Marti angesprochene Phänomen sowie einen Vorschlag, wie sich das Pattern sinnvoll benennen lässt.
Quelle: YouTube
In Notenschrift sieht das Pattern, das Marti spielt, (ungefähr) so aus:
Funktionen oder Stufen
Reduziert man das Pattern auf seine harmonische Substanz und vereinfacht es, indem man die poptypische Rhythmisierung vernachlässigt, ergibt sich das folgende Harmonieschema:
Die Funktionssymbole (im Beispiel oben zwischen den Systemen) beschreiben das Pattern in Bezug auf die Tonart D-Dur. Und Marti verwendet die Stufenziffern (im Beispiel oben über den Systemen) wie die Symbole der Funktionstheorie. Deswegen sagt Marti in dem Video:
... das ist immer so Stufe I, IV, I oder V, I, V ...
Dass die Wendungen I-IV-I und V-I-V sich ähnlich sind, wird deutlich, wenn wir die Stufensymbole nicht zu einer Tonart, sondern zu dem jeweiligen Akkord ins Verhältnis setzen (im Denken die Symbole also auf den jeweils erklingenden D-Dur- oder A-Dur-Akkord beziehen). Dann ergibt sich:
Doch diese Gedankenübung ist kompliziert, die Ähnlichkeit der Wendungen lässt sich einfacher veranschaulichen.
Wechselquartsextakkord
Einfacher wird es, wenn wir – wie im Generalbass – Ziffern zur Chiffrierung verwenden. Die Ziffern zeigen an, welche Intervalle vom Basston ausgehend für einen Akkord gegriffen werden müssen:
Jetzt sieht man die Ähnlichkeit der beiden Wendungen anhand der Ziffern auf den ersten Blick. Von der Stimmführung her – also aus Perspektive des Kontrapunkts – lässt sich die Wendung , die Marti interessiert, als einfache Wechselnoten-Bewegung von zwei Stimmen zum nächsthöheren Ton und wieder zurück verstehen (a/fis → h/g → a/fis oder e/cis → fis/d → e/cis). In Akkorden gedacht – also aus Perspektive der Harmonielehre – wechselt ein grundstelliger Akkord zu einem Quartsextakkord und wieder zurück. Aus diesem Grunde heißt dieses Phänomen:
Dieser Begriff hat gegenüber anderen Begriffen den Vorzug, dass er lediglich die Intervalle beschreibt, die gegriffen werden müssen, um den Klang zu erzeugen. Verwendet man dagegen Funktions- oder Stufenbegriffe, müssen die Akkorde in Bezug auf den Kontext gedeutet werden, weshalb man für den gleichen Griff in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Benennungen bräuchte (oder ein komplizierteres Denken), was die Sache schwieriger macht, als sie eigentlich ist.
Halbschluss
Schlusswirkungen
Die Wirkung des ganzen Patterns ist öffnend und für diese Wirkung ist die abschließende Dominante verantwortlich. Genauso wichtig wie die Harmonik ist allerdings die Stimmführung. Um das zu veranschaulichen, reduzieren wir den Satz nur auf die Oberstimme und den Bass. Die Zahlen in der folgenden Abbildung geben dabei an, welche Stufen der D-Dur-Tonleiter in der Oberstimme erklingen, mit d = 1, e = 2, fis = 3, g = 4, a = 5 usw.:
Das Beispiel veranschaulicht, dass für die öffnende Wirkung des Abschlusses die Bewegung 3 → 2 (bzw. die Töne fis → e) in Verbindung mit einer metrisch schweren Dominante A-Dur wichtig sind. Das Zusammentreffen von Harmonik und Stimmführung in dieser Art haben wir in der Geschichte der abendländischen Musik als Halbschluss hören gelernt.
Ändern wir diese Stimmenbewegung am Ende des Patterns zu 2 → 1 bzw. schließen wir mit den Tönen e → d, dann wirkt das Ende in Verbindung mit einer Tonika schließend bzw. wir hören einen Ganzschluss. In dem folgenden Beispiel kannst du die Stimmenbewegungen und damit einhergehenden Schlusswirkungen vergleichen:
Für Popmusik ist das offene Ende bzw. der Halbschluss am Ende von Phrasen typisch, denn auf diese Weise kann sich einer Taktgruppe gleich die nächste anschließen, ohne dass eine große Zäsur oder Unterbrechung des Verlaufs entsteht. Deswegen endet Popmusik oftmals mit einem Fade-out, weil man mit öffnenden Taktgruppen nicht ohne weiteres zu einem befriedigenden Abschluss kommt.
Kompositionsgeschichtes
Zum Beispiel: Mozart
Schauen wir uns die Vorläufer des Wechselquartsextakkords bei ABBA in Verbindung mit einem Halbschluss in der Musik des 18. Jahrhunderts an. Das folgende Beispiel zeigt die Herbeiführung des Halbschlusses in der Ausgangstonart (Überleitung) im Kopfsatz der Klaviersonate KV 330 in C-Dur von W. A. Mozart. In den mittleren Systemen findest du die Noten Mozarts, die für eine bessere Vergleichbarkeit mit den vorangegangenen Beispielen (und unter Vernachlässigung von Artikulationszeichen) nach D-Dur transponiert worden sind. Im obersten System findest du die Akkorde für das Beispiel (rechte Hand), im untersten die Bassstimme (linke Hand) und die Ziffern:
Das Beispiel zeigt zuerst den Wechselquartsextakkord über d (wie bei ABBA), dem ein dominantischer Halbschluss folgt. Beim abschließenden A-Dur fehlt allerdings der Grundakkord vor dem Quartsextklang, weswegen man hier von einem Quartsextvorhalt (vor der Dominante) und nicht von einem Wechselquartsextakkord sprechen würde.
Der Wechselquartsextakkord kommt aber auch bei Mozart in halbschlüssigen Dominanten vor, z.B. in seiner berühmten Sonate facile KV 545. Für die bessere Vergleichbarkeit wurde auch dieses Beispiel nach D-Dur transponiert:
In diesem Beispiel können wir (etwas versteckt) alles erkennen, was im Vorangegangenen besprochen worden ist: den Wechselquartsextakkord im Halbschluss A-Dur sowie die Oberstimmenbewegung 3 → 2 zum A-Dur-Akkord des letzten Taktes.
Mozart hat den Wechselquartsextakkord mit nachfolgendem Halbschluss bereits mit 4 Jahren spielen gelernt, was sein Vater im Nannerl-Notenbuch stolz dokumentiert hat. Er schrieb unter ein Trio:
Diesen Menuett und Trio hat der Wolfgangerl dem 26ten Januarij 1761 einen Tag vor seinem 5ten Jahr um halbe 10 Uhr nachts in einer halben Stund gelernet.
Zur besseren Vergleichbarkeit siehst du den Anfang des Trios wieder in D-Dur notiert, damit du es besser mit den vorangegangenen Beispielen vergleichen kannst:
(Der Triller über den punktierten halben Noten im zweiten und vierten Takt wurde weggelassen, weil er automatisiert abgespielt total bescheuert klingt.)
Interpretiert man das zweite Viertel des vorletzten Taktes als Durchgang, können wir in dem Trio eine Gestaltung mit dem Wechselquartsextakkord (bzw. der I-IV-I-Harmoniefolge) mit nachfolgendem Halbschluss erkennen. Das wird deutlich, wenn wir auch dieses Beispiel auf die Akkordsubstanz reduzieren:
Es wurde bereits erwähnt, dass das Erklingen der Tonleiterstufen 3 → 2 (mit den Unterterzen d → cis) beim Übergang zur Dominante sehr wichtig ist (in dem Trio verstecken sich diese Noten in der Verzierung der rechten Hand). Wenn wir auf die Funktion der Wechselquartsextakkorde achten, können wir feststellen: Zum ersten Mal erklingt der Wechselquartsextakkord im dritten Takt. Durch das Pendeln erhalten der dritte Takt (Wechselquartsextakkord) und fünfte (wieder D-Dur) einen kleinen Nachdruck bzw. neuen Schwung. Danach erklingt der Wechselquartsextakkord immer zur letzten Zählzeit eines Taktes, wodurch jeder Takt neu angestoßen wird. Der Wechselquartsextakkord beschleunigt daher den harmonischen Rhythmus (bzw. die Musik) von der Zweitaktigkeit zur Eintaktigkeit und drängt auf diese Weise in den Halbschluss.
Die Melodie pendelt dabei zwischen dem fünften und sechsten Skalenton (in D-Dur also: a → h → a). Dadurch wirkt das a wie ein Plateau, von dem aus eine Abwärtsbewegung (a → g → fis → e) in den Halbschluss führt. Auch die Struktur der Oberstimme hat also den Halbschluss am Ende der Taktgruppe zum Ziel.
Unterschied
Abgesehen von der Rhythmik, die in Popmusik natürlich ganz anders funktioniert als bei Mozart, liegt der Unterschied der Beispiele darin, dass man im ABBA-Stil die Wechselquartsextakkorde (zumindest die der Tonika) als metrisch schwer empfindet:
Bei Mozart hingegen erklingen die Wechselquartsextakkorde sehr häufig auch auf metrisch leichterer Zeit, wie z.B. in den Takten fünf und sechs des Trios:
Nur der Quartsextvorhalt, den wir oben erwähnt hatten: der erklingt, egal ob bei Mozart oder in der Popmusik (wo er recht selten ist), immer auf einer metrisch schweren Zeit.
Bilder

Die Funktion des Wechselquartsextakkords kann man sich wie die der Peitschenhiebe bei einem Kinderdrehkreisel vorstellen. Jeder Wechsel zum Quartsextakkord und zurück hat die gleiche Wirkung wie ein Peitschenhieb, der den Kreisel beschleunigt, damit er sich weiter drehen kann. Wie der Peitschenhieb den Kreisel bewegt, so halten die Wechselquartsextakkorde Musik in Bewegung.
Egal, wie man sich die Dynamik eines Wechselquartsextakkords vorstellt: als Peitschenhieb, der die Musik antreibt, als Einatmen, dem ein Ausatmen oder ein Hochheben, dem ein Fallenlassen folgt, usw. – allen Bildern ist gemeinsam, dass etwas in Bewegung ist. Und der Wechselquartsextakkord ist ein Mittel, um Musik für unser Hören in Bewegung zu halten, und zwar egal, ob es sich um eine Musik im Stil Mozarts oder um eine im Stil von ABBA handelt.
ABBA
Und zum Schluss von Marti gespielt:
Quelle: YouTube