Sequenzen und die Funktionstheorie

In diesem Tutorial findest du Überlegungen, warum die Chiffrierung von Sequenzen mithilfe von Symbolen der Funktionstheorie unangemessen sein kann. Gleichzeitig wird dir an einem Beispiel von Frédéric Chopin gezeigt, dass sich auch komplizierte chromatische Harmonieverläufe über einfache Satzmodelle verstehen lassen.

Inhalt

Die Quintfallsequenz aus Sicht der Funktionstheorie

In der »Funktionellen Harmonielehre« von Hugo Distler von 1940 findet sich eine Aufgabe (Kapitel XVII, Aufg. 1), in welcher der folgende Bass mit Hilfe von Funktionssymbolen ausgesetzt werden soll:

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Es ist schwierig, sich über die Funktionszeichen die konkreten Klänge vorzustellen. Darüber hinaus geben die Funktionssymbole keine Auskunft zur Stimmführung, so dass ein Arbeitsweg nach Distlers Harmonielehreaufgabe für Ungeübtere darin bestanden haben dürfte, sich zuerst über die Funktionssymbole die richtigen Töne zu suchen und anschließend für diese Töne eine korrekte Stimmführung zu überlegen. Das folgende Notenbeispiel zeigt eine mögliche Lösung für Distlers Aufgabenstellung

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Das Ergebnis ist ein gängiges Sequenzmodell Quintfallsequenz, das mit einer Kadenz beschlossen wird. Diese Sequenz hätte auch wie folgt chiffriert werden können:

In diesen beiden alternativen Lösungen besteht ein Problem darin, dass dem D9-Akkord ohne Grundton im zweiten Takt keine Tonika, sondern ein Tonikavertreter folgt. Da streng genommen die Funktion der Dominante die Erwartung einer Tonika erzeugt, muss der Eintritt des Tonikagegenklangs (Tg) als Trugschluss im weiteren Sinne bezeichnet und die enttäuschte Erwartungshaltung durch eckige Klammern [T] zum Ausdruck gebracht werden. Doch die Regelmäßigkeit der Quintfallsequenz und ihre Voraushörbarkeit widerspricht der Kennzeichnung als Trugschluss. Darüber hinaus lässt sich noch ein weiteres Problem für alle vorangegangenen Funktionschiffrierungen benennen: In der Funktionstheorie weisen Akkorde im Sekund- und Quintabstand eine funktionale Differenz auf, Akkorde im Terzabstand tendieren hingegen zur funktionalen Identität:

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In jeder Chiffrierung einer Quintfallsequenz oben durch Funktionssymbole tritt jedoch an einer Stelle für zwei Akkorde im Quintabstand die gleiche Grundfunktion auf (D−Dp im ersten, Tg−Tp im zweiten und Sg−Sp im dritten Beispiel). Um dieses Problem zu umgehen, wird nicht selten zur Beschreibung von Sequenzen auf die Verwendung von Funktionssymbolen verzichtet und auf Stufensymbole zurückgegriffen. Mit Hilfe von Stufensymbolen lassen sich die Akkorde der Quintfallsequenz ohne die funktionale Deutung der Klänge chiffrieren:

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Die Quintfallsequenz als Stimmführungsmodell

Eine weitere Beschreibungsmöglichkeit besteht darin, die oben gezeigte Klangfolge als mehrstimmige Ausformung eines Stimmführungsmodells aufzufassen: der Quintfallsequenz mit 7-6-Synkopenkette. Diese Sichtweise verdankt sich in erster Linie Impulsen der historischen Musikwissenschaft, wie sie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von den Musikwissenschaftlern Ernst Apfel und Carl Dahlhaus ausgegangen sind:

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Neu an dieser Sichtweise war im 20. Jahrhundert die Vorstellung, dass satztechnische Modelle eine ›Geschichte‹ haben und − darin vergleichbar der Sprache − wandelbar sind. Vergleichbar der Sprachforschung liegt es in der Musikforschung nahe, diese geschichtlichen Wandlungen zu untersuchen und aus den Differenzen stilistische und ästhetische Erkenntnisse zu gewinnen.

Ein Analysebeispiel: Frédéric Chopin

Das satztechnische Modell der 7−6-Synkopenkette ist also nicht nur für die musikalische Analyse der Werke von Arcangelo Corelli, Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadé Mozart geeignet, sondern kann auch zur Beschreibung ›romantischer‹ und expressiv-chromatischer Harmoniefolgen wie zum Beispiel in der Mazurka op. 6 Nr. 1 in fis-Moll von Frédéric Chopin herangezogen werden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass Vorzeichen in einem ursprünglichen Sinn als Chromatisierung bzw. Verfärbung (griech. χρομα = Farbe) eines nicht-chromatischen (diatonischen) Gerüstsatzes verstanden werden:

Frédéric Chopin, Mazurka Op. 6, Nr. 1 in fis-Moll, Klavier: Henryk Sztompka, Muza Polskie Nagrania XL 9200, Polen 1960, Lizenz: Public Domain.

Das satztechnische Modell der 7-6-Synkopenkette ist hier nicht nur beim Verständnis der Harmonik hilfreich, sondern verdeutlicht auch den Spannungsverlauf des Abschnitts, denn die Mechanik der 7−6-Synkope verursacht eine Bewegung, die erst in der Oktave der fis-Moll-Tonika bzw. der thematischen Wiederholung der Anfangstakte zur Ruhe kommt. Die Art der Chromatik, also warum die Vorzeichen von Chopin genau in dieser Abfolge und nicht in einer anderen Anordnung verwendet worden sind, vermag das Satzmodell jedoch nicht zu erklären. Hierfür lassen sich ästhetische, dynamische, funktionale oder andere Aspekte zur Erklärung heranziehen.

Der Parallelismus aus Sicht der Funktionstheorie

Auch dem Anfang der Mazurka liegt eine Sequenz zugrunde. Diese lässt sich durch Funktionssymbole wie folgt chiffrieren:

Als Satzmodell kann man die Sequenz als parallele Terzen mit einem Zick-zack-Bass (cis-fis-e-a) verstehen und wie folgt notieren:

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Dieses Satzmodell wird auch als Pachelbel-Modell bezeichnet, weil sich mit dem Modell abwärts der berühmte Kanon von Pachelbel recht gut verstehen lässt. In der Fachsprache wird die Sequenz auch Dur-Moll-Parallelismus (oder kurz: Parallelismus) bezeichnet. Der ganze Beginn bzw. die Takte 1–10 der Mazurka Chopins lässt sich daher mithilfe der beiden folgenden Modelle beschreiben (Parallelismus und Quintfallsequenz):

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Frédéric Chopin, Mazurka Op. 6, Nr. 1 in fis-Moll, Klavier: Henryk Sztompka, Muza Polskie Nagrania XL 9200, Polen 1960, Lizenz: Public Domain.

In der Analysepraxis an Musikhochschulen wird − insbesondere im Umgang mit Sequenzen − die Funktionstheorie oftmals als unzureichend empfunden. Ein Vorteil der Beschreibung von Sequenzen über Satzmodelle besteht darin, dass in der Analyse von Anfang an mit einfachen Notenbildern (Gerüstsätzen) gearbeitet werden kann. Das erleichtert die Ausbildung einer Klangvorstellung für musikalische Phänomene, die sich über abstrakte Chiffrierungssysteme nur ungleich schwieriger erlernen lässt.