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Initiiert wurde diese Formenlehre für den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen durch das OpenBook Formenlehre von Ulrich Kaiser. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist es auf der Open Music Academy für die kollaborative Zusammenarbeit freigegeben. Hilf mit es aktuell zu halten, zu erweitern und zu verbessern!
Die Aufgaben für Schülerinnen und Schüler zu dieser Unterrichtseinheit finden Sie hier.
Zum musikalischen Hören
Zum musikalischen Hören
Musikalisches Hören ist ein sehr komplexer Vorgang, für den Sozialisation, musikalische Erfahrung bzw. musikalisches Wissen von großer Bedeutung sind. In einem Handbuch der Musikpsychologie schreibt Herbert Bruhn dazu:
Die Menschen nutzen in der Wahrnehmung nie alle Informationen aus, die die physikalische Umwelt ihnen biete. Der Wahrnehmende bricht die Informationsverarbeitung ab, sobald das Ergebnis ausreichend präzise erscheint, um eine Handlungsentscheidung zu treffen. Die Umwelt wird nicht psychisch im Verhältnis 1:1 repräsentiert, sondern in Form eines mentalen Modells, das der physikalischen Welt nicht unbedingt entsprechen muss. Ein mentales Modell lediglich effektive Prozeduren für den Umgang mit der Welt bieten.
Herbert Bruhn, »Tonpsychologie - Gehörpsychologie - Musikpsychologie«, in: Herbert Bruhn, Rolf Oerter, Helmut Rösing (Hg.), Musikpsychologie. Ein Handbuch, Harnburg, 3. Aufl. 1997, S. 445−446.
Bruhn geht davon aus, dass Musikhören
als eine aktive Konstruktion [...], als eine Art erfahrungsgeleitetes Problemlösen anzusehen ist. Beim Vorgang des Musikhörens wird prozedurales Wissen [...] wirksam, das erlernt werden muss [...].
ebd. S. 542.
Was wir beim aktiven Hören von Musik erkennen, ist also in hohem Maße davon abhängig, welche erlernten und im Langzeitgedächtnis gespeicherten Wahrnehmungsschablonen, Schemata oder Prototypen zur mentalen Informationsverarbeitung uns zur Verfügung stehen. Der Musikwissenschaftler Peter Faltin schreibt hierzu:
Musikalische Sinnzusammenhänge sind keine substantiellen, sondern funktionale Qualitäten akustischer Signale, denn ästhetische Wahrnehmung ist kein Registrieren von Reizen, sondern deren Formung in Zusammenhänge, in denen die Elemente nach der Funktion, die sie zu erfüllen vermögen, ihre entsprechenden Bedeutungen erlangen [...] Syntaktische Kategorien, wie Wiederholung, Kontrast, Umwandlung, Unähnlichkeit, Fortspinnung, Zusammenhangslosigkeit, Entwicklung, Reihung, Verschiedenheit usw. sind extern bedingte Erwartungsmuster, in die sich das akustische Material entweder einfügt oder nicht einfügt.
Peter Faltin, »Musikalische Syntax. Ein Beitrag zum Problem des musikalischen Sinngehaltes«, in: Archiv für Musikwissenschaft, 34 (1977), S. 5.
Faltin nennt hier verschiedene Kategorien zum Vermessen einer musikalischen Wirklichkeit. Clemens Kühn hat in seiner Formenlehre der Musik davon fünf Kategorien eine prominente Stellung eingeräumt (Wiederholung, Variante, Kontrast, Veschiedenheit und Beziehungslosigkeit), drei Kategorien sind für die Formenlehre der Musik zwischen 1650 und 1850 von besonderer Bedeutung: Wiederholung, Variante und Kontrast.
Hörbeispiele
1. Hörbeispiel: Impromptu in As-Dur D 899, Nr. 4 von Franz Schubert
Der Beginn des Impromptus in As-Dur D 899, Nr. 4 von Franz Schubert ist durch sechstaktige Phrasen geprägt, die aus zwei in Motivik und Klanglage gegensätzlichen Abschnitten bestehen. Den ersten Abschnitt (A) charakterisiert eine schnelle Dreiklangsbrechung, die in hoher Lage beginnt und wie ein leichtes Perlen wirkt, der kontrastierende Abschnitt (B) besteht dagegen aus einem homophonen, dissonanzreichen Satz in tieferer Lage. Die Dissonanzen des dominantischen B-Abschnitts (None und Septime) führen harmonisch in die nächste Phrase.
Wird die Wiederholung der Abschnitte erkannt, gelingt es, die Transposition (und Transformation) der Abschnitte als Variante des ersten Sechstakters zu erkennen. Harmonisch beginnt das Impromptu in as-Moll, die harmonische Entwicklung lässt sich über das Satzmodell Parallelismus verstehen. Die Stationen des Parallelismus lauten: Es-Dur / as-Moll (T. 1−10), Ges-Dur / Ces-Dur (T. 11−23, ab T. 18 wegen der Rückmodulation enharmonisch vereinfacht als H-Dur notiert).
2. Hörbeispiel: Heinrich Schütz, »Die mit Tränen säen« (aus: Geistliche Chormusik 1648, Nr. 10)
Auch der Beginn der Motette »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten« aus der Geistliche Chormusik 1648 ist durch auffällige Kontraste geprägt. In diesem Fall wechseln sich zweimal ein gerades Tempus mit einem triplierten ab (a-b-a-b), wobei der Charakter der Abschnitte mit dem Textinhalt korrespondiert:
In einer weitergehenden Deutung könnte der Anfang der Motette als Antithesis oder Antitheton verstanden werden. Diese Figur wird in Praecepta des 17. und 18. Jahrhunderts erwähnt (z.B. von Kircher, Mattheson, Scheibe, Spiess und Forkel). In dem ersten deutschsprachigen Musiklexikon modernen Typs mit Sachbegriffen sowie Personenartikeln schreibt Johann Gottfried Walther (1684–1748) zum Antitheton:
Antitheton, ist ein musicalischer Satz, wodurch solche Sachen, die einander contrair und entgegen sind, exprimiert werden sollen. Z.E. ich schlaffe. aber mein Herz wachet, u.d.g.
Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothek, Leipzig 1732, S. 40.
(Die Noten der Motette von Heinrich Schütz können Sie mitlesen, wenn sie nach dem Starten des Sounds (oben) den Vollbildmodusdes des Videos aktivieren oder hier eine Notenausgabe herunterladen).
3. Hörbeispiel: J. S. Bach, Gavotte aus der Partita für Violine solo BWV 1006
Im Hinblick auf das Erkennen von Wiederholungen ist das nächste Beispiel komplexer, da diese anhand von einer motivischen Gestaltung erkannt werden müssen. Bei dem Beispiel handelt es sich um ein Rondo (»Gavotte en Rondeau«) wobei Bach den Refrain nach dem ersten Erklingen wiederholt. Da das Beispiel nach der Wiederkehr des Refrains nach dem ersten Couplet abbricht, lässt sich das Hörbeispiel als a-a-b-a-Form beschreiben.
J. S. Bach, Partita in E-Dur BWV 1006, III. Gavotte. Violine: Sebastian Bohren
Quelle: YouTube
4. Hörbeispiel: J. Haydn, Sinfonie in G-Dur Hob.I:100, 1. Satz, Allegro
Die Form des Anfangs des Kopfsatzes der Sinfonie in G-Dur Hob.I:100 von Joseph Haydn erschließt sich auf einer ersten Ebene bereits über die Instrumentation. Einem periodischen Hauptsatz, dessen Vordersatz allein von den Holzbläsern und dessen Nachsatz nur von den Streichern gespielt wird, schließt sich ein Tutti an, das in den Seitensatz führt. Der Seitensatz ist motivisch-thematisch (monothematische Sonatenhauptsatzform) und von der Instrumentation an den Hauptsatz angelehnt, so dass das Hörbeispiel mit einem Holzbläsersatz endet.
5. Hörbeispiel: J. Brahms, Sinfonie in c-Moll Op. 68, 1. Satz, Einleitung
Die vier Abschnitte der Einleitung vermitteln sich auf verschiedenen Ebenen: Harmonisch folgt einem ersten tonikalen Abschnitt ein dominantischer und in jedem dieser Abschnitte wechseln ein Tutti im Forte mit einer leise gehaltenen Passage, in der die Holzbläser dominieren, deren Spiel von den Streichern im Pizzicato begleitetet wird. Neben detaillierten Beobachtungen lässt sich die vierteilige Form jedoch schon allein am Spiel der Pauke erkennen (Forte mit Pauke - Piano ohne Pauke - Forte mit Pauke - Piano ohne Pauke).