Formenlehre: Einheit 6 – Barock: Geistliche und weltliche Vokalmusik

Oper, Oratorium, Kantate, Rezitativ und Arie, Reihungsformen; vierstimmiger Satz – PDF


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Vokalgattungen des Barock

Monodie (neuartiges satztechnisches Konzept ab etwa 1600)

 

prima prattica

seconda prattica

Vokales Konzertieren: solistische Singstimme(n) mit Generalbass-Begleitung
stile recitativo: vom Text geprägte Gesangslinie, deklamierend oder arienhaft

streng polyphon
motettischer Stil mit Imitation

frei, affektbetont
solistisch konzertierend

Barocke Oper
Als szenische Ausdrucksform der Monodie begründet durch die Florentiner Camerata: Vincenzo Galilei, Giulio Caccini, Iacopo Peri etc.
Libretti: Stoffe der griechischen Antike sind vorherrschend (zB: Orpheus-Mythos, Odyssee); Librettisten: Ottavio Rinuccini, Alessandro Striggio
Italienischer Stil (Venedig ab Anfang des 17. Jh., Neapel ab Mitte des 17. Jh.) und französischer Stil (Paris ab Mitte des 17. Jh.) konkurrieren
Subgattungen: opera seria / dramma per musica bzw. tragédie lyrique: ernste Libretti; opera buffa bzw. opéra comique, semi-opera: humorvolle Libretti
Wendepunkt im 18. Jahrhundert: Glucks Reformoper, Betonung der Gleichwertigkeit von Wort und Musik
weitere Entwicklungen ab dem 19. Jahrhundert: romantische Oper, grand opéra, Musikdrama, Operette, Musical

Oratorium

Oratorische Passion

Kantate bzw. Vokalconcerto

Geistlich-konzertantes Gegenstück zur Oper
Text: Bibelverse oder poetische Neudichtung
Besetzung: Chor, Solisten, Instrumente

Gegenstand: die Leiden Christi
Vertonung eines Evangelientexts
(evtl. durch Neudichtungen ergänzt)

Mehrteilig, geistlich oder weltlich
Besetzung: Solisten, evtl. Chor, Instrumente
Subtypen: Choralkantate / Psalmkantate

Nummern in Opern und Oratorien

 

Satztypen

Merkmale

   1   

Rezitativ

Ausführung als secco (nur mit Generalbass) oder accompagnato (mit obligaten Instrumenten)
Rhythmik: metrisch gebunden notiert, aber frei ausgeführt; Harmonik: bewegt, modulationsreich
viel Text (im Oratorium: Evangelium oder andere Bibelpassagen), Handlung wird vorangetrieben

2

Arie, Duett, Terzett

Ritornellform oder Liedform, klare Struktur; typisch: Da-capo-Arie mit Reprise;
wenig Text mit meist vielen Wiederholungen, meist Neudichtungen zeitgenössischer Librettisten
Minimalbesetzung: solistische Singstimme(n) mit Generalbass, oft auch obligate Instrumente

3

Arioso

Liedhaftes Vokalsolo, stilistisch und formal zwischen Rezitativ und Arie angesiedelt

4

Choral

In Oratorien und Kantaten: vierstimmiger Satz eines (protestantischen) Kirchenliedes
Grundlage: Texte und Melodien meist aus Frühbarock oder Renaissance, seltener Neudichtungen
auch hybride Satztypen möglich: zB in Arien / Chöre eingeflochten, Choralvariationen mit cantus firmus

5

Chor

Freier mehrstimmiger Chorsatz, kein Choral; turba-Chöre (bei Bach) werden in die Handlung eingebunden

6

Instrumentalstücke

Einleitende Sätze oder Orchesterzwischenspiele: Sinfonia, Intrada, Pastorale, Ouvertüre etc.

Teil A
Teil B
Teil A da capo
Teil A

Ritornell a – Episode b – Ritornell a' – Episode c – Ritornell a

Teil B

Solo 1 – Tutti – Solo 2

Teil A da capo

Ritornell a – Episode b – Ritornell a' – Episode c – Ritornell a

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Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion BWV 244 (1736), Arie Buß und Reu
Quellen: IMSLP | YouTube

Barocke Reihungsformen

Da-capo-Arie und Ritornellform
Typisches Formprinzip für schnelle Concerto-Sätze, Arien (aus Opern, Oratorien oder Kantaten) oder Rondeaus in Suiten
Dreiteilige Großform mit Reprise (da capo): A – B – A, Mittelteil meist in der Tonart der vi. / III. Stufe; Reprisenteil kann frei verziert werden
A-Teil meist in Ritornellform; unterschiedliche Längen möglich: a – b – a   ||   a – b – a' – c – a   ||   a – b – a' – c – a'' – d – a (etc.)

Formbildender Besetzungskontrast der Ritornellform:

  • Anfangsritornell (a): im tutti gesetzt; als Eröffnungsthema häufig im Sinne eines Fortspinnungstypus gestaltet
  • Binnenritornelle (a', a''): müssen nicht in der Grundtonart stehen, können gegenüber dem Anfangsritornell verkürzt sein
  • Episoden (b, c, d): keine volle Besetzung, sondern konzertierende Soli mit Generalbass; Ausweichen in Nachbartonarten

Strophische Anlage
Häufige Gestaltung von Kirchenliedern (Chorälen) und weltlichen Generalbassliedern (Lautenlieder, Oden, Arietten)
Viele Textstrophen zu einer mehrfach wiederholten Melodie; zeilenweise Vertonung: jedes Reimwort fällt auf eine Kadenz

Vierstimmiger Satz

Kantionalsatz – ab Ende des 16. / Beginn des 17. Jahrhunderts
Schlichter homophoner Akkordsatz zu einem protestantischen Kirchenlied, cantus firmus im Sopran oder Tenor
Harmonik: modal, Akkordrepertoire: Grundstellungen und Sextakkorde, gelegentlich Quintsextakkorde; Kadenzen oft mit Quartvorhalt
Form: zeilenweise durch Grund- oder Tenorkadenzen strukturiert, Metrik: frei deklamierend (wie Liedsätze der Renaissance)

Choralsatz – ab Beginn des 18. Jahrhunderts, prominent im Schaffen Bachs
Homophoner, aber figurierter und mit polyphonen Elementen versehener Satz eines Kirchenlieds, cantus firmus im Sopran
Harmonik: dur-moll-tonal, Akkordrepertoire: Dreiklänge (Grundstellungen, Sextakkorde), Septakkorde (Terzquartakkorde selten)
Form: zeilenweise durch Ganzschlüsse, Halbschlüsse oder Trugschlüsse strukturiert, Metrik: Akzentstufentakt, häufig 4/4-Takt

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Francesca Caccini: Il primo libro delle musiche (1618), Nr. 3: Lasciatemi qui solo, erste Strophe
Quellen: IMSLP | YouTube

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Heinrich Schütz: Kleine Geistliche Konzerte op. 8 (1636), Nr. 6: O lieber Herre Gott, Beginn
Quellen: IMSLP | YouTube

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Georg Friedrich Händel: Rinaldo HWV 7a (1711), Arie der Almirena Lascia, ch'io pianga
Quellen: IMSLP | YouTube

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Johann Sebastian Bach: Kantate Ich habe meine Zuversicht BWV 188 (1726),
Nr. 6: Choral Auf meinen lieben Gott
Johann Crüger: Geistliche Kirchen-Melodien (1649), Nr. 146: Auf meinen lieben Gott
Quellen: IMSLP | IMSLP | YouTube

Aufgaben zur Einheit 6
  1. Machen Sie sich den Unterschied zwischen prima und seconda prattica sowie die Merkmale einer Monodie bewusst. Hören Sie die Beispiele.
  2. Untersuchen und gliedern Sie das Rezitativ Du lieber Heiland du und die Da-capo-Arie Buß und Reu
    aus Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion BWV 244.
  3. Untersuchen Sie den Beginn des Kleinen Geistlichen Konzerts O lieber Herre Gott op. 8 Nr. 6 von Heinrich Schütz
    und gliedern Sie die Passage als Fortspinnungstypus.
  4. Untersuchen und gliedern Sie die Da-capo-Arie Lascia, ch'io pianga aus Georg Friedrich Händels Oper Rinaldo HWV 7a.
  5. Vergleichen Sie Satzweise und harmonische Ausgestaltung von zwei Sätzen der Melodie Auf meinen lieben Gott
    von Johann Crüger (Kantionalsatz) und Johann Sebastian Bach (Choralsatz).