Inhalt
Was bisher geschah:
- Du hast verschiedene musikalische Parameter (Melodik, Harmonik, Instrumentation, Text) für die musikalische Analyse eingesetzt.
- Du hast dir eine konkrete Klangvorstellung von Songs erarbeitet und diese formal analysiert.
- Du hast die Strukturmodelle SRDC, Satz, Periode sowie die Satzmodelle Kadenz und Parallelismus und deren Bedeutung für die formale Analyse kennengelernt.
- Du hast Definition für die Formteile Verse und Chorus kennengelernt.
- Du hast Definitionen der Begriffe Strophe, Refrainzeile und Refrain zur Beschreibung des Textes kennengelernt.
Lernziele:
- Du lernst eine Definition für den Formteil Bridge kennen.
- Du erarbeitest die ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen der Bridge
Tin Pin Alley
Für ein tieferes Verständnis des Bridge-Formteils ist es notwendig, die Form von populärer Musik aus Nordamerika vor dem Zweiten Weltkrieg in den Blick zu nehmen. Tin-Pan-Alley (engl.: Blech-/Zinnpfannengasse) wurde damals scherzhaft die 28. Straße zwischen der Fifth Avenue und dem Broadway bezeichnet. In dieser Gegend schlug damals das Herz der amerikanischen Unterhaltungsmusik. Hier ansässige Songschreiber:innen komponierten sogenannte Sheet-Music, die aus einem kurzen Verse und einen gewichtigeren Refrain bestand. Um Verwechslungen mit den in diesem Seminar gegebenen Definitionen zu vermeiden, wird hier der Vorschlag von John Covach aufgegriffen, den Verse von Tin-Pin-Alley-Kompositionen als Sectional-Verse (= SV) und den Refrain in dieser Zeit als Sectional-Refrain (= SR) zu bezeichnen.
Ein Sectional-Refrain in Sheet Music wies einen standardisierten Formverlauf auf: Er begann üblicher Weise mit der Struktur AABA, ABAA oder ABAC, die anschließend ganz oder auch nur teilweise wiederholt werden konnte:
- SV | SR (= AABA-AABA)
- SV | SR (= ABAA-ABAA)
- SV | SR (= ABAC-ABAC)
In Bezug auf die erste Möglichkeit wird der Sectional-Refrain auch als 32-taktigen AABA-Form bezeichnet, für den B-Teil des Sectional-Refrains ist der Begriff Bridge üblich.
Libby Holman – What Is This Thing Called Love
Beispiel für eine AABA-Form im Sectional Refrain ist der Song What Is This Thing Called Love aus dem Musical Wake Up And Dream (1929) von Cole Porter. Der Titel bzw. die Refrainzeile erklingt hier am Anfang des A-Teils:
Libby Holman, What Is This Thing Called Love (1929), Text/Musik: Cole Porter (aus: From Wake Up And Dream), Quelle: Youtube
Ella Fitzgerald – How Long Has This Been Going On
Um die Länge entsprechender Songs der 3-Minuten-Länge einer Schellackplatte mit 78rpm (Umdrehungen / Minute) anzupassen, wurde in der Regel auf den Sectional Verse verzichtet und die Wiederholung des AABA-Teils gekürzt. Ein Beispiel hierfür findet sich in dem Song How Long Has This Been Going On von Harold Arlen:
Ella Fitzgerald, How Long Has This Been Going On (1932), Musik/Text: Harold Arlen/Ted Koehler, Quelle: Youtube
Shirley Jones und Robert Preston, Till There Was You (1957) (aus: The Music Man), Musik/Text: Meredith Wilson, Quelle: Youtube
Über die frühen Eigenkompositionen von The Beatles und auch über Coverversionen fand das AABA-Repertoire Eingang in die Musik der 1960er Jahre. Auf der ersten LP von The Beatles finden sich zum Beispiel ausschließlich Variationen der AABA-Form. Auf dem zweiten Studioalbum von The Beatles findet sich ein Cover des Wilson-Songs Till there Was You. In der Beatmusik wird der A-Teil als Verse und der B-Teil als Bridge bezeichnet. Typisch für die Verse-Bridge-Form ist das zweimalige Erscheinen der Bridge und das Fehlen eines Chorus:
There were bells [...] Till there was you
There were birds in the sky [...] Till there was you
Then there was music [...]
There was love all around [...] Till there was you
Then there was music [...]
There was love all around [...] Till there was you
Till there was you
The Beatles, Till there was you (1957), Musik/Text: Meredith Wilson, Quelle: YouTube
25 Minuten
Ken Stephenson verdeutlicht in seinem Buch What To Listen For In Rock (2002) auf sehr plausible Weise, wie sich die Verse-Chorus-Bridge-Form entwickelt haben könnte. Sie ensteht, wenn sich die Refrainzeile am Ende des A-Teils musikalisch verselbstständigt und einen eigenen Formteil ausprägt, wobei die Formfunktion der Bridge in der 32-taktigen AABA-Form und der Verse-Chorus-Bridge-Form dieselbe ist:
Der Beatles-Song Please Please Me entspricht bis auf den Anfangs- und Schlussteil exakt diesem Schema:
Last night I said [...]
Come on, come on, come on, come on Please, please me, wo yeah, like I please you
You don't need me to show [...]
Come on, come on, come on, come on Please, please me, wo yeah, like I please you
I don't want to sound complaining [...]
Last night I said these words [...]
Come on, come on, come on, come on Please, please me, wo yeah, like I please you wo yeah, like I please you wo yeah, like I please you
The Beatles, Please Please Me (1963), Musik/Text: John Lennon/Paul McCartney, Quelle: YouTube
35 Minuten
Die Bridge als Kontrast
Sowohl in der AABA-Form, der Verse-Bridge-Form und auch der Verse-Chorus-Brige-Form kommt der Bridge die Funktion eines kontrastierenden Formteils bzw. eines Kontrasts zu. Folgt der Bridge ein Verse wie in dem Song Please Please Me von The Beatles, kann nach der Bridge ein neuer Spannungsverlauf beginnen. Die gleiche Funktion, das Senken des Energielevels für eine neue Steigerung, hat der sogenannte Breakdown-Chorus, also ein Chorus mit einer zurückgenommenen Intensität.
Definition Bridge
Im Folgenden findest du eine Definition für die Bridge:
Als Bridge wird ein Formteil in der Pop-/Rockmusik bezeichnet.
In der Verse-Bridge-Form ist die Bridge ein Formteil, der kontrastierend, aber nicht unbedingt steigernd wirkt. Die fehlende Steigerungsfunktion gegenüber dem Verse unterscheidet die Bridge von einem Chorus. In der Verse-Bridge-Form kommt die Bridge in der Regel zweimal vor, ein Chorus hingegen fehlt. Die Bridge findet sich üblicherweise erstmalig zwischen zweitem und drittem Verse (AABA), ihr zweites Auftreten resultiert aus einer vollständigen oder partiellen Wiederholung des AABA-Schemas.
In der Verse-Chorus-Bridge-Form wird als Bridge (bzw. Primary Bridge) ein Formteil bezeichnet, der üblicherweise nur einmal vorkommt und der zum Vorhergehenden kontrastierend wirkt. Die Bridge erklingt im Rahmen der Verse-Chorus-Bridge-Form üblicher Weise als Verbindung zwischen zwei Verse-Chorus-Paaren und weiteren Verse- und/oder Chorus-Wiederholungen.
Zusammenfassung
In dieser Einheit hast du dich mit dem musikalischen Formteil Bridge beschäftigt. Du hast Zusammenhänge zwischen der AABA-Form, der Verse-Bridge-Form und der Verse-Chorus-Bridge-Form kennengelernt und dir differenzierte historische und systematische Perspektiven auf den Fachbegriff erarbeitet.
45 Minuten
Was Du wissen solltest ...
- Jede musikalische Analyse ist immer eine Interpretation eines musikalischen Sachverhalts (und keine objektiv beschreibbare Wahrheit), bei der bestimmte musikalische Ereignisse als bedeutsam hervorgehoben und andere Ereignisse weggelassen werden.
- Je nachdem, an welchen Parametern (Melodie, Harmonie, Instrumentation, Text usw.) sich eine musikalische Analyse orientiert, können die Analyseergebnisse unterschiedlich ausfallen.
- Die Wahl einer bestimmten Analyseperspektive muss begründet werden, um auch für andere plausibel zu sein.
- Du kennst die Kadenz und den Parallelismus als Strukturmodelle, um einen musikalischen Abschnitt zu interpretieren.
- Du kennst Definitionen für die folgenden Fachbegriffe: Verse, Chorus, Bridge (zur Beschreibung von Musik) und Strophe, Refrainzeile und Refrain zur Beschreibung von Text.
- Du hast ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen der AABA-Form, Verse-Bridge-Form und Verse-Chorus-Bridge-Form.
Hausaufgabe
- Schaue dir in Bezug auf deinen Kenntnisstand des Bridge-Begriffs den Song I Want To Hold Your Hand von The Beatles noch einmal an und Überprüfe dein Formverständnis.