Musik und Bedeutung am Beispiel einer Quintfallsequenz von W. A. Mozart
Es ist ein alter Streit, ob Musik in der Lage ist, eine Bedeutung zu vermitteln, die außerhalb der Musik liegt. Die einen behaupten, Musik könne nur sich selbst, also nur Musik vermitteln. Bekannt geworden für diese Position der sogenannten Autonomieästhetik ist Eduard Hanslick, er schrieb in seiner Abhandlung Vom Musikalisch Schönen 1891:
Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen anderen Inhalt, als sich selbst.
aus: Eduard Hanslick, Vom Musikalisch Schönen, Kapitel VII. Die Begriffe ›Inhalt‹ und ›Form‹ in der Musik.
Andere hingegen waren der Meinung, Musik könne sehr wohl eine Bedeutung transportieren, die mehr sei als Musik. Die Anhänger dieser sogenannten Inhaltsästhetik konnten sich dabei sogar auf den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel berufen, der die Auffassung vertrat, dass Musik erst dann ihren Gehalt ausdrückt, wenn wir sie wahrnehmen und in uns lebendig werden lassen. Diese Auffassung entspricht einer modernen Sichtweise, nach der jeder Mensch die Umwelt durch seine Wahrnehmung konstruiert. Doch die Inhaltsästhetik ist im Laufe der Geschichte durch ziemlich beliebiges Spekulieren über angebliche Programme, die einer bestimmten Musik zugrunde liegen sollen, in Verruf geraten.
Die Frage lautet daher an dieser Stelle: Ist es auf eine seriöse Weise möglich zu behaupten, dass Musik einen konkreten Inhalt ausdrückt, der außerhalb ihrer selbst liegt? Eine Antwort auf diese Frage gibt vielleicht ein Musikbeispiel von Wolfgang Amadé Mozart.
Das Domine Deus von W. A. Mozart
Im Jahr 1782 schrieb W. A. Mozart die Messe in c-Moll KV 427. In dieser Messvertonung gibt es ein Domine Deus für zwei Sopran-Solostimmen und Streichorchester. Aufgrund von Quellen gilt es als sicher, dass Mozart bei der Komposition der äußerst virtuosen Sopranpartien auch an seine Frau Constanze gedacht hat, die eine sehr gute Sopranistin gewesen ist. Aus heutiger Sicht allerdings rätselhaft ist, warum Mozart diese monumentale Messe nie ganz fertig gestellt hat.
Für ein Verständnis der außermusikalischen Bedeutung ist es notwendig, das Satzmodell der Quintfallsequenz zu kennen:
Beispiel für eine dreistimmige Quintfallsequenz in d-Moll
Achtet beim Anschauen und Anhören dieser Quintfallsequenz in d-Moll (oben) auf die Stimmführung: Im Falle einer korrekten Stimmführung, wie man sie zum Beispiel im Rahmen eines Musikstudiums lernt, bewegen sich die Oberstimmen nur sehr wenig und haben keinen einzigen Intervallsprung, sondern nur Intervallschritte.
Im Domine Deus hat Mozart verschiedene Stellen mit dem Satzmodell der Quintfallsequenz gestaltet. Dabei hat er allerdings für seine virtuosen Sopran-Solistinnen eine ganz andere Stimmführung als die oben gezeigte gewählt. An der ersten Solo-Stelle ist der Sopran I mit der Quintfallsequenz zu hören. Achte beim Anhören insbesondere auf die Stimmführung der Oberstimme:
Die zweite Stelle wird vom Sopran 2 gesungen:
An der dritten Quintfallsequenz-Stelle singen beide Sopranstimmen:
Und auch bei der vierten Stelle sind die beiden Sopranistinnen zu hören:
Warum nun hat Mozart für die Sopran-Solostimmen diese eigenartige Stimmführung gewählt? Eine Antwort könnte lauten: Weil eine Sängerin natürlich gerne zeigt, was sie gesangstechnisch drauf hat und diese großen Sprünge sehr schwer zu singen sind (nur professionelle Sängerinnen haben einen so großen Stimmumfang, dass sie die in dem Video gezeigten Stellen überhaupt singen können).
Aber es gibt noch einen anderen Grund, der in den Videos durch die roten Linien veranschaulicht worden ist. Denn verbindet man die Noten mit Linien, entsteht ein Kreuz (X). Und wenn man die grauen Verbindungen noch hinzunimmt, sogar das (abstrakte) Symbol eines Fisches. Diese beiden Symbole sind sehr bekannt im Christentum:
Denn das Kreuz erinnert sowohl an die Kreuzigung Christi, als auch an den griechischen Buchstaben Χ (Chi), der zusammen mit dem Ρ bzw. dem griechischen Buchstaben Rho die ersten beiden Buchstaben des Wortes Χριστός (Christus) symbolisiert. Und der Fisch, das vielleicht bekannteste Symbol für Jesus Christus, hat seinen Ursprung in der Geschichte der Speisung der Fünftausend. Kennt man diese Symbole, ist ein Blick in die Stimmenanordnung der handschriftlichen Partitur sehr interessant:
Manuskript in der Handschrift von W. A. Mozart (1783)
Staatsbibliothek zu Berlin (D-B): Mus.ms.autogr. Mozart, W.A. 427
Denn auf der Seite, auf der beispielsweise die letzte Quintfallsequenz notiert ist, zeigen alle Stimmen der Partitur überwiegend schwarze Noten, nur nicht in den Sopranstimmen, in denen unausgefüllte bzw. weiße Noten (punktierte Halbe) zu sehen sind. Wenn man an dieser Stelle der Partitur nun diese auffälligen weißen Noten durch Linien verbindet, lässt sich das Christus-Monogramm und sogar auch der Fisch konstruieren (was du dir anschauen kannst, wenn du den Slider von links ganz nach rechts ziehst).
Schauen wir abschließend auf den Text, der zu diesen gezeigten Quintfallsequenzen gesungen wird:
- Stelle: »Deus Pater«
- Stelle: »Agnus Dei«
- Stelle: »Agnus Dei«
- Stelle: »Agnus Dei« (Sopran II) und »Deus Patris« (Sopran I)
An allen Stellen handelt der Text von Gott (lat. deus pater = Gottvater) oder seinem Sohn Jesus Christus, der für die Menschheit am Kreuz gestorben ist (lat. agnus dei = Lamm Gottes). Könnte die Musik nur sich selbst ausdrücken, könnten wir nur eine virtuos inszenierte Quintfallsequenz hören. Was hörst und denkst du an den besprochenen Stellen, nachdem du nun weißt, auf wie kunstvolle Weise W. A. Mozart diese Quintfallsequenz in Szene gesetzt hat?
Aufgaben
- Die Inhaltsästhetik ist im Laufe der Geschichte durch wildes Spekulieren über angebliche Inhalte und Programme, die bestimmter Musik zugrunde liegen sollen, in Verruf geraten. Recherchiere im Internet den Namen eines Musikwissenschaftlers, der dafür verantwortlich gemacht wird.
- Informiere dich über die Geschichte Speisung der Fünftausend der Bibel. Was hat der Fisch mit dieser Geschichte zu tun? Gibt es eine weitere symbolische Bedeutung des Fischs in der christlichen Religion?
- Im letzten Videobeispiel weist uns Mozart durch einen bewussten Satzfehler auf die Besonderheit seiner Ausarbeitung hin. Denn Septimen (als dissonante Intervalle) bereitet Mozart üblicher Weise vor, das heißt der Septimton erklingt schon vor der Dissonanz in der gleichen Stimme (= Vorbereitung) und löst sich nach der Dissonanz stufenweise abwärts auf (= Auflösung). Halte das Video an und benenne die Stellen, mit denen uns Mozart auf die Besonderheit seiner Stimmführung hinweist.
- Höre dir abschließend das ganz Domine Deus aus der Großen Messe in c-Moll KV 427 von W. A. Mozart an. Kannst du im Zusammenhang alle Stellen wiedererkennen (= gelb im Diagramm unten), die du im Vorangegangenen als Quintfallsequenz kennen gelernt hast?
W. A. Mozart, Domine Deus aus: Große Messe in c-Moll KV 427
Sopran: Maria Stader, Hertha Töpper, Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Dirigent: Ferenc Fricsay
Resonance 429 161 2, Erstveröffentlichung/-aufnahme: 1960, Lizenz: CC0
Für Profis:
- Woher hat die Quintfallsequenz ihren Namen bekommen? Finde eine Begründung für den Namen dieses Satzmodells (und recherchiere hierzu ggf. im Internet).
- Wenn du dir die Noten der Sopranstimmen in dem letzten Video und In der Handschrift anschaust, merkst du, dass moderne Notation und alte Handschrift nicht übereinstimmen. Mozart hat die Sopranstimmen in der Tat in einem sogenannten alten Schlüssel komponiert. Wo liegt in diesem Schlüsse das c' und wie heißt dieser Schlüssel?
- Mozart hat am Ende seiner Quintfallsequenz-Ausarbeitungen eine Hemiole komponiert. Im eingangs gegebenen Beispiel wurde am Ende eine Hemiole ergänzt:
In der Partitur kannst du studieren, dass Mozart eine solche Verlängerung z.B. in den Takten 87–89 komponiert hat (das ist im Bass recht gut zu erkennen). Recherchiere, was eine Hemiole ist und überlege dir, warum Mozart diese rhythmisch-metrische Wendung in seinem Domine Deus am Ende der vier in den Videos (oben) zu hörenden Gesangsstellen eingesetzt hat.