Modelle richtig benutzen oder: Die Vielfalt der Musik!

Die zu diesen Materialien gehörige Unterrichtseinheit findest du hier.

Modelle in der Forschung

In dieser Unterrichtseinheit geht es um ein Verständnis für den Begriff Modell und welche Funktionen Modelle in der musikwissenschaftlichen Forschung haben können. Markus Bandur schrieb in der zweiten Auflage des Lexikons Musik in Geschichte und Gegenwart zum Stichwort Sonatenform:

Dieses Gerüst ist die noch heute geläufige und popularisierte Variante der Sonatenformkonzeption, wie sie ursprünglich von A. B. Marx um 1840 kodifiziert wurde. Doch während Marx’ Formschema sich im Kontext seiner Formenlehre als Idealtypus im Sinne Max Webers auffassen läßt – abgezogen von Beethovens Klaviersonaten – , hat sich im weiteren Verlauf des 19. und im 20. Jh. die Vorstellung durchgesetzt, daß ein solches Schema die orthodoxe Sonatenform repräsentiere, d. h. arbeitstechnisch den Ausgangspunkt und ästhetisch das Ziel der Komposition darstelle.

Markus Bandur, Art. »Sonatenform, Einleitung: Schema und Kritik« in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart, New York 2016 ff., zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016.

Seine Kritik ist alt und findet sich in musikwissenschaftlichen Abhandlungen prominenter Autoren bereits seit den 1970er Jahren:

Dass in Sonaten das erste Thema männlich und das zweite weiblich zu sein pflegt, lässt sich aus diesem Grunde als drollige Idee abtun. Die Fachwörter erstes und zweites Thema sind schon jammervoll genug, auch wenn sie sich mittlerweile so eingenistet haben, dass sie schwer zu vertreiben sind.

Problematisch ist an dieser leider noch heute an den meisten Schulen und in Musikkursen gelehrten Darstellung der Sonatenform nicht so sehr, dass sie nicht genau zutrifft, sondern, dass sie als Rezept formuliert ist […] Man gibt zwar zu, dass zahlreiche Sonaten abweichende Merkmale aufweisen, doch macht man Komponistenwillkür dafür verantwortlich und lässt durchblicken, dass Sonaten eigentlich auf die ›rechte‹ Weise zu komponieren seien. […] Das Gefährlichste an der traditionellen Sonatentheorie ist ihr normativer Anspruch.

Charles Rosen, Der klassische Stil, Haydn, Mozart, Beethoven, Kassel 2/1995, S. 88 u. 31/32 (1971 in englischer Sprache erschienen als The Classical Style. Haydn, Mozart, Beethoven)

Ungeachtet dieser Kritik finden sich in vielen Lehrwerken Formulierungen, die dem Kritisierten Vorschub leisten:

Als Sonatensatzform bezeichnet man eine Formidee, die in der Wiener Klassik mustergültig ausgebildet wurde: Zwei oder auch mehr Themen stehen im Mittelpunkt der Musik. Sie werden einander gegenübergestellt und dann in einer ›Durchführung‹ motivisch verarbeitet [...]

Beispiel 1: Spielpläne 7/8 für den Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen, Regionalausgabe 2, hrsg. von Karl-Jürgen Kemmelmeyer und Rudolf Nykrin, Leipzig 1997, S. 126.

Einzelne Sätze haben eine bestimmte Form, eine Gliederung, die sich im 18. Jahrhundert herausbildete: die Sonatenhauptsatzform.

Beispiel 2: Spielpläne Musik 7/8 für den Musikunterricht an Realschulen, hrsg. von Karl-Jürgen Kemmelmeyer, Rudolf Nykrin, Amnke Haun und Kai Martin, Leipzig 1997, S. 139.

Beispiel 3: Spielpläne Musik 7/8 für den Musikunterricht an Gymnasien in Bayern, hrsg. von Karl-Jürgen Kemmelmeyer, Rudolf Nykrin, Amnke Haun und Kai Martin, Leipzig 1997, S. 144.

Das Streben nach Ausgewogenheit in Inhalt und Form sind Ideale der Klassik (lat. classicus, mustergültig, vollkommen). In diesem Sinne bildete sich auch die Sonatenhauptsatzform (abgekürzt SHS) aus, in der zwei gegensätzliche Themen einander gegenübergestellt werden. Daraus resultiert ein musikalischer Gegensatz oder Konflikt, den der Komponist lösen muss.

Beispiel 4: Dreiklang 9/10. Musikbuch für den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen, hrsg. von Georg Maas und Ines Mainz, Berlin 2013, S. 50.

Ludwig van Beethoven (1770–1827) verwendet in vielen seiner Werke eine musikalische Form, die den Verlauf einer Debatte nachvollzieht. Dies war ein in der Zeit der Klassik neu etabliertes Kompostionsmodell, das sich bald als wegweisende musikalische Gestaltungsidee durchsetzte. [...] In der Sonatenform werden meist gegensätzliche musikalische Themen gegenübergestellt und im späteren Verlauf verarbeitet. Somit ist sie eine Art musikalisches Streitgespräch..

Beispiel 5: Markus Detterbeck, Florian Niedrig und Gero Schmidt-Oberländer, MusiX, Das Kursbuch Musik 3 in Bayern, Insbruck, Esslingen, Bern-Belb 2021, S. 14.

Drei Formteile bilden das (oftmals variierte) Grundgerüst der Sonatenhauptsatzform [...] Ein charakteristisches Merkmal des Sonatenhauptsatzes ist die Verwendung zweier Themen, die in vielfacher Hinsicht gegensätzlich gestaltet sind (»Themen-Dualismus«) [...]

Beispiel 6: Tonart 9–10. Musik erleben – reflektieren – interpretieren, hrsg. von Wieland Schmid, Insbruck, Esslingen, Bern-Belp 2021, S. 18.

Vgl. hierzu auch Wikipedia:

Ein nach der Sonatensatzform gegliederter Satz besteht üblicherweise aus den folgenden drei Hauptteilen: Exposition, Durchführung und Reprise. Diese äußerliche Dreiheit sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die Sonatenhauptsatzform grundsätzlich dialektisch ist, dass sie also grundlegend auf der Idee einer Zweiheit, nämlich auf zwei Themenkomplexen beruht, die in einem allgemeinsten Sinne gegenteilig dialogisieren [...]

Wikipedia, Artikel Sonatensatzform, abgerufen am 25.07.2022.

Station 1

1. Station

Eine Analyse der Zitate aus Schulbüchern legt das folgende Modell-Verständnis nahe:

  • Die Sonatenhauptsatzform als Modell der Formenlehre ist eine Idee der Komponisten der Wiener Klassik (Beispiele 1–6).
  • Der Sinn der Sonatenhauptsatzform liegt im Erzeugen eines Konflikts zwischen gegensätzlichen Themen (Beispiel 3–6), die der Komponist anschließend lösen muss (Beispiel 4).
  • Komponisten der damaligen Zeit haben das Modell verwendet (etabliert bzw. herausgebildet) , um damit im Sinne eines musikalischen Streitgesprächs (Beispiel 5) zu komponieren.

Diese Auffassung ist nicht vereinbar mit einem Modellbegriff der Forschung:

Modelle sind stets Modelle von etwas, nämlich Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale [...]

Modelle erfassen im allgemeinen nicht alle Attribute des durch sie repräsentierten Originals, sondern nur solche, die den jeweiligen Modellerschaffern und/oder Modellbenutzern relevant scheinen [...]

Eine pragmatisch vollständige Bestimmung des Modellbegriffs hat nicht nur die Frage zu berücksichtigen, wovon etwas Modell ist, sondern auch, für wen, wann und wozu bezüglich seiner je spezifischen Funktionen es Modell ist.

Herbert Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie, Wien 1973, S. 131−133.

In diesem (konstruktivistischen) Sinn sind Modelle

  • Abbildungen, Repräsentationen [bzw. Konstrukte].
  • Der Sinn eines Modells liegt in der Vereinfachung bzw. im Weglassen von Eigenschaften, die den Modellbenutzenden nicht relevant erscheinen.
  • Modelle verwenden wir heute, um uns Dinge einer komplexen Wirklichkeit zu erklären. Und weil Menschen ein Modell mit einer Erklärungsabsicht verwenden, sollte immer gefragt werden, für wen, wann und wozu ein Modell verwendet wird.

Station 2

2. Station

  • Ziel der Arbeit an der der zweiten Station ist zu verstehen, dass Modelle immer eine Aufgabe (Funktion) haben und über die Qualität von Modellen nur entschieden werden, wenn sie daran gemessen werden, wie gut sie ihre Aufgabe erfüllen.
  • Darüber hinaus sollen die Beispiele der Erkenntnis förderlich sein, dass Modell dem Original nicht ähnlich sein müssen, sondern meistens dann ihre Aufgabe sehr gut erfüllen, wenn alles für die Lösung der Aufgabe Unwesentliche nicht in das Modell aufgenommen wird.

Station 3

3. Station

  • Ziel der Arbeit an der der dritten Station ist sehr ähnlich zur zweiten Station, der Unterschied besteht in abstrakteren Denkleistungen. Geometrische Formen, Koordinatensysteme oder Gleichungen sind eventuell nicht ganz so einfach zu verstehen wie die Abbildung eines Stadtplans. Für viele Schülerinnen und Schüler wird die Station 2 an ihr Alltagswissen anschließen, hingegen die dritte Station eher "mathematischen Schulstoff" berühren.

Zu den Fragen:

1. Welche Aussagen könnt ihr über die geometrische Figur rechts machen, wenn ihr sie nur anschaut?

  • Die rechte geometrische Figur könnte als Quadrat bezeichnet werden.

2. Gibt es darüber hinaus eine Aussage über die geometrische Figur rechts, wenn ihr das Kreismodell links zu Hilfe nehmt?

  • Mit dem Kreis lässt sich beweisen, dass es kein Quadrat, sondern ein Rechteck ist. Denn die Breite des Vierecks entspricht genau dem Kreisdurchmesser, nicht jedoch die Höhe.

3. Wie könnte ein abstraktes Modell aussehen, das man zur Berechnung der Fläche der geometrischen Figur rechts verwenden könnte?

4. Wer kann ein Kreismodell bei dieser Forschungsaufgabe brauchen? Wer das abstrakte Modell?

  • Kreismodell: Jemand, der herausfinden möchte, ob es "nur" ein Rechteck oder "sogar" ein Quadrat ist. (Z.B. Origami-Faltbögen. Hierzu könnte man auch über diagonales Falten, also Dreiecks-Modelle herangehen.) / Abstraktes Modell: Jemand, der exakte Einheiten benötigt. (Z.B. Vermessung von Einrichtungsgegenständen.)

5. Wann braucht man was? (Gab es vielleicht auch in der Menschheitsgeschichte Zeitintervalle in der das eine oder das andere Modell verwendet wurde?)

  • Z.B. Kulturen, die noch keine Einheiten (oder Zahlen) kannten, mussten sich anders behelfen. Stock-Faden-Zirkel (also Kreismodelle) wurden lange verwendet, um exakte Quadrate und Abstände zu bekommen.)

6. Wozu braucht man das jeweilige Modell? Welche Vorteile haben sie jeweils?

  • Bereits die möglichen Antworten oben erzählen von verschiedenen Funktionen und Vorteilen. Ein weiterer Vorteil des abstrakten Modells wäre der Komplexitätszuwachs, der bei weiterführender Forschung notwendig sein kann. Das Kreismodell hingegen hat unter anderem den Vorteil, in einem ähnlichen Modell-Denken verbleiben zu können (geometrische Formen und Eigenschaften).

7. Müssen ein Modell und ein Gegenstand, den man mit diesem Modell vermessen will, sich ähnlich sein oder ist das nicht notwendig?

  • Die Beispiele zeigen, dass ein Modell dem Gegenstand keineswegs ähnlich sein muss, um eine spezifische Aufgabe zu erfüllen. Die oftmals zu lesende Aussage, dass die Sonaten- bzw. Sonatenhauptsatzform nicht richtig passen würde bzw. dass die Komponisten sich nicht daran gehalten haben, ist also in doppelter Hinsicht unangemessen: Zum einen war den Komponisten unsere heutige Konstruktionen der Sonatenhauptsatzform nicht bekannt, zum anderen muss sie einer Komposition nicht entsprechen, um eine Aufgabe wie z.B. die einer hermeneutischen Interpretation leisten zu können.
    Der Vorzug besteht darin, Modelle als gedankliche Konstruktionen zum Verständnis einer komplexen Wirklichkeit zu verstehen und nicht als ein Schema, das Komponisten früherer Zeiten zum Komponieren verwendet hätten. (S. dazu ebenfalls: Lautstärke statt Themendualismus.)

Station 4

4. Station

Ziele der Arbeit an der vierten Station ist die selbständige Recherche sowie die Beurteilung, ob die recherchierten Modelle hilfreich zum Verständnis der Form des Menuetts Nr. 16 aus dem ›Nannerl‹-Notenbuch sind.

Die Eingabe der Begriffe form und menuett in einer Internet-Suchmaschine zeigt unter den ersten Suchergebnissen den Wikipedia-Artikel Menuett, in dem zur Form gesagt wird:

Das Menuett an sich ist zweiteilig, wobei jeder Teil wiederholt wird; das entspricht der Form ||: A :||: B :||
Der Unterabschnitt A ist häufig als 8-taktige Periode ausgeführt, B oft doppelt so lang, also zweimal 8 oder 16 Takte (besonders beim frühen Menuett im 17. Jahrhundert).

Der erste Teil der Formerklärung ||: A :||: B :|| ist hilfreich, was sich im Notentext an den Doppelstrichen und Wiederholungszeichen erkennen lässt. Der zweite Teil, dass der B-Teil doppelt so lang sein muss wie der A-Teil, ist beim Verständnis des Menuetts nicht hilfreich (und damit in Hinblick auf das Beispielmenuett unangemessen bzw. falsch). Im Falle der Bildersuche lässt sich auch das folgende Modell schnell finden:

Auch dieses Modell ist zwar in der Literatur häufig anzutreffen, hilft jedoch nicht beim Verständnis des Menuetts aus dem ›Nannerl‹-Notenbuch. Mit dem folgenden Modell ließe die melodische Entsprechung der Teile erklären (4 Takte A und 4 Takte B vor sowie 4 Takte A und 4 Takte B nach dem Doppelstrich):

Sollten Kenntnisse im Notenlesen vorhanden sein und der harmonische Verlauf C -> G || G -> C || bestimmt werden können, wäre es möglich, das folgende Modell zu konstruieren:

Dieses Modell zeigt die Korrespondenz zwischen dem motivische Parallelismus und einem harmonischen Chiasmus bzw. einer Gestaltung, die insbesondere für die Gestaltung des Anfangs einer Taktgruppe im ausgehenden 18. Jahrhundert sehr beliebt war.

Zur Gestaltung des Anfangs von Taktgruppen mithilfe des motivischen Parallelismus und harmonischen Chiasmus können Sie in dem folgenden Beitrag erfahren: Das I-x-V-I-Modell bzw. Schema.