Formenlehre: Einheit 2 – Renaissance: Tänze, Lieder, Satzweisen

Tanzgattungen, Melodietypen, Liedformen; Gliederung durch Kadenzen – PDF


Zur Startseite | Zurück zu Einheit 1 – Grundbegriffe | Weiter zu Einheit 3 – Renaissance

Gliederung durch Kadenzen

Aspekte der Kadenz

    

Höhere Gliederungsebene

Tiefere Gliederungsebene

Maßgebliches formbildendes Mittel zur Unterteilung musikalischer Zeitverläufe
Kadenz (von lat. cadere = fallen): Einschnitt, Zäsur, Schlusswendung
Definition als »Ruhepunct des Geistes« (Heinrich Christoph Koch)
Interpunktische Form: Analogiebildung zwischen Kadenzen und Satzzeichen
Typologie: Ganzschluss (zur I), Halbschluss (zur V), Trugschluss (zur VI)

großformal (global)

kleinformal (lokal)

musikalische Form

musikalische Syntax

Großbuchstaben

Kleinbuchstaben

formbildende Harmonik

Akkordfortschreitungen

Stufen

Funktionen oder Stufen

Tanzgattungen

Bewegung ist Urimpuls der musikalischen Formgebung: sowohl die spezifische Rhythmik von Tänzen als auch deren Periodizität (Regelmäßigkeit der Syntax, Wiederkehr von Formteilen) sind durch choreographische Gegebenheiten bedingt
Musikalische Ausgestaltung von Renaissancetänzen: basierend auf einem cantus firmus oder auf ostinaten Bassmodellen
Form von Tanzsätzen: in der Regel zwei verwandte (A – A') oder kontrastierende Teile (A – B), jeweils mit Wiederholung

Frühe Form der Suite: Paarbildung eines langsamen Tanzes mit einem schnellen Nachtanz in gleicher Tonart; ab dem 16. Jahrhundert

  • Pavane (auch: Pavana, Paduana, Pavan, Dantz) – gemessener Schreittanz im Zweier- oder Vierertakt
  • Gaillarde (auch: Gagliarda, Galliard, Hupfauff) – lebhafter Springtanz im Dreiertakt
--:-- / --:--

Claude Gervaise, Sixième livre de Danseries (1555), Pavanne passamaize und Gaillarde
Quellen: IMSLP | YouTube

Weitere Renaissancetänze

Merkmale

Basse danse

französischer höfischer Schreittanz in langsamem Tempo, etabliert bis zum frühen 16. Jahrhundert

Tourdion bzw. Haute danse

schnellere Variante der Gaillarde, als Nachtanz zur Basse danse, oft im ternären Zweiertakt

Bransle | Branle

französischer Reigentanz in gemessenem Tempo, meist im Zweiertakt, häufig in Suiten zusammengefasst

Bransle gay

beschleunigte Bransle, im Dreiertakt; auch: Bransle de Bourgogne (Phalèse, Attaingnant, Susato)

Saltarello bzw. Piva

italienischer Springtanz im lebhaften ternären Zweiertakt, kann in der Suite die Gagliarda ersetzen

Volta

französischer oder italienischer Tanz im temperamentvollen Dreiertakt, steht ebenfalls am Schluss einer Suite

Allemande

deutscher Tanz in gemessenem Vierertakt, löst ab dem späten 16. Jahrhundert die Pavane ab

  • Hörbeispiel – Claude Gervaise: Sixième livre de Danseries (1555), Bransle de Champagne
  • Hörbeispiel – Pierre Phalèse: Danseries (1571), Bransle gay »Trop penser«
  • Hörbeispiel – Hans Leo Hassler: Lustgarten neuer teutscher Gesäng (1601), Tanzen und Springen (Liedsatz nach Art einer Gaillarde)

Melodische Gattungen und Liedformen

Typen und Subgattungen

  • Hymnus – einstimmiges, mehrstrophiges geistliches Lied, seit dem 3. Jh. (zB: Veni creator, Stabat mater, Ave maris stella)
  • Choral – einstimmiger Gesang für den lateinischen Gottesdienst, seit der Liturgiereform des 6. Jh.: gregorianischer Choral
    • Choralbücher: Graduale Romanum (Messgesänge), Antiphonale Romanum (Stundengebete des Offiziums)
    • Vortragsweisen: responsorisch (Wechsel von Solo bzw. Vorsänger und Chor) oder antiphonal (zwei Chöre)
  • Protestantisches Kirchenlied – Neukomposition oder Adaption von lat. Hymnen und Chorälen, seit dem 16. Jh. (zB durch Luther)
  • Minnesang und Troubadourlied – weltliche Liebeslieder oder Marienlieder seit dem 11. Jh., meist mündlich überliefert
  • Weltliches Lied – auf einen landessprachlichen Text komponierte Melodie, oft mehrstimmig gesetzt (Chanson, Tenorlied)
  • Volkslied – traditionell überlieferte Melodie unbekannter Autorschaft; Varianten: Ballade, Ode, Air, Frottola, Villanelle

Gängige Formen

Formteile

Merkmale

Zweiteilige Form

A – A' oder A – B

Erster Teil endet offen (Halbschluss), zweiter Teil führt zurück (Ganzschluss)

Barform

A – A – B

Stollen – Stollen – Abgesang (Variante: Gegenbarform A – B – B)

Reprisenbarform

A – A – B – A

Stollen – Stollen – Abgesang – Reprise

Freie Reihungsform

A – B – C – D …

Jeder Textabschnitt mit neuer Melodie, Kadenzen bei Zäsuren oder Reimwörtern

  • Beispiel – Johann Abraham Peter Schulz: Der Mond ist aufgegangen (1816), sechszeilige Strophe in zweiteiliger Form (A – A')
  • Beispiel – Johann Friedrich Reichardt: Bunt sind schon die Wälder (1799), sechszeilige Strophe in zweiteiliger Form (A – B)
  • Beispiel – George Gershwin: I Got Rhythm (1930), Refrain: Reprisenbarform mit vier Abschnitten (A – A – B – A')

Gängige Satzweisen

Merkmale

Fauxbourdon

Melodie im Superius (Oberstimme), dazu zwei homophone Unterstimmen: Kontratenor (4↓), Tenor (6↓)

Diskantlied

Melodie im Superius, dazu zwei oder drei homophon oder polyphon gesetzte Unterstimmen

Tenorlied

Melodie in der Tenorstimme, dazu in der Regel drei weitere Stimmen (Sopran, Alt, Bass), auch imitatorisch

Bicinium

Zweistimmiger Imitationssatz (lateinisch) oder cantus-firmus-Satz (deutsches Lied- oder Choralbicinium)

--:-- / --:--

Friedrich Silcher, Wenn alle Brünnlein fließen (1855): Liedstrophe in Barform

Stollen
Stollen
Abgesang
--:-- / --:--

Heinrich Isaac: Innsbruck ich muss dich lassen (⁓1498), Diskantlied
Quellen: archive.org | YouTube

--:-- / --:--

Ludwig Senfl: Entlaubet ist der Walde (1544), Tenorlied
Quellen: IMSLP | YouTube

Aufgaben zur Einheit 2
  1. Machen Sie sich mit den unterschiedlichen Typen von Renaissance-Tänzen und den Beispielen von Gervaise, Phalèse und Hassler vertraut.
  2. Untersuchen Sie die Pavanne passamaize von Claude Gervaise. Beschreiben Sie den Verlauf der Bassstimme und bestimmen Sie die Mittelkadenz und Schlusskadenz.
  3. Untersuchen Sie die Form des Volksliedes Wenn alle Brünnlein fließen und fertigen Sie ein Formdiagramm der Strophe an.
  4. Hören Sie das Diskantlied Innsbruck ich muss dich lassen von Heinrich Isaac und gliedern Sie die Strophe.
  5. Hören Sie das Tenorlied Entlaubet ist der Walde von Ludwig Senfl, gliedern Sie die Strophe und untersuchen Sie die Imitationsstruktur.