
Die dritte Violinsonate in Es-Dur aus Opus 12 hat Ludwig v. Beethoven 1797/98 komponiert und dem Komponisten Antonio Salieri gewidmet, bei dem er seit 1792/93 zeitweise Unterricht nahm. Die Sonate wurde gemeinsam mit den beiden vorangegangenen Sonaten in D-Dur und A-Dur veröffentlicht. Die Es-Dur-Sonate gilt als das brillanteste und virtuoseste Werk aus dem Opus 12, was im Hinblick auf die schnellen Ecksätze offensichtlich ist. Der zweite Satz in C-Dur Adagio con molt’espressione ist charakterisiert durch ein langsames Tempo, äußerst kantable Linien sowie eine expressive Harmonik.
Inhalt
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione
Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann, Lizenz: CC-BY-4.0
Zur Form
Beethovens formale Gestaltung lässt sich bis zur Reprise über ein dreiteiliges Modell beschreiben (Exposition, Durchführung, Reprise), das für Sonatensätze charakteristisch ist. In der Reprise allerdings ist Beethovens Gestaltung sowohl motivisch-thematisch als auch harmonisch unerwartet. Der Abschnitt nach der Reprise des Hauptthemas wirkt dabei so eigenständig, dass sich die Form auch als vierteilig verstehen lässt:
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione
Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann,
Lizenz: CC-BY-4.0
Exposition
Das Hauptthema (der A-Teil) ist periodisch gebaut, hat eine Länge von acht Takten und endet mit einem Ganzschluss in der Ausgangstonart C-Dur. Vorder- und Nachsatz wirken regulär und korrespondieren melodisch (eine Dreiklangsbrechung abwärts am Anfang wird im Nachsatz mit einer Dreiklangsbewegung aufwärts beantwortet). Für die öffnende und schließende Wirkung der Phrasen ist die Klangtechnik bzw. der Außenstimmensatz verantwortlich (perfekte Konsonanz wie Quinte und Oktave am Anfang und in den Schlüssen und klangvolle imperfekte Konsonanzen wie Terzen und Sexten dazwischen):
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione, Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann, Lizenz: CC-BY-4.0
Der B-Teil beginnt wie der A-Teil und ist ebenfalls recht traditionell geformt. Nach einer Wiederholung des Vordersatzes führt der Nachsatz über einen harmonischen Standard (Quintfallharmonik H-Dur → e-Moll → a-Moll → D-Dur → G-Dur) die Tonart der Oberquinte herbei. Die Stauchung des Nachsatzes auf 7 Takte wirkt ebenso wie die Erweiterung mithilfe einer zweitaktigen Überleitung noch unscheinbar:
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione, Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann, Lizenz: CC-BY-4.0
Durchführung
Melodisch beginn die Durchführung wie die Eposition, doch während diese die Funktion hatte, die Oberquinte zu etablieren, öffnet die Durchführung gleich zu Beginn mit dem Ton b eine zufällige Ausweichung zur Subdominante bzw. den Klangraum in den unteren Tonartenbereich. Darüber hinaus wird die Bewegung intensiviert: Der Achtelpuls des Anfangs wird zum Pulsieren in Sechzehnteln gesteigert.
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione, Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann (Ausschnitte), Lizenz: CC-BY-4.0
Beim zweiten Anlauf in die Subdominante verfärbt Beethoven zusätzlich die Zieltonart nach Moll und endet diese Phrase mit einer Kadenz in f-Moll. Nach der Kadenz in f-Moll sequenziert Beethoven die Harmonik der letzten vier Takte terzweise abwärts, wodurch die Neapolitanische Region der Ausgangstonart erklingt (Des-Dur in C-Dur). Das folgende Notenbeispiel skizziert den harmonischen Verlauf:
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione, Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann, Lizenz: CC-BY-4.0
Dieser ungewöhnliche harmonische Weg lässt sich als Verfärbung einer Standardmodulation von Durchführungen in den Subdominantbereich verstehen, die traditionell folgendermaßen hätte klingen können:
In der d-Moll-Verfärbung bzw. tiefen Tonart Des-Dur – in der Vorstellung des Quintenturms an der harmonisch tiefsten Stelle des Satzes – gestaltet Beethoven eine viertaktige Episode. Der dunklen Des-Dur-Farbe schließt sich der Weg zur Rückführungsdominante an, die sich über einen charakteristischen Signalakkord ankündigt. Beethoven inszeniert diese Stelle als einen ersten dramaturgischen Höhepunkt des Satzes:
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione, Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann, Lizenz: CC-BY-4.0
Auch in diesem Fall lässt sich Beethovens unglaublich spannungsreicher Übergang zur Reprise auf ein trivial anmutendes Sequenzmodell über chromatischem Bassgang zurückführen:
Die folgende Skizze gibt einen Überblick über den Verlauf der Durchführung:
Die Durchführung beginnt mit der Melodie in der rechten Hand des Klaviers. Anschließend übernimmt die Violine die Führung (Viertakter a = f-Moll und a' = Des-Dur). Diesen acht Takten schließt sich ein melodischer Abspaltungsprozess an, der in eine breit angelegte Rückführungsdominante führt. Sehr schön zu sehen ist die satzartige Melodiegestaltung der Violine ( 4 + 4 + Fortspinnung), mit der Beethoven die Modulationen in entfernte Tonarten zu einer syntaktischen Einheit verbindet. Auf eine besondere Weise gliedernd wirken dabei die Sekundakkorde, die Beethoven zu Beginn der Phrasen einsetzt und die für die jeweils folgenden Phrase tonale Klarheit schaffen.
Reprise
In der Reprise erklingt zuerst eine Wiederkehr des A-Teils bzw. des Satzbeginns. Beethoven variiert das Thema gegenüber dem Anfang, indem er die Violine eine rhythmisch Figur der Durchführung spielen lässt sowie durch Verzierungen der Hauptmelodie in der rechten Hand des Klaviers.
Nach dem Thema verwendet Beethoven ein einzelnes Motiv aus dem 3. Takt des Themas zur Gestaltung des Schlusses (D). Aus diesem Motiv formt er zwei Sätze, die sich zu einer Periode ergänzen. Eine reguläre Gestalt dieser Periode hätte bei Mozart oder Haydn so klingen können:
Wie Beethoven bereits beim ersten Erklingen den Vordersatz um zwei Takte (T. 50–51) erweitert, ist humorvoll. Doch diese Erweiterung ist klein gemessen am Nachsatz: Hier sprengt Beethoven die Form, indem er nach Es-Dur moduliert und in dieser Tonart die Violine den Themenkopf noch einmal vortragen lässt. Die Modulation in den Bereich der B-Tonarten wirkt an dieser Stelle wie eine Reminiszenz an die Durchführung. Die folgende Abbildung skizziert die Harmonik von der Dominante des periodischen Nachsatzes bis zum Schluss des ganzen Satzes:
Harmonieskizze T. 60 bis zum Schluss
Ludwig v. Beethoven, Sonate für Violine und Klavier Es-Dur Op. 12, Nr. 3, 2. Satz: Adagio con molt’espressione, Violine: Elene Meipariani, Klavier: Till Hoffmann, Lizenz: CC-BY-4.0
Dass die an sich überraschende Wendung nach Es-Dur dabei sehr vertraut wirkt, liegt an dem Sekundakkord, den man als Scharnier zu einer neuen Tonart in der Durchführung des Satzes bereits mehrfach gehört hat (in T. 23, T. 27, T. 24 und T. 25). Die Skizze veranschaulicht darüber hinaus, dass sich alle Akkorde zwischen den Dominanten T. 60 und T. 67 als Variationen des Tones a (und seiner Verfärbung as) im Rahmen einer erweiterten Kadenz verstehen lassen (die Töne sind im Beispiel oben im Bass zu sehen). Ein Modell für eine solche Kadenz lässt sich wie folgt skizzieren:
Harmonieskizze T. 60 bis zum Schluss
Die Analyse zeigt, wie Beethoven mit traditionellen Formungen spielt, indem er nach einer recht konventionellen Exposition die Modulationen der Durchführung chromatisiert (wie z.B. auch in der nur wenig später komponierten Klaviersonate in E-Dur Op. 14, Nr. 1), und symmetrische Gestaltungen auf verschiedene Arten erweitert (wie den Schluss des Satzes). Eine Besonderheit zeigt dabei die Stringenz der motivischen Ausarbeitung, die auf Brahms vorauszuweisen scheint und damit (zumindest im Sinne Schönbergs) auch als ein Wegbereiter der Moderne angesehen werden kann.
Rezeption und Bewertung
In der ersten Juni-Ausgabe der Allgemeinen musikalischen Zeitung findet sich eine kritische Rezension der Violinsonaten Op. 12:
Es ist unleugbar: Herr van Beethoven geht einen eigenen Gang; aber was ist das für ein bisarrer mühseliger Gang! Gelehrt, gelehrt und immerfort gelehrt und keine Natur, kein Gesang! Ja, wenn man es genau nimmt, so ist auch nur gelehrte Masse da, ohne gute Methode; eine Sträubigkeit, für die man wenig Interesse fühlt; ein Suchen nach seltener Modulation, ein Ekelthun gegen gewöhnliche Verbindungen, ein Anhäufen von Schwierigkeit auf Schwierigkeit, dass man alle Freude dabei verliert.
Rezension in Allgemeine musikalische Zeitung, Ausgabe 9. Juni 1799
Anscheinend entsprachen Beethovens Neuerungen nicht den ästhetischen Erwartungen des damaligen Rezensenten. Im 19. Jahrhundert hat sich dann ein fast gegenläufiges Narrativ etabliert, dass in Beethoven den Vollender einer klassischen Kompositionsweise und den Schöpfer der Sonatenform sah. Beide Sichtweisen verstellen den Blick auf Beethovens kreativen Umgang mit Tradition, die sich aus heutiger Perspektive als musikalischer Manierismus verstehen lässt und der wie eine künstlerische Dekonstruktion von Kompositionsweisen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkt.