Formenlehre: Tutorial 12 – Romantik: Vokalmusik des 19. Jahrhunderts
Klavierlied, Liederzyklus, Chorlied, Orchesterlied; Umgang mit Texten – PDF
Zurück zu Tutorial 11 – Romantik: Miniaturen und Zyklen, Kammermusik | Weiter zu Tutorial 13 – Romantik: Symphonik und Bühnenmusik
Klavierlied
Gattungshistorische Ursprünge: Lautenlieder der Renaissance, Monodien, Generalbasslieder (Oden, einzelne Arietten)
Satzprinzip: solistische, eher schlicht ausgestaltete Singstimme und Begleitung; Vertonungsvorlage ist ein Gedicht oder Volkstext
Die Gattungstitel Arie (air) und Lied sind zunächst synonym und werden erst im 18. Jahrhundert voneinander abgrenzbar
Wegfall des Generalbasses (ab der zweiten Hälfte des 18. Jh.) führt zur Verselbständigung des im Detail ausnotierten Klavierparts
(1) Gattungstyp Volkslied | (2) Gattungstyp Kunstlied |
---|---|
Werktitel: Lied, air, canzone, song; schlichter Tonfall | Werktitel / Subgattungen: Gesang, Romanze, Ballade, mélodie |
Volkstüml. Quellen bzw. Überlieferungen, Dichter oft unbekannt | Lyrikvertonung, artifizieller Anspruch, ans Publikum gerichtet |
– auch möglich: kunstliedartige Sätze von Volksmelodien | Besetzungsvarianten: Duett mit Klavier, Terzett mit Klavier |
– ein gedichteter Text kann einen ›Volkston‹ evozieren | Sonderformen: Vokalise, Lied mit obligaten Instrumenten |
Formtypen in Liedern | Merkmale und dramaturgische Konzepte |
---|---|
(a) Strophenlied | Jede Textstrophe wird identisch vertont, evtl. mit kleinen Abweichungen; nur eine Strophe wird notiert; die Vers- und Reimstruktur des lyrischen Texts bleibt erhalten und wird von der Musik verdeutlicht; Volkslieder und barocke Generalbasslieder sind stets strophisch, ebenso viele klassische Lieder; Strophenformen: häufig zwei- oder dreiteilig (periodische Syntax), gelegentlich Barform |
(b) Variiertes Strophenlied | Strophen können musikalisch voneinander abweichen, Wiederholungen bleiben deutlich; in den Strophen sind ähnliche Eingriffe möglich wie in Charaktervariationen: Tempo, Dynamik, Dur-Moll-Kontrast |
(c) Durchkomponiertes Lied | Keine (oder nur beschließende) Wiederkehr musikalischer Teile; Lied als musikalische Prosa; naheliegendste Option für ungebundene Gedichte, aber auch möglich bei Strophenlyrik; vor allem in Balladen: narrativ-dramatisches Element, evtl. Annäherung an Rezitative oder Opernszenen; pionierhaft ist Beethovens Adelaide; maßgebliche Wirkung im 19. Jahrhundert haben Schuberts und Loewes Balladen |

Liederkreis und Liederzyklus
Lieder werden zu Sammlungen oder Zyklen zusammengefasst; mögliche Gattungstitel: Liederkreis, Liederbuch (evtl. in Hefte unterteilt)
Häufig werden Gedichte nur eines Autors verwendet, die bereits als Texte einen Zyklus bilden: erstmals in Beethovens An die ferne Geliebte
Herstellung eines Zusammenhangs durch motivische Verbindungen bzw. Zitate (evtl. kehren ganze Liedteile wieder), durch die Tonartenfolge,
durch Anknüpfen an offen gehaltene Liedschlüsse; eine separate Aufführung einzelner Lieder eines Zyklus ist dennoch möglich und populär
Hörbeispiel – Franz Schubert: Die schöne Müllerin D 795 (1823), Nr. 1 bis Nr. 6 (nach Wilhelm Müller)
Weitere Beispiele – Schubert: Winterreise; Schumann: Liederkreis nach Eichendorff, Dichterliebe; Brahms: Die schöne Magelone; Wolf: Italienisches Liederbuch
Chorlied
Im 19. Jahrhundert gelangt a-cappella-Chormusik, die durch Musikvereine und Amateur-Liedertafeln gepflegt wird, zu neuer Geltung
Gattungstypen wie beim Klavierlied, vorwiegend aber volkstümliche und strophische Sätze für gleiche oder gemischte Stimmen
Satztechnisch eher schlicht: häufig homophone, choralartige Anlage, auch mit Klavierbegleitung; Zyklusbildungen sind seltener
Hörbeispiel – Fanny Hensel: Gartenlieder op. 3 (1847), Nr. 1: Lockung (nach Joseph von Eichendorff)
Weitere Beispiele – Mendelssohn: Lieder im Freien zu singen; Schumann: Romanzen und Balladen; Brahms: Lieder und Gesänge
Orchesterlied
Solostimme mit Orchesterbegleitung; Ursprung: Instrumentierungen von Klavierliedern, oft koexistieren zwei verschiedene Fassungen
Meist kein volkstümlicher, sondern artifizieller Charakter; erstmals bei Berlioz: Les nuits d'éte; häufig in Zyklen organisiert
Gattungshistorischer Vorläufer bis ins frühe 19. Jahrhundert: Konzertarie (außerhalb von Opern, evtl. gekoppelt mit Rezitativ)
Hörbeispiel – Richard Strauss: Vier letzte Lieder (1948), Nr. 3: Beim Schlafengehen (nach Hermann Hesse)
Weitere Beispiele – Mussorgskij: Lieder und Tänze des Todes; Mahler: Kindertotenlieder; Berg: Altenberg-Lieder; Strauss: Vier letzte Lieder
Sonderfall: Liedsymphonie – Mahler: Das Lied von der Erde; Zemlinsky: Lyrische Symphonie; Schönberg: Gurre-Lieder
Kategorien der Ästhetik von Musik und Text
Kategorie | Merkmale |
---|---|
Musikalische Poesie | Kompositorische Realisierung eines Versprinzips: Segmentierung in Zeilen und Strophen wird deutlich, selbst wenn kein Text zu Grunde liegt; lyrische Syntax vorherrschend, bevorzugte Verwendung der Idealtypen Periode und Satz |
Musikalische Prosa | Ungebundenheit der Klangrede, Abkehr von direkten syntaktischen Korrespondenzen, eines ergibt sich aus dem Anderen (›entwickelnde Variation‹); Erscheinungsformen: gregorianischer Choral, Vokalpolyphonie der Renaissance, Musikdrama |
AUFGABEN
(1) Machen Sie sich mit den unterschiedlichen Gattungs- und Besetzungstypen romantischer Liedkompositionen vertraut und hören Sie die Beispiele.
(2) Untersuchen Sie das Lied Seligkeit D 433 von Franz Schubert und gliedern Sie die Strophe mit Hilfe eines Formdiagramms.
(3) Untersuchen und gliedern Sie das Lied Der Wanderer D 489 von Franz Schubert. Identifizieren Sie Satztypen und wiederkehrende Teile.
(4) Untersuchen Sie Ausschnitte aus der Dichterliebe op. 48 von Robert Schumann (Nr. 1, 2, 5, 12, 16) und bestimmen Sie Elemente der Zyklusbildung.
(5) Untersuchen Sie das Chorlied Von alten Liebesliedern op. 62 Nr. 2 von Johannes Brahms und gliedern Sie die Strophe nach dem Modell einer Barform.
(6) Untersuchen Sie das Orchesterlied Liebst du um Schönheit von Gustav Mahler und stellen Sie die Strophenform des Texts der Vertonung gegenüber.