Formenlehre: Tutorial 15 – Musik nach 1945: Stilistiken und Strömungen

Unbestimmtheit, Aleatorik, Elektronik, Minimal Music, Tendenzen der Postmoderne – PDF


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Hinweis: Dieses Tutorial enthält aus urheberrechtlichen Gründen keine Notenbeispiele.

Kompositorische Unbestimmtheit

Zufall und indeterminacy
Prägung durch die New York School: interdisziplinäre Künstlergruppe, darunter die Komponisten John Cage, Morton Feldman und Earle Brown

  • Unbestimmtheit hinsichtlich der kompositorischen Aktion, etwa durch Auswahl aus einer Menge feststehender Elemente
    chance – Zufallsoperationen wie Würfeln, Münzwurf, Zahlenreihen etc. (Cage: Music of Changes; Feldman: Intermissions)
  • Unbestimmtheit hinsichtlich der Ausführung, etwa durch Einbeziehung nicht-intentionaler Aspekte und Improvisation
    indeterminacy, definiert als »the ability of a piece to be performed in substantially different ways« (Cage: 4'33'')

Aleatorik und offene Form
Bestimmte Aspekte oder Parameter der Musik (Form, Dauer, Tempo) werden nicht festgelegt, sondern den Interpreten überlassen
Die Interpret_innen gestalten das Werk durch Improvisation oder eigene Entscheidungen mit; Aufführungen sind flexibel und können jedes Mal anders sein
Theoretische Fundierung in mehreren Schriften von Cage sowie durch Umberto Ecos Essay Das offene Kunstwerk

  • Frei auszuführende Passagen oder Improvisationsanleitungen (Karlheinz Stockhausen: Aus den sieben Tagen; Mauricio Kagel: Metapiece)
  • Elemente werden vorgegeben, nicht aber deren Reihenfolge (Stockhausen: Klavierstück XI; Witold Lutosławski: Streichquartett)
  • Momentform: Flexible, mosaikartige Aneinanderreihung kurzer Segmente (Stockhausen: Kontakte, Momente)
  • Offene Form: Mehrdeutigkeit, Mobilität, Negation des abgeschlossenen Werkes (Pierre Boulez: Dritte Klaviersonate)

Hörbeispiel – John Cage: Music of Changes für Klavier (1951), Part I
Hörbeispiel – Karlheinz Stockhausen: Klavierstück XI (1956)
Hörbeispiel – Witold Lutosławski: Streichquartett (1964), Einleitender Satz


Klang, Geräusch, Elektronik

Futurismus
Als anarchistische Bewegung in der Literatur und bildenden Kunst bereits zu Beginn des 20. Jh. in Italien begründet
Bruitismus = musikalische Stilistik des Futurismus; Luigi Russolo und Francesco Pratella experimentieren mit Geräusch- und Lärmquellen
Bevorzugung von Schlagwerk und perkussiven Spielweisen (Edgard Varèse, George Antheil, Iannis Xenakis)
Imitation von Maschinenklängen durch Instrumente (Arthur Honegger: Pacific 231; Aleksandr Mosolov: Die Eisengießerei)
Verwendung von Alltagsmaterialien im Orchester (Krzysztof Penderecki: Fluorescences)

Musique concrète
Verwendung und Verfremdung von Tonaufnahmen musikalischer und nicht-musikalischer Klänge (Alltagsgeräusche, Lärm)
Einsatz von Zuspielaufnahmen (Varèse: Déserts) oder gänzlicher Verzicht auf Musikinstrumente (Pierre Schaeffer: Étude aux chemins du fer)

Elektroakustische Musik
Werke existieren nur als Tonaufnahme, nicht in Gestalt einer Partitur (Stockhausen: *Gesang der Jünglinge; Xenakis: Poème électronique)
Einbeziehung von Geräten (Sinusgeneratoren, Tonbandgeräte, Sampler) und neu entwickelten Instrumenten (Theremin, Ondes Martenot, Trautonium, Synthesizer)
Zentren des Experimentierens mit elektroakustischer Musik: Köln (Studio für elektronische Musik), Paris (IRCAM)

Hörbeispiel – Aleksandr Mosolov: Zavod (Die Eisengießerei) für Orchester op. 19 (1927)
Hörbeispiel – Edgard Varèse: Ionisation für 13 Schlagzeuger (1931) – Notentext
Hörbeispiel – Krzysztof Penderecki: Fluorescences für Orchester (1962)
Hörbeispiel – Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge für Tonband (1956)


Minimalismus

Abkehr sowohl vom traditionellen Komponieren als auch vom Serialismus, von Michael Nyman definiert als minimal music
Rückgriff auf dur-moll-tonale Harmonik; Formbildung bevorzugt durch Repetition, rhythmische Patterns, Ostinati und Klangflächen
Hauptsächlich ausgeprägt in Nordamerika (Steve Reich, Terry Riley, LaMonte Young, Philip Glass, John Adams); Tendenzen auch bei Ligeti und Pärt

Hörbeispiel – Philip Glass: Violinkonzert Nr. 1 (1987), I. Satz: Viertel = 104–120
Hörbeispiel – Arvo Pärt: Trivium für Orgel (1976)

Weitere postmoderne Strömungen und Tendenzen

  1. Klangflächenkomposition und Mikropolyphonie (György Ligeti): Gestaltung von atmosphärischen, sich langsam wandelnden Plateaus
    durch eine Vielzahl stark verschmelzende, nicht im Detail wahrnehmbarer Stimmeneinsätze (Illusionsrhythmik)
  2. Experimentelles Musiktheater (Cage), Fluxus-Bewegung; instrumentales Theater mit schauspielernden Musikern (Kagel)
  3. Polystilistik bzw. pluralistische Ästhetik: Zitate, Collagen, Verbindung scheinbar gegensätzlicher Einflüsse mit gezielten Stilbrüchen
    (zunächst in manchen Werken von Luciano Berio und Bernd Alois Zimmermann, später vielfältig im Schaffen Alfred Schnittkes)
  4. Mikrotonalität: theoretisch begründet bereits im frühen 20. Jahrhundert (Ferruccio Busoni); Pionierwerke bei Charles Ives, Alois Hába, Iwan Wyschnegradskij
    Spätere Ausprägung: Spektralmusik, basierend auf Partialtonreihen (Ansätze bei Giacinto Scelsi; Hauptprotagonisten: Gérard Grisey, Tristan Murail)
  5. Musique concrète instrumentale (Helmut Lachenmann): erweiterte geräuschhafte Spieltechniken auf traditionellen Instrumenten
  6. Komplexismus bzw. New Complexity (Brian Ferneyhough): sprunghafte Texturen, Mikrotonalität, komplexe rhythmische Teilungen

Hörbeispiel – György Ligeti: Lontano für Orchester (1967)
Hörbeispiel – Sofija Gubajdulina: Toccata-Troncata für Klavier (1971)
Hörbeispiel – Bernd Alois Zimmermann: Musique pour les soupers du Roi Ubu (1966)
Hörbeispiel – Helmut Lachenmann: Tanzsuite mit Deutschlandlied für Orchester (1980), Préambule