Die Murmelbahn-Metapher (Quintzug)

In diesem Artikel wird visualisiert, was Heinrich Schenker schon in den 1930 herausgefunden hat: Viele Werke der Musik lassen sich als Diminutionen einer absteigenden Tonleiter in der Melodie verstehen. Beginnt dieser Prozess von der Quinte, so spricht Schenker von einer „Quintzugmusik“, die die Stufen 5-4-3-2-1 durchläuft. Musikalischen Laien mag das nach einer abstrakten Formel klingen. Wem dieses Absteigen vor seinem inneren Ohr bewusst wird, der empfindet dabei in der Regel bereits intuitiv Vorstellungen eines Ankommens und einer Bekräftigung des Grundtons (Tonika stammt vom vom französischen Wort „tonique“, das man mit „kräftig“ oder „betont“ übersetzen könnte. In diesem Artikel soll diese implizite Vorstellung anhand verschiedener Beispiele visualisiert werden.

Wer mehr über dieses Tonleitermodell erfahren möchte, kann sich als Einstieg hier, hier und hier informieren.

Inhalt

Die Murmelbahn

Tonale Harmonik

Tonale Musik wird immer wieder als funktional beschrieben. Verschiedene Theoretiker haben Hypothesen darüber aufgestellt, wie die komponierte Musik einen logischen Zusammenhang ihres Verlaufs generiert, anstatt als beliebige Auswahl aus allen prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten zu erscheinen. So beschreibt Dmitri Tymoczko in Tonality: An Owner's Manual (2023), S. 323, Dreiklangsfortschreitungen als Auswahl einer Kette fallender Terzen. Starke Fortschreitungen sind demnach solche, die sich als Zusammensetzungen fallender Terzen ergeben: Fallende Terzen, fallende Quinten und fallende Septimen (entspricht steigenden Sekunden):

Wie Tymoczko anhand des D-Dur-Präludiums aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers von Bach zeigt (S. 325), machen solche Harmoniefolgen dort fast 95% aller Fortschreitungen aus (65% fallende Quinten, 19% fallende Terzen und 10% steigende Sekunden).

Tonale Melodik

Die Oberstimme folgt in der tonalen Musik einem anderen Paradigma: Dem stufenweisen Absteigen. Die naheliegende Stimmführung starker Akkordfolgen führt zwar in der Regel zu steigenden Sekunden, allerdings lassen sich durch kompositorische Tricks, wie die Einfügung von Durchgangsseptimen und gelegentlichen steigenden Quinten von der Tonika aus, stufenweise fallende Melodien erzeugen. Und schließlich ist damit nicht nur ein Fallen von Ton zu Ton gemeint: Auch größere Abschnitte lassen sich als Ausschmückung einer zugrundeliegenden fallenden Tonleiter verstehen. Diese beginnen bei einem Dreiklangston (Terz, Quinte oder Oktave) und „landen“ im Grundton. Man kann sich eine solche Tonleiter auch als Treppe vorstellen, die man absteigen muss, um am Ziel anzukommen. Eine Erklärung, die sich bei der physikalischen Mechanik bedient, könnte diesen Prozess auch wie folgt erklären: Ein Körper wird in einer bestimmten Höhe platziert und erlangt dadurch eine potentielle Energie, die er in kinetische Energie (Bewegung) umsetzen kann. Naheliegendes Beispiel wäre eine Murmel, die man auf eine Murmelbahn setzt, und die die Bahn herabrollt, bis sie unten angekommen ist, also ihre potentielle Energie vollständig in kinetische Energie umgewandelt hat:

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Die einzelnen Tonleiterstufen lassen sich als klingende Stationen auf diesem Weg verstehen, in diesem Fall 5-4-3-2-1:

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Sisyphos

Ein verwandtes und kulturgeschichtlich naheliegendes Bild ist das des König Sisyphos. Dieser wird in der griechischen Mythologie für seine Aufsässigkeit gegenüber den Göttern damit bestraft, in der Unterwelt bis in alle Ewigkeit einen Fels auf einen Berg hinaufhieven zu müssen, nur damit ihm dieser anschließend wieder hinabrollt. Von Camus, dem französischen Philosophen, wurde Sisyphos in seinem sinnlosen, aber unermüdlichen Tun als Symbol der menschlichen Existenz gedeutet.

Für die tonale Musik passt dieses Bild nur bedingt (oder in einer etwas schopenhauerischen Interpretation): In Musikstücken wird diese Tonleiter selten nur ein einziges Mal durchlaufen. Häufig braucht es mehrere Anläufe, in denen immer wieder bei der 5 begonnen wird, bevor die Musik den „Frieden“ der 1 findet. Das Ziel wäre nicht damit erreicht, den Felsblock ein für alle Mal auf dem Gipfel zu platzieren, sondern ihn ausrollen zu lassen.

Mozart, Klaviersonate A-Dur KV 331, 1. Satz

Eine typische achttaktige Periode beispielsweise besteht aus zwei solcher Anläufe. Der Vordersatz (T. 1–4) durchläuft die Stationen 5-4-3-2, während der Nachsatz den vollständigen Quintzug präsentiert (im Notentext mit Dachakzent dargestellt). Das Musterbeispiel eines solchen Verlaufs ist das Thema aus Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331:

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Mozart, Klavierkonzert A-Dur KV 488, 2. Satz

Im langsamen Satz in fis-Moll aus Mozarts Klavierkonzert A-Dur KV 488 finden wir einen ähnlichen Verlauf: 5-4-3-2—5-4-3-2-1. Das langsame Tempo des Quintzugs erfordert vom Hörer eine hohe Konzentrationsleistung. Zudem entspricht die dem Video zugrundeliegende Analyse des Vordersatzes nicht dem Oberstimmenverlauf. Die Stationen 4-3-2 sind einer Mittelstimme, gespielt von der linken Hand, entnommen. Eine erste Erkenntnis wird durch diese Darstellungsform deutlich: Wie die Kugel auf dem Weg von der 3 zur 2 sich ungeheuer verlangsamt, so bewirkt auch die Musik eine körperlich spürbare Stauchung kurz vor dem Ankommen. Verstärkt wird das durch die Anspannung des Neapolitanischen Sextakkords:

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Quelle: YouTube

Minigolf

Die im Hintergrund des gesamten Satzes wirkende fallende Tonleiter bezeichnet Heinrich Schenker als Ursatz. Seine Dogmatik sieht vor, dass die 1 mit einer Tenorklausel von der 2 aus erreicht wird, die Tonleiter also nicht noch den Leitton unterhalb der 1 erreicht und mit einer Sopranklausel schließt. Dies führt in der Analysepraxis zu einer gewissen Konstruiertheit, wenn die Melodie tatsächlich mit einer Sopranklausel schließt (wie beim Halbschluss in der Mitte des vorangehenden fis-Moll-Beispiels, der in der Oberstimme auf 2-1-7 statt 4-3-2 endet):

Ulrich Kaiser in »Die Fünfte mal anders«, in: Üben & Musizieren 113/2013, S. 14–22, bedient sich zu didaktischen Zwecken daher – entgegen Schenkers Dogmatik – auch der 7 unterhalb der 1 als vorletztem Ton eines Quintzugs, wenn das die Oberstimmenmelodie nahelegt. Es entsteht dabei eine Abwandlung der Murmelbahn-Metapher: Die Minigolf-Bahn. Der Ball verfehlt das Ziel beim ersten Anlauf, weil er mit einer zu hohen Energie über das Loch hinwegschießt und dieses erst von der „Rückwand“ abprallend erreicht.

Mozart, Klavierkonzert A-Dur KV 488, 2. Satz

Ich möchte Bild von der Minigolf-Bahn für den oben vorgestellten langsamen Satz aus Mozarts Klavierkonzert KV 488 verwenden. In diesem Beispiel kommt die Musik im Vordersatz nicht auf der 1, sondern erst auf der 7 zum Stehen. Mozart entscheidet sich für einen erneuten Anlauf vom Startpunkt (der 5), der schließlich zum Ziel und dem gleichzeitigen Orchestereinsatz führt:

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Quelle: YouTube

Himmlische Längen

Hier ist, außer meisterlicher musikalischer Technik der Composition, noch Leben in allen Fasern, Colorit bis in die feinste Abstufung, Bedeutung überall, schärfster Ausdruck des einzelnen, und über das Ganze endlich eine Romantik ausgegossen, wie man sie schon anderswoher an Franz Schubert kennt. Und diese himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann, und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen. Wie erlabt dies, dies Gefühl von Reichthum überall, während man bei anderen immer das Ende fürchten muß und so oft betrübt wird, getäuscht zu werden.

Robert Schumann (1840), Die C-Dur Sinfonie von Franz Schubert, in: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, S. 203–2011, Leipzig: Reclam.

Schubert, Fantasie f-Moll D 940

Eine „Romantik“, die „niemals endigen kann“ ist auch in Schuberts f-Moll-Fantasie D 940 für Klavier zu vier Händen „ausgegossen“. Ihr erster Satz, Allegro molto moderato, in ihrer vor sich hin schreitenden Achtelfläche ein Bild des wehmutsvollen Wanderers, führt zwar durch lokale Dominantseptakkorde immer wieder f-Moll/F-Dur als Tonika ein (T. 13–14, 36–38, 47–48), der Oberstimmenverlauf verweigert jedoch an all diesen Stellen ein Ankommen im Sinne eines erfolgreich durchlaufenen Quintzugs:

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Quelle: YouTube

Im Unterschied zum vorangegangenen Mozart-Beispiel hat hier der Neapolitaner eine eigene melodische Stufe zugewiesen bekommen (Min. 1:20–1:33). Bei Mozart ließ er sich als Durchgang zu einer Mittelstimme unter der 3 verstehen. Da bei Schubert bereits die 2 der Ausgangspunkt ist und auch im Anschluss die 3 nicht mehr erreicht wird, erscheint im Video der Neapolitaner melodisch als eine erniedrigte Variante der 2, als b2. Auch diese Stelle ist von einer großen angespannten Stauchung der musikalischen Intensität geprägt, deren Lösung Schubert an dieser Stelle noch verweigert. Im letzten Abschnitt des Videos in F-Dur verweilt Schubert auf der 5 im Wechsel mit der oberen Nebennote 6.

Was nun in der f-Moll-Fantasie folgt, ist eine Demonstration musikalischen Zwielichts, für die ich auf das Tutorial zur Tarnhelm-Transformation verweise, an dessen Ende die Passage ab T. 48 diskutiert wird, die als Durchführung des 1. Satzes der Fantasie betrachtet werden kann. Durch Stimmführungsoperationen von je zwei Stimmen in entgegengesetzter Richtung durchläuft die Musik einen fallenden Großterzzirkel, der wie so häufig in der Musik des 19. Jahrhunderts die sinnvolle Darstellung mit unserer Notenschrift überschreitet (für die zweite Tonart, des-Moll, bräuchte man eigentlich 8 b-Vorzeichen, eine orthografische Unmöglichkeit):

Erst nach dieser gefährdeten Welt gewährt uns Schubert zum ersten Mal nach über 100 Takten und 4 Minuten Musik ein Ankommen:

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Quelle: YouTube

Tbc.

Literatur

  • Allen Cadwallader/David Gagné, Analysis of Tonal Music: A Schenkerian Approach. New York: Oxford University Press 2007.
  • Dmitri Tymoczko, Tonality: An Owner's Manual. New York: Oxford University Press 2023.