Eine in der Literatur sehr häufig anzutreffende Modulation führt von einer Ausgangstonart in die Tonart der Unterquinte. In historischen Lexika wird diese Modulation auch als ›Motivo di cadenza‹ bezeichnet . In diesem Tutorial lernst du diese Modulation kennen und viele Beispiele, welche Formen sie annehmen und wie sie klingen kann.
Inhalt
Johann Gottfried Walther
Im Lexikon von Johann Gottfried Walther (1732), der mit Johann Sebastian Bach befreundet war, findet sich 1732 ein Eintrag zum Stichwort Motivo di Cadenza:
Motivo di Cadenza [ital.] Modif de Cadence [gall.] heißt; wenn die aus Wechselweise aufsteigenden Quart- und absteigenden Quint-Intervallis bestehende Grund=Stimme Anlaß giebt, und die andern Stimmen nöthiget, entweder vermittelst der scharffen terz formal=Cadenzen, oder, so an statt der nur gedachten scharffen terz, über der nota penultima die weiche terz genommen, welche alsdenn zur folgenden Grund=und letzten Note der Cadenz die Septima wird, Cadenze fuggite nacheinander zu machen.
Walthers Lexikoneintrag ist heute kaum mehr verständlich. Der Satz »wenn die aus der Wechselweise aufsteigenden Quart- und absteigenden Quint-Intervallis bestehende Grund=Stimme« ist allerdings ein Indiz dafür, dass Walther als Motivo di Cadenza eine spezielle Form der Quintfallsequenz angesehen hat. Eine solche klanglich außergewöhnliche Quintfallsequenz findet sich zum Beispiel in der Es-Dur Fuge im zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach (BWV 876, T. 45–54):
Das Beispiel beginnt mit einer groß angelegten Kadenz (cadenza doppia) nach c-Moll. Jedoch wird im dritten Takt des Beispiels der Leitton der Dominante G-Dur (zu c-Moll) tiefalteriert, was einen Abschluss in f-Moll ermöglicht. Das veranschaulicht eine Manipulation des Beispiels von J. S. Bach:
Betrachten wir für ein besseres Verständnis noch ein weiteres Beispiel von Bach aus der Fuge in d-Moll (BWV 875), die sich ebenfalls im zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers befindet:
In diesem Beispiel wird die Motivo-Form der Quintfallsequenz sehr kunstfertig verarbeitet. Es gibt drei Motive
- eine modifizierte Sopranklausel (im ersten Takt im Sopran),
- eine modifizierte Tenorklausel und
- ein Sechzehntelmotiv (mit dem der Alt beginnt).
Diese Motive ›wandern‹ anschließend oktavversetzt durch die Stimmen (Stimmtausch). Einen dreistimmigen Kontrapunkt, der so beschaffen ist, dass er ein oktavversetztes Vertauschen aller Stimmen ermöglicht, nennt man auch einen dreifachen Kontrapunkt der Oktave. Manipulieren wir versuchshalber auch in diesem Beispiel die tiefalterierten Leittöne in den Dominantharmonien:
Hierzu haben wir die Tiefalterationen der Sopranklauseln zurückgenommen, so dass alle Sopranklauseln jetzt in ihrer Lehrbuchgestalt erklingen:
- Sopran: d-c#-d und f-e-f,
- Alt: g-f#-g und
- Bass: c-h-c.
In der Manipulation wird daher jede Station der Quintfallsequenz (a-d-g-c-f) durch eine eigene kleine Kadenz angesteuert. Benutzt man diese Manipulation als Modell und betrachtet daraufhin noch einmal das Original von Bach, dann lässt sich verstehen, was Walther mit der Formulierung
[...] der nurgedachten scharffen Terz, über der nota penultima die weiche Terz genommen, welche alsdenn zur folgenden Note der Cadenz die Septima wird gemeint hat.
Denn der Leitton (nota penultima) einer jeden Dominante wird bei dem Erscheinen direkt vor dem Grundton erniedrigt, d.h., die große bzw. »scharffe Terz« der Dominante wird zu einer kleinen bzw. »weichen Terz« gemacht), übergebunden und auf diese Weise Septime der nächsten (quinttieferen) Harmonie. Erklingt in dieser Harmonie die Terz wiederum als große Dur-Terz, entsteht dadurch ein neuer Dominantseptakkord. Damit wiederholt sich die Wendung und kann sequenziert werden.
Verallgemeinernd lässt sich sagen:
Die Motivo-Technik (Erniedrigung des Leittons in einer Dominante einer Kadenz, um eine Quint tiefer zu gelangen) ist von Komponisten des 17., 18. und auch noch 19. Jahrhunderts so standardisiert verwendet worden ist, dass man von einem musikalischen Satzmodell sprechen kann. In Anlehnung an Walther wird das Satzmodell auch als Motivo di Cadenza bezeichnet und zwar selbst dann, wenn die Technik nicht im Rahmen einer Sequenz, sondern zum Modulieren in die Unterquinte verwendet wird.
Das Beispiel oben zeigt skizzenhaft den Beginn einer Fugenexposition in C-Dur. Zuerst erklingt der Dux in C-Dur, anschließend der Comes eine Quint höher, also in G-Dur (zu erkennen an der zweistimmigen G-Dur-Kadenz am Ende des Beispiels).
Soll nun der dritte Einsatz idealtypisch wieder als Dux bzw. in C-Dur erklingen, besteht nach dem zweiten Einsatz (Comes) die Notwendigkeit, ein Quinte abwärts zu modulieren. Das wiederum lässt sich über das Motivo-Satzmodell bzw. das Unterquintmodulationsmodell bewerkstelligen:
Um wieder zurück nach C-Dur zu gelangen, muss lediglich die Sopranklausel in der zweistimmigen G-Dur-Kadenz (g-f#-g) modifiziert und die so erzeugte kleine Terz (f♮) anstelle der
[...] nurgedachten scharffen Terz [...]
übergebunden werden. Wird dieses f♮ dann mit G-Dur harmonisiert, erklingt ein Dominantseptakkord, der in die Ausgangstonart C-Dur zurückführt.
In der Praxis finden gemessen am Modell oftmals Verkürzungen statt. In dem Beispiel oben könnte man z.B. die Wiederholung der Sopranklausel c-h-c in der zweiten Stimme vermeiden, indem man den Basseinsatz vorzieht: