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Franz Schubert – Der Zwerg. (3) Liebe und Gegenreligion

Die ›Liebe‹ und die deutsche Gegenreligion (P. v. Matt)

Marie-Agnes Dittrich geht beim Gedicht ›Der Zwerg‹ im von einer »absurden Geschichte« aus (Schubert-Handbuch, Zitat auf Seite 4). Auf Bewertungen wie diesen gründet sich das Vorurteil, Schubert hätte eine Vorliebe für mittelmäßige Texte besessen.
Der Dichter Matthäus von Collin war promovierter Jurist und wurde 1808 zum Professor für Ästhetik und Geschichte der Philosophie in Krakau berufen. Ab 1814 gab Collin die Allgemeine Literatur-Zeitung heraus, und einige Jahre später war er Begründer der Wiener Jahrbücher der Literatur. Es mag sein, dass man argumentieren kann, Collin sei ein mittelmäßiger Poet gewesen, aber angesichts von Lebenslauf und Vita erscheint es doch wenig wahrscheinlich, dass der Intellektuelle Collin einen absurden Text publiziert und ein intellektueller Komponist wie Schubert sich zu einer sorgfältigen Vertonung einer solchen Absurdität entschieden hätte. Wahrscheinlicher ist es, dass wir heute zur Bedeutung eines solchen Textes kein unmittelbares Verständnis mehr haben, wie es die Ausführungen von Peter von Matt in seinem Buch Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur nahelegen.

Nach Peter von Matt ist die ›Liebe‹ eine Chiffre mit einer politischen Dimension:

Dieses Größere und Umfassende kann nicht verstanden werden von einem zeitlosen Konzept von Liebe aus, nicht als eine mit der Menschennatur gegebene anthropologische Konstante, weil es keinen Liebesbegriff gibt, der nicht seinen historischen Hintergrund, seine genaue geschichtliche und soziale Determination hätte. Wenn Mörike sagt: ›die Liebe‹, dann zielt es also auf etwas, was sich nur in seiner Zeit und aus seiner Epoche heraus versteht.

Matt 1991, S. 210 f.

Nach Peter von Matt meint ›Liebe‹ im frühen 19. Jahrhundert:

Die Liebe übersteigt die Liebenden, weil sie das ist, was den Kosmos und die Erde durchwaltet, von Anfang an, vor dem Paar, in dem Paar und nach dem Paar. Das tönt wie ein milder oder rauschender Pantheismus, und es ist auch, wovon hier zu reden ist, ein je nachdem milder oder rauschender Pantheismus, aber damit ist nicht das Resultat benannt, sondern das Problem umrissen. Denn was bei der geistesgeschichtlichen Benennung immer wieder vergessen oder übersehen, vielleicht auch verdrängt wird, ist der aggressiv-agonale Charakter dieser Gegenreligion. Wer in so fundamentalem Sinn von ›der Liebe‹ spricht, der setzt jedesmal einen Akt der Gottesbeseitigung. Sei das der christlich-orthodoxe Vater-Gott, sei es der aufklärerisch-deistische Welt-Baumeister, er wird vom Thron geworfen in jedem Bekenntnis zur Liebe als der allesdurchwaltenden Energie. Die Liebes-Ehrfurcht, die Liebes-Frömmigkeit ist um so ehrfürchtiger und frömmer, je mehr sie durch ihre Hingabe verstecken kann, daß sie zugleich angreift. Nicht einfach in einer neuen Religion also besteht die letzte Einheit der klassisch-romantischen Epoche, sondern wesentlich im Oppositionscharakter dieser Religion, ihrer Beschaffenheit eben als einer Gegenreligion [...]

Matt 1991, S. 212 f.

Die Liebe ist gekennzeichnet durch einen »aggressiv-agonale[n] Charakter« und bildet eine Art Gegenreligion zum gesellschaftlich christlich-patriarchalen Religionssystem. In diesem christlich-patriarchalen System steht der allmächtige Gott bzw. »Welt-Baumeister« an der Spitze, seine Macht legitimiert die ganze Hierarchie vom Papst über den Pfarrer bis zum männlichen Familienoberhaupt. Hochzeiten, die mit dem Segen des Vaters ausgestattet sind, tradieren dieses Machtsystem in die folgenden Generationen. Der »aggressiv-agonale Charakter« der Liebe im Sinne einer Gegenreligion tritt hervor, wenn die Liebe die gesellschaftlichen Hierarchien in Frage stellt und außer Kraft setzt, wenn Liebende durch ihr Gefühl an etwas Höherem, Göttlichem teilhaben, sie ohne Grenzen und Hierarchien verbindet. Vor diesem Hintergrund bekommen die in Mozarts Zauberflöte so harmlos von Pamina und Papageno gesungenen Worte »Mann und Weib, und Weib und Mann, reichen an die Gottheit an« eine ganz neue Qualität.

Durch Zensur und Polizeigewalt hatte das Verklausulieren des Gemeinten in den Liebesgeschichten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts System. Denn nach Peter von Matt »übertrifft der alte Gott jedes Polizeisystem an Effizienz im Bereich öffentlicher Ruhe und Ordnung, für die breite Masse des Volkes ist er der einzige Garant schließlicher Gerechtigkeit und einstiger Kompensation allen Elends«. Und Intellektuelle (wie Collin und Schubert) waren nach Matt »unter der Drohung von Strick und Kerker bereit genug, durch zweideutiges Reden das eindeutige Wissen vor dem Volk und vor der Macht zu verbergen«:

Die deutsche Gegenreligion hat zum Kern den in die Natur gefahrenen, unendlich bewegten Gott, der, ›Liebe‹ genannt mit dem einfachsten aller Namen, das Ding an sich ausmacht für jene Erfahrung von Ich und Welt, welche der ganzen klassisch-romantischen Periode als magmatische Tiefe unterlagert ist. Es ist eine Religion der Intelligenz, welche Intelligenz sich in einer höchst ungenauen Position vorfindet zwischen der politisch-gesellschaftlichen Macht und der breiten Masse des Volkes. Und beide haben, aus unterschiedlichen Gründen, kein Interesse an neuen Glaubenslehren. Für die politisch-gesellschaftliche Macht übertrifft der alte Gott jedes Polizeisystem an Effizienz im Bereich öffentlicher Ruhe und Ordnung, für die breite Masse des Volkes ist er der einzige Garant schließlicher Gerechtigkeit und einstiger Kompensation allen Elends. Die Intelligenz aber, die es besser weiß und beides durchschaut, ist unter der Drohung von Strick und Kerker bereit genug, durch zweideutiges Reden das eindeutige Wissen vor dem Volk und vor der Macht zu verbergen.

a.a.O. S. 220.

Versucht man vor diesem Hintergrund die Ballade Der Zwerg zu interpretieren, dann handelt es sich bei dieser Geschichte um einen Liebesverrat und es wäre bezeichnend, wenn es zuträfe, dass das Gedicht in der Erstausgabe noch »Treuebruch« hieß (Dittrich 1997, S. 214). Denn Verräterin einer alle gesellschaftlichen Zwänge überwindenden Liebe − metaphorisch dargestellt durch die Schöne und das Biest − ist die Königin. Denn sie hat sich für den Königssohn, für ein Leben nach Konventionen und Normen entschieden und auf diese Weise die bedingungslose Liebe und Hingabe an eine Person (oder auch eine Idee) verraten. Mit diesem Verrat muss die Liebe sterben und mit ihr symbolisch Trägerin und Träger dieser alles durchwaltenden Macht. Peter v. Matt schreibt dazu:

Es gibt den gefesselten Gott, die in die gefrorene Natur eingesperrte, eingemauerte Liebe, und es gibt den Akt der Entfesselung, des Sprengens aller Ketten und Mauern. Die deutsche Gegenreligion kann sich ihre Gottheit nicht denken ohne greifbar physikalische Aggregatzustände, kann nicht von ihr reden ohne die Kategorien extremer Starre und extremer Bewegung. Dem Flüssigen, Fliegenden, Brennenden, Wachsenden steht das Gefrorene, Gelähmte, Erloschene, Gestockte gegenüber. Zwischen solchen Polaritäten bewegt sich ›die Liebe‹ in dieser Zeit auf dieser Erde [...] So gibt es große deutsche Dichtung vom Schmelzen und Aufbrechen des Eises und es gibt große deutsche Dichtung vom erneuten Zufrieren der Welt; vom Lebendigwerden der Steinfigur gibt es große Dichtung und dann wieder vom Versteinern des lebendigen Leibes, vom Zur-Puppe-Werden, Zum-Automaten-Werden [...] Nur wenn man die Geschichte kennt, die diese Liebe in Deutschland hat, und wenn man die Analogie begreift, die zwischen ihr und jedem konkreten Liebespaar besteht, versteht man, warum es so mörderisch zugeht in dieser Literatur. Der tote Werther, die tote Margarete, die tote Luise, der tote Posa, der tote Max und die tote Thekla, die tote Diotima, die tote Penthesilea, die tote Ottilie und der tote Eduard, der tote Leander und die tote Hero, der zerstörte Tasso, die zerstörte Linda, der zerstörte Schoppe, der zerstörte Nathanael, die zerstörte Lucile, die zerstörte Peregrina − die Landschaft der deutschen Literatur ist übersät mit den Leichen schöner Menschen, begeisterter, gefühls- und denkfähiger Wesen, in denen die Liebe als der in die Welt ausgegossene Gott sich selbst erfuhr und anheben wollte, das geknechtete, verkropfte und verkrüppelte Land zum irdischen Paradies umzuschaffen.

a.a.O. S. 221, S. 224 ff.

Literatur

  • Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München und Wien 1989, zit. nach der TB-Ausgabe München 1991.
  • Marie-Agnes Dittrich, »›Für Menschenohren sind es Harmonien‹. Die Lieder«, in: Schubert-Handbuch, Kassel und Stuttgart 1997.