Der Fortspinnungstypus

Als Fortspinnungstypus wird ein dreiteiliges Modell bezeichnet, das aus den Formfunktionen Vordersatz, Fortspinnung und Epilog besteht und das üblicher Weise zum Analysieren von Eingangsritornellen barocker Konzert- und Ariensätzen verwendet wird. Clemens Kühn schreibt zum Fortspinnungstypus in seiner Formenlehre (Formenlehre der Musik, Kassel 1987, S. 44/45):

Er hat drei Formglieder: Vordersatz − Fortspinnung − Epilog. Der Vordersatz zeichnet sich aus durch motivische Prägnanz [...] Weniger konturiert ist die Fortspinnung [...] In der Regel unterstützen Sequenzen diese lockere Fortführung. Den Epilog bildet eine mehr oder weniger erweiterte und ausgezierte Kadenz.

In seiner Formenlehre gibt Clemens Kühn als ein Beispiel den Anfang der Arie »Bereite dich Zion« aus dem Weihnachtoratorium BWV 248.

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Die drei Formfunktionen des Fortspinnungstypus lassen sich im Beispiel der Arie von Bach recht gut anhand der folgenden Kriterien bestimmen:

  • Der Vordersatz (beim Berühren der Abbildung = grün) ist 8 Takte lang und endet mit einem öffnenden E-Dur-Akkord in Quintlage (Halbschluss) in der Grundtonart,
  • die Fortspinnung (= orange) besteht aus einer Quintfallsequenz (A-d-G-C-F),
  • der Epilog (= rot) lässt sich als Kadenz interpretieren, die in T. 16 das Orchestervorspiel beendet und deren Vorbereitung über die Änderung der melodischen Gestaltung beim Eintritt des Fundaments F greifbar wird.

Als weiteres Beispiel führt führt Clemens Kühn das Orchesterritornell des Violinkonzerts in a-Moll Op. 3 Nr. 6 von Antonio Vivaldi an:

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In diesem Teil lassen sich die drei Formfunktionen anhand der folgenden Kriterien bestimmen:

  • Der Vordersatz (beim Berühren der Abbildung grün) ist 4 Takte lang und endet mit einem Einschnitt in der Grundtonart. Dieser Einschnitt ist zwar schwächer als der Halbschluss an der entsprechenden Stelle in der Arie Bachs, jedoch kontrastiert die I-V-I-Harmonik des Vordersatzes mit der
  • Fortspinnung (orange), in der eine vollständige Quintfallsequenz (A-d-G-C-F-h-E-a) zu hören ist. Ihr folgt der
  • Epilog (rot), der mit einer I-II-V-I-Kadenzharmonik die abschließend Kadenz in der Grundtonart vorbereitet. Die B-Dur-Farbe (Neapolitaner) kann dabei als Signal für den Beginn der letzten Formfunktion (Epilog) interpretiert werden.

Im Vergleich der beiden Beispiele von Clemens Kühn wird ersichtlich, dass die Bestimmung der Formfunktionen Vordersatz, Fortspinnung und Epilog nicht an festen Kriterien orientiert werden kann und auch, dass die Proportionen der Abschnitte sehr unterschiedlich ausfallen können (der Epilog bei Bach umfasst 25%, der Epilog bei Vivaldi beinahe 50% des ersten Formteils). Die abstrakten Formfunktionen Vordersatz, Fortspinnung und Epilog (im Sinne von Anfang, Mitte und Ende) des Modells ergeben einerseits viele Anwendungsmöglichkeiten für die Analyse erster Formabschnitte, andererseits treten nicht selten Schwierigkeiten bei der konkreten Bestimmung der einzelnen Formfunktionen auf. In den musikwissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde das Modell Fortspinnungstypus von Wilhelm Fischer.