Das Thema Beantwortung eines Fugenthemas lässt sich aus theoriegeschichtlicher Sicht und aus kompositionsgeschichtlicher Sicht betrachten. Für das Fugenschreiben sind die Regeln, die sich theoriegeschichtlich durchgesetzt haben, sicherlich hilfreich. Jedoch sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die Themenbeantwortung in Fugen des 17. und 18. Jahrhunderts keineswegs immer so verläuft, wie die Theorie es beschreibt oder anders ausgedrückt: Wie ein Thema beantwortet worden ist, war in erster Linie eine Frage der Ästhetik und nicht der Technik.
Inhalt
Theoriegeschichtliche Perspektive
Aus theoriegeschichtlicher Sicht gibt es zwei Möglichkeiten der Beantwortung:
1. Reale Beantwortung:
Wenn in einem Thema bzw. im Dux der Grund- oder Quintton keine exponierte Rolle spielt, erhalten Sie den Comes, indem Sie das Thema einfach in die Tonart der Oberquinte transponieren (also beispielsweise von C-Dur nach G-Dur). Dieses Verfahren lässt sich gut anhand des Themas der Fuge in C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier (Band I) von J. S. Bach studieren:
2. Tonale (besser: modale) Beantwortung:
Wenn in einem Thema (bzw. der Dux) der Grund- oder Quintton eine wichtige musikalische Bedeutung hat, erhalten Sie den Comes, indem Sie Grundton durch Quintton bzw. Quintton durch Grundton ersetzen. Nach dieser Modifikation des Themas transponieren Sie die übrigen Töne wie gehabt in die Tonart der Oberquinte. Dieses Verfahren lässt sich gut anhand des Themas der Fuge in C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier (Band II) von J. S. Bach studieren. Bewegen Sie den Slider der Abbildung, um die Modifikation (= rot) und Transposition (= grün) bei der Themenbeantwortung zu sehen.
Praktische Vorgehensweise:
Wenn Sie ein Fugenthema im Stile des 18. Jahrhunderts beantworten wollen,
- wandeln Sie im Themenkopf bzw. zum Beginn des Themas Quinttöne in Grundtöne und Grundtöne in Quinttöne um.
- Notieren Sie sich die Tonstufen der übrigen Töne in der Grundtonart und transponieren Sie diese Töne in die Tonart der Oberquinte.
Das folgende Beispiel veranschaulicht diese beiden Arbeitsschritte noch einmal. Gegeben ist das folgende Thema:
Wandeln Sie den Quinton c und Grundton f am Beginn des Dux zu Grundton f und Quintton c am Beginn des Comes um:
Diese Töne (= rot) bilden das Modusgerüst der Tonart.
Übersetzen Sie die übrigen Töne des Themas in Zahlen, mit denen Sie sich die Tonstufen in der Ausgangstonart F-Dur vergegenwärtigen (orangene Noten: a = 3 in F-Dur, d = 6 in F-Dur, g = 2 in F-Dur usw.). Transponieren Sie nun, indem Sie für den Comes diese Zahlen in der Tonart der Oberquinte C-Dur notieren (blaue Noten: 3 = e in C-Dur, 6 = a in C-Dur, 2 = d in C-Dur usw.):
Wenn Sie sich beim Beantworten von Fugenthemen sicher fühlen, können Sie zum nächsten Tutorial Fuge 2 – Schreiben einer Exposition wechseln. Andernfalls lesen Sie die folgenden Ausführungen für ein tieferes Verständnis der Beantwortung von Fugenthemen im 18. Jahrhundert.
Historischer Kontext
1739 notierte der deutsche Komponist und Musikschriftsteller Johann Mattheson in seinem Hauptwerk Der vollkommene Capellmeister eine dreiteilige Fugen-Regel:
Die allgemeine und in dreien Gliedern bestehende Fugen=Regel ist diese: Man soll die Gräntzen der Ton=Art nicht überschreiten, weder unten noch oben; mit dem Gefährten nicht in einem dem Modo zuwiederlaufenden Klange anheben; übrigens aber die Intervalle bey der Versetzung so gleich und ähnlich machen, als nur mit guter Art geschehen kan. Das erste Glied ist das wichtigste, doch leidet es seine Ausnahm. Das zweite ist das nothwendigste bey ordentlichen Fugen, nicht bey ausserordentlichen; und das dritte muß am meisten nachgehen. Es verdient auch die Natur der Ton=Art allemahl mehr Achtung, als das übrige.
In heutige Fachsprache übertragen sollte man nach Johann Mattheson:
- die »Grenzen« der Tonart nicht überschreiten,
- den Comes (»Gefährten«) nicht in einem der Tonart »zuwiderlaufenden Klange« anheben und
- möglichst die Intervallstruktur des Dux (»Führer«) beibehalten.
Die Grenzen der Tonart nicht überschreiten
Um zu verstehen, was Mattheson meinte, als er mahnte, die Grenzen einer Tonart nicht zu überschreiten, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass Tonarten früher als Zusammensetzung aus Quart- und Quintgattungen verstanden worden sind. Der Oktavraum d−d beispielsweise konnte sowohl aus einer Quart- und Quintgattung als auch aus einer Quint- und Quartgattung zusammengesetzt werden. Im ersten Fall repräsentierte die Ordnung die hypomixolydische, im zweiten die dorische Tonart:
Auf der einen Seite konnten verschiedene Quart- und Quintgattungen verschiedene Tonarten repräsentieren. Auf der anderen Seite stellte man sich jedoch auch eine Tonart als Zusammensetzung von gleichen Quart- und Quintgattungen in verschiedenen Tonlagen vor. Das veranschaulicht die folgende Abbildung aus dem 3. Band des Syntagma Musicum (1619) von Michael Praetorius. Die dorische Tonart, die hier abgebildet worden ist, wird mithilfe der Stimmenumfänge von Bassus (Bass), Tenor, Altus (Alt) und Cantus (Sopran) dargestellt. Bass und Alt bewegen sich dabei in der Quart- und Quintgattung (bzw. aus heutiger Sicht im hypodorischen Modus), Tenor und Sopran hingegen in der Quint- und Quartgattung (also im dorischen Modus):
Schauen wir uns mit vor diesem Hintergrund noch einmal den Beginn der Fuge in C-Dur aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach an:
Es lässt sich erkennen, dass die Themenköpfe im Sinne der Quart- und Quintgattung aufeinander abgestimmt wurden und die Grundtonart (im Beispiel C-Dur) veranschaulichen sollten. Für den Dux hat Bach in dieser Fuge die authentische Gestalt gewählt (Darstellung der Grundtonart über die authentische Oktave c-c bzw. die Zusammensetzung Quint- und Quartgattung), der Comes antwortet hingegen in der plagalen Gestalt (Darstellung der Grundtonart über die plagale Oktave g-g bzw. die Zusammensetzung Quart- und Quintgattung). Und in den Gerüsttönen des Modus sah Mattheson die Grenzen einer Tonart (in unserem Beispiel die Grenzen der Tonart C-Dur).
Eine reale Transposition des Dux hingegen hätte diese Grenzen gesprengt und wäre als Verstoß gegen die Grenzen der Tonart C-Dur angesehen worden, weil der Comes in diesem Fall durch die Oktave g-g und die Zusammensetzung aus Quint- und Quartgattung ein Repäsentant der Tonart G-Dur gewesen wäre:
Den Comes nicht in zuwiderlaufenden Klängen anheben
Sicherlich hätte die reale Transposition des Dux nach G-Dur damit auch schon gegen den zweiten Teil der Regel Matthesons verstoßen, nämlich dass ein Comes (Gefährte) nicht in einem der Tonart »zuwiderlaufenden Klange« anheben soll. Schauen wir uns hierzu eine Themenbeantwortung aus einer Canzona von Girolamo Frescobaldi an, der gut 100 Jahre vor J. S. Bach und J. Mattheson geboren worden ist:
Nach der Mattheson-Regel müsste das Fugenthema wie folgt beantwortet werden. Dabei wurde wie im Vorangegangenen beschrieben zuerst der Themenkopf entsprechend der a-Tonart modifiziert (beim Sliden der Abbildung rot eingefärbt), anschließend wurden die übrigen Töne nach e transponiert:
Frescobaldi allerdings beantwortet dieses Thema auf eine andere Weise:
Eine Frage der Ästhetik
Frescobaldis Gestalt des Dux verweist auf die Quint- und Quartgattung des a-Modus, sein Comes auf die Quint- und Quartgattung des d-Modus. Er verstößt daher an dieser Stelle gegen die gut 100 Jahre später formulierte Fugen-Regel Matthesons (und vor 1650 lassen sich zahlreiche weitere Beispiele für solche Themenbeantwortungen finden). Daher können wir feststellen: Matthesons Regel folgt einer Ästhetik des 18. Jahrhunderts und dürfte daher in erster Linie für Fugen von Händel, Telemann, Bach und seine Zeitgenossen eine Orientierung bieten. In früheren Zeiten scheinen reale Beantwortungen nicht gegen den Geschmack der Zeit verstoßen zu haben (wobei der Unterquintbeantwortung wahrscheinlich eine besondere Bedeutung zugekommen ist).
In besonderen Fällen finden wir die Unterquintbeantwortung auch noch bei J. S. Bach. Schauen Sie sich hierzu die Exposition der Fuge in g-Moll für Violine Solo (aus BWV 1001) an:
Johannn Sebastian Bach , 6 Sonatas und Partitas For Violin Solo
Violine: Arthur Grumiaux | Lizenz: CC0
Wenn Sie den Slider über die Notenabbildung ziehen, sehen Sie das Thema zweimal in der Dux-Form (in g-Moll, Bach notiert allerdings noch traditionell als g-Dorisch) und zweimal in realer Unterquintbeantwortung in c-Moll (mit Verwendung der b-Vorzeichnung für den Ton e). Warum hat sich Bach, dessen Themenbeantwortungen ja in sehr vielen Fällen der Fugen-Regel Matthesons entsprechen, im Fall dieser g-Moll-Fuge nicht an die Grenzen der Tonart gehalten? Erstellen wir hierzu versuchsweise eine regelkonforme Beantwortung des Fugenthemas:
Die modus-berücksichtigende Beantwortung wäre zwar möglich gewesen, hätte jedoch die musikalische Struktur des Themas zerstört, für das die viermalige Tonwiederholung und das Vorhaltsgefühl am Ende der Tonwiederholungen charakteristisch sind. Denn eine regelkonforme Beantwortung hätte zu einer weiteren Tonwiederholung und damit zur Zerstörung des Vorhaltsgefühls geführt. Um also die Struktur des Themas zu erhalten, hat sich Bach über die erste und zweite Regel (= Beachtung der Grenzen der Tonart, keine tonartfremden Klänge) hinweggesetzt und für den Comes die reale Unterquinttranspositon gewählt. Das engräumige Thema und die Unterquinttransposition sind dabei perfekt auf die Stimmung der Geige abgestimmt (die vier in Quinten gestimmten Saiten g-d-a-e). Wir können also auch festhalten, dass es durchaus musikalische Gründe geben kann, die Regel Matthesons nicht zu berücksichtigen (was Mattheson selbst übrigens angemerkt hat: »doch leidet es seine Ausnahm«).
Die Intervalle bey der Versetzung möglichst gleich machen
Dass der dritte Teil (»die Intervalle bey der Versetzung so gleich und ähnlich machen, als nur mit guter Art geschehen kan«) der Regel Matthesons die meisten Ausnahmen ›leidet‹, ergibt sich aus der Beachtung der ersten beiden Teile der Regel von selbst: Die Berücksichtigung der Grenzen der Tonart sowie die Vermeidung tonartenfremder Klänge lassen sich nur über eine Veränderung des Themas erreichen.