Prima-Vista-Singen – variables Solfège

Prima vista

Prima vista bedeutet auf italienisch auf den ersten Blick. Die deutsche Bezeichnung vom Blatt Singen meint dasselbe: ohne lange zu überlegen singen zu können, was auf dem Notenblatt steht. Ist das überhaupt nötig oder wünschenswert? Ist es nicht besser, sich erst hinreichend vorzubereiten, bevor man singt?

Das Trainieren des Vom-Blatt-Singens verfolgt im Grunde andere Ziele. Wer in der Lage ist, einen Notentext schnell zu singen, trainiert dabei eine wichtige musikalische Kompetenz: die Tonvorstellung. Vielleicht ist die Fähigkeit der Tonvorstellung sogar die zentrale Fähigkeit für Musikerinnen und Musiker. Wenn wir also Prima-Vista-Singen üben, dann in erster Linie deshalb, weil wir dadurch souveräner werden im Umgang mit den Tönen, aus denen Musik besteht.

Solfège

Das Wort Solfège kommt aus dem Französischen und ist verwandt mit dem im Deutschen gebräuchlichen Fremdwort Solmisation: Gemeint ist das Singen auf Tonsilben wie Sol, Mi, Fa etc. Das unterscheidet die Solmisation vom Singen auf neutrale Silben wie "trallala" oder "noo noo noo". Solfège, das französische Wort, bezeichnet dabei nicht nur diese Singpraxis, sondern darüber hinaus auch das Unterrichtsfach, in dem an den Musikausbildungsstätten das Singen auf Tonsilben gelehrt wird.

Das Solmisieren ist eine sehr alte musikalische Praxis, die sich bereits im Mittelalter nachweisen lässt. In der heutigen Zeit wird im Allgemeinen zwischen zwei methodischen Ansätzen unterschieden:

  1. relative Solmisation
  2. absolute Solmisation

Mit den Silben der relativen Solmisation wird beim Singen das Umfeld eines Tons beschrieben, also ob sich beispielsweise über einem Ton ein Halb- oder Ganztonschritt gefindet und welches Intervall ein Ton unter sich hat. Der Musikwissenschaftler Jacques Handschin hat in diesem Zusammenhang von einem Toncharakter der Töne gesprochen. Zu spüren, welchen Charakter ein Ton hat, ist eine sehr persönliche Sache. Vermutlich liegt aber gerade hierin die Stärke und das Potenzial dieser Methode.

Das prominenteste Silbensystem der relativen Solmisation ist vermutlich die Tonika-Do-Methode von Agnes Hundoegger. Die Silben Do, Re, Mi, Fa, Sol, La und Ti entsprechen den 7 Tonleiterstufen einer Durtonleiter, die Silbenfolge Sol - Mi - *Fa * - Re - Do also den Tonleiterstufen 5, 3, 4, 2, 1 bzw. in D-Dur den Töne a-fis-g-e-d. Die Tonika-Do-Methode ist zwar nicht die einzige Methode der relativen Solmisation, doch ist sie sehr bekannt und weit verbreitet.

Die absolute Solmisation verfolgt ein völlig anderes Ziel. Hier beschreibt man beim Singen nicht die Rolle, die ein Ton in einem Kontext einnimmt, sondern dessen Tonhöhe selbst. Die Silben Do, Re, Mi, Fa, Sol, La und Si (nicht Ti) sind dabei einfach als französische oder italienische Tonnamen zu verstehen. Die Silbenfolge Sol- Mi- Fa- Re- Do beispielsweise findet dann Verwendung, wenn man in C-Dur die Töne g-e-f-d-c singt (oder auch g-es-f-d-c in c-Moll: Mi wäre in diesem Fall dass als Mi bémol zu verstehen, was ab einem gewissen Niveau im französischen Solfège-Unterricht stillschweigend vorausgesetzt wird.)

In der Geschichte der Gehörbildung standen sich Vertreterinnen und Vertreter beider Systeme immer wieder in offener Feindschaft gegenüber und auch heute noch gelten vielen die Methoden als unvereinbar. An den Musikhochschulen in den verschiedenen europäischen Ländern wird deshalb zumeist die eine Tradition gepflegt, die andere dagegen ignoriert.

Im Folgenden wird ein flexiblerer Ansatz vorgeschlagen:

Variables Solfège

Nehmen wir an, wir sollen die folgende Melodie vom Blatt singen, und ein Klavier begleitet uns:

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Im Audiobeispiel zu hören war zunächst nur die Begleitung. Versuchen wir unser Glück und singen die Melodie dazu! Überprüfen lässt sich unser Singen mit dem folgenden Audiobeispiel, in dem auch die Melodie zu hören ist:

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Vielleicht haben Sie auf neutralen Tonsilben gesungen, was natürlich immer möglich ist und oft den Vorteil größerer Natürlichkeit und Sanglichkeit hat. Beim Singen auf no oder la jedoch bekommt man keinerlei Aufschluss über die Töne, die man singt. Solfège verlangt genau dies und trainiert daher sehr effizient das Bewusstsein für Tonhöhen. Schauen wir uns die oben erwähnten Methoden genauer an:

  • absolute Solmisation:

Die Töne unseres kurzen Beispiels werden auf die Silbenfolge sol, re, mi, sol, fa gesungen. Genauso gut denkbar, wenn auch nicht ganz so gut singbar sind die deutschen Tonnamen g, d, e, g, f. Man macht sich (und anderen) beim Singen klar, welche Tonhöhen erklingen.

  • relative Solmisation (Tonika-Do)

Da das Beispiel in F-Dur steht, steht die Silbe Do für den Grundton f. Die Töne werden demnach auf die Silbenfolge Re La Ti Re Do gesungen. Genauso gut denkbar (wenn auch wieder nicht ganz so gut sanglich) wäre das Singen auf Zahlen: 2, 6, 7, 2, 1.

  • relative Solmisation (lokal-vertikal)

Diese Methode ist wenig verbreitet. In manchen Situationen kann es aber sehr aufschlussreich sein, wenn man sie verwendet. Lokal-vertikal zu denken heißt, sich nicht auf den Grundton der ganzen Phrase zu beziehen, sondern auf die lokalen Grundtöne der Akkorde. Die Zahlenfolge wäre dann 1, 5, 3, 5, 1. Zur Erläuterung: Wenn wir den Akkord auf Schlag 1 des zweiten Taktes als einen kleinen g-Moll-Septakkord in erster Umkehrung auffassen, dann singt die Singstimme mit den Tönen g und d Grundton und Quintton dieses Akkords. Daher 1, 5. Auf Schlag 3 erklingt dann ein C-Dur-Dominantseptakkord (bzw. ein kleiner C-Dur-Septakkord), daher die Zahlensilbenfolge 3, 5, denn e und g sind Terzton und Quintton des C-Dur-Dominatseptakkords. Der letzte Akkord ist F-Dur, deswegen wird hier Zahl 1 gesungen. Wenn wir übrigens den ersten Akkord von Takt 2 nicht als kleinen g-Moll-Septakkord, sondern im Sinne der Funktionstheorie nach Hugo Riemann als B-Dur mit einer Sixte ajoutée, dann hieße die Silbenfolge natürlich 6, 3, 3, 5, 1.

  • relative Solmisation (rein intervallisch)

Diese Methode wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt und ist im Falle einer so eindeutig tonalen Melodie wie der oben abgebildeten nur bedingt empfehlenswert. Denn hierbei werden Töne in ihrer Abfolge rein intervallisch aufeinander bezogen, ausgehend von einem gegebenen Anfangston. Oft verwendet man dabei nicht Silben, sondern singt Wörter, wie einen Text: "No, Quint, kleine Sept, kleine Terz, große Sekund." Manche Bücher, die sich vorwiegend mit nicht-tonaler Musik beschäftigen, gehen sogar vom Halbtonschritt als Maßeinheit aus (wie das in der Pitch-Class-Set-Theory der Fall ist). Die Silbenfolge, wieder in Zahlen gesungen wäre dann, ausgehend vom gegebenen Startton, den man auf no singt: No, 7, 10, 4, 2. Angesichts tonaler Melodien ist diese Herangehensweise sehr kompliziert und wenig hilfreich. In einem freitonalen Kontext hingegen kann sie unter Umständen brauchbar sein.

Variables Solfège geht davon aus, dass es sinnvoll ist, nicht nur eine der beschriebenen Methoden zu üben, sondern verschiedene bei Bedarf anwenden zu können. Natürlich wird, je nach Zielsetzung, eine der drei genannten Methoden im Vordergrund stehen. Zu behaupten aber, wie dies oft mit großer Heftigkeit getan wird, eine der beschriebenen Methoden sei grundsätzlich besser als die anderen, wirkt ideologisch motiviert. Denn welche Methode die bessere ist, hängt immer auch von der Zielsetzung und der Person ab, die sie verwendet.

Übungen

Probieren Sie in den folgenden Beispielen die im vorangegangenen beschriebene Methoden aus:

  • relative Silben
  • absolute Silben
  • Zahlen
  • vertikal-lokal-grundtonbezogen
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