Die Sexten

Es gibt kleine und große Sexten. Große Sexten bestehen aus vier diatonischen Ganztonschritten und einem diatonischen Halbtonschritt, kleine Sexten aus drei Ganz- und zwei Halbtonschritten:

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Sexten sind Komplemetärintervalle zu Terzen, das heißt, eine kleine Terz und ein große Sexte bzw. eine große Terz und eine kleine Sexte ergänzen (komplementieren) sich zu einer Oktave. Wie große Terzen werden auch die großen Sexten in der Gehörbildung gerne mit Dur, kleine Sexten dagegen mit Moll in Verbindung gebracht. Auch hier jedoch sind diese Assoziationen problematisch, weil in spezifischen Kontexten große Sexten nach Moll und kleine nach Dur klingen können:

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Parallele Sexten im Außenstimmensatz finden sich häufig im Fauxbourdon. Zu Bachs Zeiten wurden dann unter dem Begriff und seiner italienischen Entsprechung Falso bordone lediglich parallele Sextakkorde verstanden, was sich einem Eintrag im Musicalischen Lexicon (1732) des mit J. S. Bach befreundeten Johann Gottfried Walther entnehmen lässt:

[...] worinnen die Ober=stimme gegen die Untere lauter Sexten, die Mittlere aber gegen die untere Tertien, und gegen die obere Quarten machet [...]

Das Wort faux bzw. falso bezog Walther anscheinend auf das Fehlen des "eigentliche[n] Ende[s] der Harmonie und des Accords" (das heißt auf ein Fehlen des Grundtons). Hierin könnte auch der Grund liegen, warum in der Musik des 18. Jahrhunderts Falso-bordone-Sätze symbolisch für Falschheit oder Sündhaftigkeit stehen konnten.

Johann Hermann Schein hat in der Motette Da Jakob vollendet hatte zum Text "und weinet über ihn" einen Falso bordone mit einem ganz besonderen Ausdruck komponiert. Der Ton gis, die Verfärbung des h (im Sinne einer Pathopoeia, vgl. hierzu das Tutorial zum Neapolitaner) in Verbindung mit dem Wechsel der Betonungen vom geraden (4/2) zum ungeraden Zeitmaß (3/4) sind in ihrer Klanglichkeit ein einzigartiges Zeugnis und eindringliche Vertonung des Textinhalts:

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Johann Hermann Schein, Da Jacob die Rede vollendet hatte, aus: Israelis Brünnlein / Fontana d'Israel (1623)
Weser-Renaissance, Ltg.: Manfred Cordes, Quelle: YouTube

Doch Fauxbourdon-Sätze haben nur selten eine solch eindringliche Wirkung wie in dem geistlichen Madrigal J. H. Scheins. Sehr oft wurde die Satztechnik einfach nur um ihrer Klanglichkeit eingesetzt, so zum Beispiel im Thema des spielerischen und virtuosen Schlussssatzes der Klaviersonate in C-Dur op. 2, Nr. 3 von Ludwig van Beethoven:

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Die kleine Sexte als Meldoieintervall hat darüber hinaus eine eigene kleine Geschichte: Seit dem 13. Jahrhundert wurde sie in einigen Lehrschriften zusammen mit der kleinen Sekunde, dem Tritonus und der großen Septime zu den Discordantiae perfectae gezählt. Große Sexte, große Sekunde und kleine Septime hingegen galten als Discordantiae imperfectae. Christoph Bernhard, der als Meisterschüler von Heinrich Schütz gilt, verstand die kleine Sexte (Saltus hexachordi minoris) als Saltus duriusculus ("etwas harter Sprung"). Diesem ursprünglichen Dissonanzempfinden für die kleine Sexte mag es geschuldet sein, dass auch Johann Gottfried Walther die kleine Sexte noch als Intervall zur Versinnbildlichung des (schmerzhaften) Ausrufs empfahl:

*Exclamatio (lat.) Exclamation (gall.) εxφωνησις (gr.) ist eine Rhetorische Figur, wenn man etwas beweglich ausruffet; welches in der Music gar füglich durch die aufwerts springende Sextam minorem geschehen kan.

Die von Walter erwähnte Bedeutung der kleinen Sexte im 17. und 18. Jahrhundert mag mit dafür verantwortlich sein, dass viele Komponisten auch im 19. Jahrhundert noch an die kleine Sexte dachten, wenn es darum ging, Liebe und Liebesschmerz zu vertonen. Zum Beispiel wählt Franz Schubert im Liedes Die Liebe hat gelogen D. 751 (1822) eine kleine Sexte zum Beginn der Gesangsmelodie:

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Bis in das 19. Jahrhundert hinein lassen sich viele bedeutungsvolle kleine Sexten in Verbindung mit der Vertonung von Liebesleid aufzeigen. In dieser Tradition könnte man auchden Anfang des Lebesdramas Tristan und Isolde von Richard Wagner sehen, dessen gewichtige Oper mit einer kleinen Sexte beginnt, die das tragische Ende vorausahnen lässt:

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Richard Wagner, Tristan und Isolde, Wiener Philharmoniker, Ltg.: Sir Georg Solti
Erscheinungsdatum: 1961, Lizenz: CC0 (Public Domain in Deutschland)

In dieser Bedeutung findet sich die kleine Sexte selbstverständlich auch noch in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Der französischer Komponist und Akkordeonist Francis Lai hat z.B. in der Titelmelodie des Films Love Story (1970) die kleine Sexte ausdrucksvoll verwendet:

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Francis Lai, Titelmelodie Love Story (1970), originaler Soundtrack, Quelle: YouTube