Die Prime und die Oktave

Prime bzw. Einklang und Oktave zählen zu den perfekten Konsonanzen. Während der Einklang aus theoretischer Sicht lange Zeit nicht als Intervall galt, dürften Oktave und Einklang (z.B. zwischen Knaben und Männerstimmen) für die Praxis von Anfang an bedeutsam gewesen sein (aus dem einfachen Grund, dass diese schwebungsfreien Intervalle schwer zu intonieren sind). Die Schwebungsfreiheit muss dabei als Ruhe empfunden worden sein, denn schon früh finden sich Einklang und Oktave am Ende von musikalischen Verläufen sowie zur Gliederung improvisierter bzw. komponierter Musik.

In der Musica enchiriadis, dem ältesten, wahrscheinlich schon im 9. Jahrhundert geschriebenen Dokument früher Mehrstimmigkeit, werden chorische Stegreifausführungen beschrieben (siehe Quartorganum), deren Anfang und Schluss Oktaven und Einklänge bilden. In der Occursus-Lehre des Guido von Arezzo (occurit = lat. [dem Cantus] entgegenlaufen) aus dem 11. Jahrhundert gibt es verschiedene Arten von Schlussbildungen. Allen ist gemeinsam, dass ein spannungsreicheres Intervall (Terz, Sekunde) in ein spannungsärmeres (die Prime bzw. den Einklang) überführt wird:

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Im Zuge eines Loslösungsprozesses von der improvisierten Mehrstimmigkeit wurden seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert Klangfortschreitungen in perfekten Konsonanzen geächtet (Verbot von Oktav- und Einklangsparallelen). Kontrapunktische Sätze sollten sogar auf sogenannte ›verdeckte‹ Oktav- und Einklangsfolgen verzichten, damit auch im Falle improvisierter Durchgangsnoten keine offene Oktav- oder Einklangsparallelen zu hören sind:

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In der Kadenz artifizieller Mehrstimmigkeit des 15. bis 20. Jahrhunderts sind die Intervalle Einklang und Oktave von tragender Bedeutung für die Schlusswirkung:

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Darüber hinaus können Oktaven melodische Ausdrucksintervalle von außerordentlicher Qualität sein, wie zum Beispiel am Anfang der Pamina-Arie aus Mozarts Zauberflöte zu dem Text »es ist [verschwunden]«:

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W. A. Mozart, Die Zauberflöte, Sopran: Hilde Güden, Wiener Philharmoniker, Dirigent: Karl Böhm
Erscheinungsdatum: 1960, Lizenz: Public Domain

Ungefähr ab 1600 hat sich in spezifischen Gattungen das Komponieren mit Chromatik durchgesetzt. In Musik des 17. Jahrhunderts finden sich daher häufig übermäßige Primen (z.B. c−cis) und gelegentlich sogar verminderte Oktaven. Theoriegeschichtlich werden diese Phänomene beispielsweise bei Nucius (1613) erwähnt. Das folgende Beispiel zeigt eine chromatische Linie aus übermäßigen Primen und kleinen Sekunden zur Veranschaulichung des »Süßen« in der Musik:

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Heinrich Schütz, Kleines Geistliches Konzert SWV 285
»O süßer, o freundlicher, o gütiger Herr Jesu Christe«
Quelle: YouTube

Eine verminderte Oktave findet sich in englischen und italienischen Madrigalen, aber auch beispielsweise in der Miniatur der ersten dreiteiligen Arie der Geschichte, der Arie »Ecco pur« des Orfeo aus der gleichnamigen Oper von Claudio Monteverdi. In der letzten Zeile (»ecco pur c'a voi ritorno«) erklingt zur Silbe »c'a« in der Melodie die Bewegung c−b zum h im Bass (in dieser Zeit noch notiert mit einem # vor dem b, das diesen Ton zum h erhöht):

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Claudio Monteverdi, Orfeo, »Ecco pur«
Quelle: YouTube