Diese Stunde ist Teil einer Unterrichtssequenz zum Thema Graphische Notation in der Neuen Musik.
3. Stunde: Fallbeispiel Artikulation von György Ligeti (exemplarisches Vorgehen)
Ziel: Gleichzeitiges Erfassen von Musik und graphischer Partitur; differenzierte Wahrnehmung des Zusammenhangs; kritische Diskussion der Partitur
Die Kreisdiagramme zeigen keine 60-Minuten-Stunden, sondern eine ungefähre prozentuale Zeiteinteilung für eine normale Unterrichtsstunde mit 45 Minuten. Da Klassen immer unterschiedlich auf Unterrichtsinhalte und -gegenstände sowie Arbeitsaufträge und Interaktionen reagieren, soll dieses Zeitmanagement zur Orientierung dienen. Kurze Phasen sollen ca. fünf Minuten nicht überdauern, längere Phasen können zwischen 10 und 20 Minuten liegen.
Der Einstiegsimpuls umfasst ein kurzes Vor- und Nachmachen von verschiedenen Lauten. Diese Laute werden zur Realisation eines kurzen Zeitintervalls der Komposition Artikulation von György Ligeti benötigt. Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, das von der Lehrkraft vorgegebene so exakt wie möglich nachzusprechen:
(Dieser Einstiegsimpuls ist in Teilen einem Lösungsvorschlag zur Notations- und Hörproblematik der Neuen Musik von Lutz Felbick entnommen.)
»Sprechen Sie bitte nach:
st! ...
ts! ...
ts? ...
t t t t t ...
schschtssssss ...
Pfeifen (hoch zu tief) ...
bon (hoch) bon (tief) ...«
Nun deutet die Lehrkraft auf die bereits skizzierte Graphik an der Tafel – sie erinnert in leicht modifizierter Weise an das Tafelbild 1 –, pfeift, zischelt, spricht diese von links nach rechts vor und animiert die Klasse, dies sogleich nachzumachen. Geübt wird insbesondere das synchrone Wechseln von einer Klangaktion zur nächsten mit Hilfe eines Dirigats; unterschiedliche Tonlagen spielen noch keine Rolle.
Tafelbild 3
Jetzt wird das zu realisierende Zeitintervall (Sekunden 62–69) von Artikulation gezeigt und die kurze Information gegeben, dass es sich hier um eine graphische Partitur handelt, die mit verschiedenen Symbolen und Farben arbeitet und eine Zeitleist enthält, die die Sekunden angibt.
Für das Partiturbild den Ton vorher ausstellen und das Video anhalten.
Der Partiturabschnitt wird mit der ganzen Klasse realisiert, wobei die Lehrkraft als Dirigent die leitende Rolle übernimmt und die zu übenden Abschnitte einzählt. Wichtig ist dabei die genaue Erarbeitung der Elemente. Einzeln werden die verschiedenen Symbole sowie Farben geklärt und die Elemente in Laute umgesetzt:
- Sekunden 62–64: »bon bon« (rosa Impulse)
- Sekunde 67: Pfeifen (orangene Quadrate)
- Sekunden 65–69: »ts, st, tssss, schschtssss t t t« (schwarze Kämme)
- Sekunden 66–69: etwas schwierigere Struktur der rosa Impulse
Sodann setzt die Lehrkraft mit der Klasse die einzelnen Elemente zusammen (drei Gruppen), realisiert die vorliegende Partitur. Auch das ›hektische Tuscheln‹ in Sekunde 63 wird ergänzt. Es ist ratsam, zuerst die Sekunden nicht nur zu dirigieren, sondern für die Schülerinnen und Schüler auch hörbar zu machen (bspw. Schlag auf Conga oder ähnliches), um eine möglichst exakte Umsetzung der Partitur zu ermöglichen.
Nun wird der Originalabschnitt vorgespielt (Video oben mit Ton ab 1:04 abspielen) und die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, Unterschiede zwischen den beiden Umsetzungen wahrzunehmen. Hier werden verschiedenste Aspekte angesprochen. Ziel ist, insbesondere die Aufmerksamkeit auf die genaue zeitliche wir klangliche Umsetzung zu lenken. Gewiss wird auch der Unterschied der Klangerzeugung (stimmliche Laute/elektronische Musik) auffallen. An dieser Stelle könnte auf die Information aufmerksam gemacht werden, dass es sich um einen Ausschnitt aus dem Werk Artikulation von György Ligeti handelt, einer frühen Komposition elektronischer Musik aus dem Jahre 1958, dass die hier vorliegende Hörpartitur von Rainer Wehinger erstellt wurde und auf den im Studio erstellten Dynamik- und Frequenzanalysen basiert.
Nun wird die Klasse vor die Frage gestellt, warum Ligeti den Titel Artikulation gewählt hat, wenn es keine stimmlichen Laute sind. Um auf diese Fragestellung eine Antwort geben zu können, lesen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam den Text aus einem Konzertprogramm. Im Unterrichtsgespräch wird das Vorgehen Ligetis erarbeitet. (Die Erarbeitung des Kompositionsprinzips wird hierbei außen vor gelassen, da diese spezielle Systematik einen anderen Fokus auf die Komposition werfen würde, als angedacht. Die Lehrkraft müsste dann auch empirische, serielle und aleatorische Kompositionsmethoden erklären, sowie besondere Effekte erläutern. So interessant dies auch ist, muss es an anderer Stelle geschehen.) Zudem sollen die Schülerinnen und Schüler Vermutungen zu der »künstlichen Sprache« des Werkes äußern. Wieder werden hier die Vorstellung von Klang und das Verbalisieren dieser Vorstellung geübt.
Nach diesem Input werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, sich die Komposition von Ligeti einmal ganz anzuhören und dabei die Partitur von Wehinger zu verfolgen. Dazu schaut sich die Klasse ein Video an, in dem die Hörpartitur mit der Musik synchronisiert wurde:
Artikulation von Ligeti in der Hörpartitur von Wehinger
Zudem wird den Schülerinnen und Schülern die Aufgabe gestellt, sich irgendein Symbol auszusuchen und sich dazu so viele Klangeigenschaften zu merken, wie möglich. Nach den nun folgenden vier Minuten, in denen das Werk erklingt, werden die Symbole und Klangeigenschaften an der Tafel zusammengetragen und soweit es geht geordnet, so dass nach und nach Klangkategorien und deren Zeichensysteme erkennbar werden.
Tafelbild 4
Das hier abgebildete Tafelbild kann auch anders aussehen, wenn die Antworten der Schülerinnen und Schüler anderes fokussieren. Beispielsweise können sich die Lernenden auch komplett an den Parametern von Musik des Tafelbildes Nr. 2 orientieren. Ziel ist jedoch nicht eine genaue Abschrift des hier abgebildeten Tafelbildes, sondern eine Art Systematik, die ein differenziertes Nachdenken über Symbole und Klangeigenschaften zeigen kann.
Bei unterschiedlichen Feststellungen oder Unklarheiten wird die jeweilige Stelle im Video zu Rate gezogen. Das von Wehinger erfundene Zeichensystem hat etwas sehr schlichtes und übersichtliches, so dass auch bei wenig Vorgabe von der Lehrkraft immer wieder ähnliche Klangkategorien und Zeichensysteme beobachtet werden müssten. Das Sammeln dieser Eigenschaften ist Grundlage für ein differenzierteres Wahrnehmen der Musik im Anschluss. Die Stunde endet mit dem nochmaligen Hören des Werkes, wobei den Schülerinnen und Schülern diesmal freigestellt wird, die Partitur zu verfolgen. Als Hörauftrag sollen die Schülerinnen und Schüler der Gesamtheit des »imaginären Gesprächs« lauschen, auf »Frage und Antwort, hohe und tiefe Stimmen, polyglottes Reden und Dazwischenreden, Affekt und Humor, Plappern und Tuscheln.« (von: Elisabeth Kappel, https://signale.kug.ac.at/signale-graz/konzerte/0001/ligeti)