Wissenschaftstheoretische Überlegungen: Theorie und Methode
Niklas Luhmann wurde 1927 in Lüneburg geboren und war bis 1962 Verwaltungsbeamter in dieser Stadt, bevor er 1968 als Professor an die Universität Bielefeld berufen wurde. Luhmann veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Gesellschaftstheorie (Die Wissenschaft der Gesellschaft, Die Erziehung der Gesellschaft, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Das Recht der Gesellschaft, Die Kunst der Gesellschaft u.v.a.). Heute gilt Luhmann als einer der bedeutendsten Soziologen sowie als Begründer einer funktional-strukturellen Systemtheorie.
Luhmanns Unterscheidung zwischen Theorie und Methode ist für die musikalische Analyse (im wissenschaftlichen Kontext) sehr hilfreich. Denn mit dieser Unterscheidung lässt sich verstehen, dass es in der Musiktheorie − anders als es der Namensbestandteil -theorie vermuten lässt und trotz zahlreicher Bezeichnungen wie z.B. Funktionstheorie, Stufentheorie, Pc-set theory usw. − ein Theoriedefizit gibt. Beginnen wir mit Luhmanns Beschreibung des Zusammenspiels von Theorie und Methode:
Die Regeln richtigen Entscheidens über wissenschaftliche Kommunikation sind entweder theoretischer oder methodischer Art. Der Vorteil dieser Doppelung liegt auf der Hand: Beide Arten von Programmen können unter wie immer willkürlichen und vorläufigen Limitierungen in Operation gesetzt werden, da jede Limitation von der anderen Seite der Unterscheidung her infrage gestellt und gegebenenfalls ausgewechselt werden kann. Limitationen ohne Limitation also! Die Theorien können ausgewechselt werden, je nachdem, was ihre methodische Überprüfung ergibt. Und die Methoden werden gewählt, korrigiert und gegebenenfalls weiterentwickelt je nach dem, was man zur Überprüfung von Theorien braucht, und je nach dem, welche Theorien den Voraussetzungen der Methoden (zum Beispiel: Kausalität) Plausibilität verleiht. Das System findet in jeder praktischen Situation Anhalt in Limitierung und fällt nie ins Leere. Aber es ist trotzdem nicht an dogmatische Setzungen oder ein für allemal akzeptierte limitative Bedingungen gebunden, sondern kann von den Methoden her Theorien und von den Theorien her Methoden auswechseln.
Luhmann 1992, S. 403–404.
In diesem Zitat beschreibt Luhmann, dass Theorie und Methode in einem nicht-hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Nach ihm ist die Theorie nicht höherwertig und die Methode nicht untergeordnet. Das Verhältnis von Theorie und Methode lässt sich veranschaulichen, wenn man an das Verhältnis von Dirigent und Berufsorchester denkt: Ein Dirigent ist in einer Aufführung zwar der Leiter des Orchesters (und steht diesem vor), wird dafür jedoch bezahlt, ist also gleichzeitig auch Angestellter des Orchesters, das er leitet. Im Idealfall wird ein Orchester in der Aufführung den Anweisungen des Dirigenten Folge leisten, nach der Vorstellung oder dem Ende eines Engagements jedoch kann der Dirigent ausgewechselt werden (zum Beispiel, weil er schlecht dirigiert hat).
Die Klärung des Verhältnisses von Theorie und Methode hat noch nicht hinreichend geklärt, was eine Theorie und was eine Methode ist. Luhmann schreibt über Theorie:
Theorien sind begrifflich formulierte Aussagen, eingeschlossen Aussagen über Begriffe, und dies auch dann, wenn sie keine empirische Referenz aufweisen.
Luhmann 1992, S. 406.
Eine (zugegeben sehr einfache) Theorie bzw. eine theoretische Aussage wäre demnach der folgende Satz:
- Zu einer Kadenz gehören immer die drei Funktionen Subdominante, Dominante und Tonika.
Dieser Satz sagt ganz klar etwas aus, allerdings ist damit noch nicht erwiesen, ob diese Aussage wahr oder unwahr ist. Dafür benötigt man eine Methode (bzw. eine andere Theorie), der die Funktionen Subdominante, Dominante und Tonika bekannt sein müssen (sowie einen Forscher oder eine Forscherin, der/die aus Erfahrung weiß, was eine Kadenz ist). Zur Methode schreibt Luhmann:
Methoden haben kein anderes Ziel als: eine Entscheidung zwischen wahr und unwahr herbeizuführen. Sie sind, im Unterschied zu Theorien, also zunächst auf ein extrem reduziertes Problem angesetzt.
Luhmann 1992, S. 415.
Der Aussagesatz (Theorie), dass zu einer Kadenz immer die drei Funktionen Subdominante, Dominante und Tonika gehören, erfordert eine Methode wie die Funktionstheorie, aus deren Perspektive man sich zahlreiche Kadenzen anschauen und überprüfen kann, ob auch wirklich immer die drei Grundfunktionen vorkommen. Schnell würde man bei dieser Untersuchung (bzw. bei diesem Forschungsprogramm) wahrscheinlich bemerken, dass es viele Kadenzen gibt, denen eine Subdominante fehlt. Das folgende Beispiel zeigt drei Kadenzen, aber nur in der mittleren Kadenz findet sich ein subdominantischer Klang:
Mithilfe der Methode Funktionstheorie lässt sich daher feststellen, dass die Theorie zu den drei Funktionen unwahr ist. Man sagt auch, die Theorie ist falsifiziert worden. Wollte man das Forschungsprogramm Kadenz nun weiterführen, müsste die Theorie modifiziert werden, zum Beispiel in der Form, dass auch zwei verschiedene Klänge eine Kadenz bilden können, wenn sie das Verhältnis Dominante → Tonika aufweisen. Die neue Theorie könnte lauten:
- Zu einer Kadenz gehören mindesten zwei Klänge, wobei die Klänge das Verhältnis Dominante und Tonika aufweisen müssen.
Damit wären zwar die drei oben abgebildeten Kadenzformen richtig beschrieben, aber das folgende Sample besteht aus zwei Klängen, die ein Dominante-Tonika-Verhältnis aufweisen, sich aber dennoch nicht angemessen als Kadenz bezeichnen lassen:
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass zu einer Kadenz wesentlich mehr gehört als nur zwei oder drei Klänge bzw. ein harmonisches Verhältnis. Ob eine solche Klangfolge Kadenzwirkung entfaltet, hängt von weiteren Faktoren wie zum Beispiel der Stimmführung und der Metrik ab. Versuchsweise könnten wir einige dieser Faktoren in unsere Theorie integrieren, z.B.:
- Eine Kadenz mit vollkommener Ganzschlusswirkung endet mit den Klängen Dominante → Tonika.
- Die Dominante eines vollkommenen Ganzschlusses steht auf metrisch leichterer Zeit als die Tonika.
- Das Außenstimmensatzintervall des Tonikaklangs in einem vollkommenen Ganzschluss ist die Oktave, in Ausnahmefällen die Terz.
- Von der Dominante zur Tonika befindet sich im Bass ein Quintfall oder ein Quartstieg.
- Im 18. Jahrhundert ist ein Ganzschluss Endpunkt einer in den Grundton führenden strukturellen Oberstimmenbewegung usw.
Bei einer empirischen Überprüfung dieser Theorie wäre es spannend festzustellen, ob die integrierten Kriterien ausreichend sind. Aber mit welcher Methode kann die Theorie überprüft werden? Außenstimmensatz, strukturelle Oberstimme und Metrik lassen sich jedenfalls nicht mit der Methode Funktionstheorie überprüfen, hierfür werden weitergehende methodische Instrumente benötigt (zur Untersuchung struktureller Oberstimmenbewegungen kann zum Beispiel die graphische Analyse nach Heinrich Schenker verwendet werden, für die Metrik die Theorie des Akzentstufentaktes usw.).
Bis zu diesem Punkt hatte die Theorie bzw. theoretische Aussage immer die Methode (Funktionstheorie) in Gang gesetzt und geleitet (wie der Dirigent das Orchester). Mit dem Sample-Beispiel (Klangwolke) aber hat sich das Verhältnis umgekehrt, das heißt die Methode hat die Theorie falsifiziert und ihr Auswechseln veranlasst (der Dirigent wurde entlassen, ein neuer Dirigent engagiert). Die folgende Abbildung veranschaulicht den Sachverhalt:
Für jede Form wissenschaftliche Forschung ist eine Begrenzung notwendig, das heißt eine Limitation der Möglichkeiten, was untersucht werden kann. Diese Begrenzung darf nicht dogmatisch oder willkürlich sein (z.B. durch willkürliche Verbote), sondern sollte innerhalb der Forschung selbst stattfinden. Und diese Begrenzung ohne dogmatische Setzungen meinte Luhmann, als er ironisch triumphierend schrieb:
Limitationen ohne Limitation also!
Luhmann 1992, S. 403–404.
Literatur
- Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992.
- Ulrich Kaiser, Vom Satzmodell zum Modell, ZGMTH Sonderausgabe (2016)