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Die Quintfallsequenz als dreistimmiges Stimmführungsmodell

Inhalt

Vorbemerkungen

Quintfallsequenzen werden heute üblicherweise als eine Folge von Akkorden interpretiert, deren Grundtöne eine Quintenkette bilden. Das war nicht immer so. Im 18. Jahrhundert beispielsweise beschreibt J. J. Fux, ein Zeitgenosse J. S. Bach, in seinem bekannten Lehrwerk zum Kontrapunkt Gradus ad Parnassum Quintfallsequenzen als ein Zusammenwirken von einer zweistimmigen Synkopenkette und einer Zusatzstimme (Abbildung links).

Da es für die Praxis wie z.B. das Improvisieren in historischen Stilen oder das Schreiben von Fugen sehr hilfreich ist, Quintfallsequenzen über die Dynamik von Einzelstimmen zu verstehen, wird in diesem Tutorial die Quintfallsequenz aus kontrapunktischer Perspektive erklärt. Den größten Nutzen wirst du dabei haben, wenn du alle kontrapunktischen Formen der hier besprochenen Quintfallsequenzen am Klavier übst. Da die Sätze nicht schwer sind, klingt das erst einmal recht einfach, erweist sich allerdings erfahrungsgemäß als schwieriger als gedacht, weil für uns heute das Denken in Akkorden einfacher ist als ein Denken Intervallsätzen. Doch die Mühe lohnt sich, denn es hat für ein Verständnis von Musik bis in späte 19. Jahrhundert viele Vorteile, wenn man bestimmte Wendungen nicht nur harmonisch, sondern auch kontrapunktisch interpretieren kann.

Zweistimmigkeit

Eine zweistimmige Synkopenkette

Eine zweistimmige Synkopenkette lässt sich als eine Zusammensetzung aus einer auf schweren Taktzeiten agierenden Stimme (Agens-Stimme von lat. agere = treiben handeln) und einer Synkopenstimme verstehen, die auf den schweren Taktzeiten von der Agens-Stimme in ein dissonantes Intervallverhältnis gesetzt wird. Bildlich gesprochen erleidet diese Stimme die durch die Agensstimme verursachten Dissonanzen, weshalb sie auch als Patiens-Stimme bezeichnet wird (von lat. pati = leiden, erdulden). In der folgenden Abbildung ist die Patiens-Stimme (P) im Sopran, die Agensstimme (A) im Alt zu sehen:

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Wichtig ist, dass die Agens-Stimme konsonant ist und deren Bewegung keinerlei Restriktionen unterliegt. Für Intervalldissonanzen galt lange Zeit, dass eine die Dissonanz vorbereitet und aufgelöst werden muss, weshalb der Verlauf der Patiens-Stimme sich aus dem Verlauf der Agens-Stimme ergibt. An der Agens-Stimme könnte man in dem Beispiel oben nur sehr wenig ändern, ohne dass eine fehlerhafte Satztechnik entstehen würde.

Die beiden Stimmen lassen sich vertauschen, ohne dass es satztechnische Probleme gibt:

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Die Beispiele zeigen, dass in einer 7-6-Synkopenkette die konsonierende Agens-Stimme unten und die dissonierende Patiens-Stimme oben liegt. Für das Denken eines Intervallsatzes ist nun folgendes wichtig:

Hinweis!

Orientiere dein Denken beim Spielen an der Agensstimme. Bei einer Tonleiterbewegung in dieser Stimme ergibt sich die Patiensstimme durch eine korrekte Vorbereitung (6 oder 3) und Auflösung (7 oder 6) automatisch.

Übungen

Musiziere die zweistimmigen Sätze, indem du die zuerst die Agens-Stimme singst und die Patiens-Stimme spielst. Spiele Anschließend die Agen-Stimme und singe die Patiens-Stimme:

Dreistimmigkeit

Die dritte Stimme

Wenn du das Modell zur Dreistimmigkeit erweiterst, wird für dich das kontrapunktische Denken wahrscheinlich auch erst einmal ungewöhnlich sein. Der Vorteil: Wenn du auch die Zusatzstimme kontrapunktisch denkst, kannst du, ohne dein Denken zu ändern, sehr viele verschiedene Ausprägungen des dreistimmigen Satzmodells spielen.

Denke die dritte Stimme (Z), die mit einer Terz-Sekund-Bewegung bildlich gesprochen im Zick-Zack verläuft, im Verhältnis zur Agens-Stimme. Liegt die Z-Stimme unter der Agens-Stimme, spiele zu jedem Ton der Agens-Stimme die Intervalle 6-5:

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Liegt die Z-Stimme über der Agens-Stimme, spielst du die gleichen Töne, jedoch erklingen in diesem Fall zur Agens-Stimme die Komplementärintervalle 3-4:

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Ergänzt du abschließend zur Agens-Stimme noch die Patiens-Stimme, hörst du recht verschieden klingende Quintfallsequenzen:

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Diminution

Dreifacher Kontrapunkt der Oktave

Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Möglichkeiten, die Ausprägungen P–A–Z und P–Z–A (Spalten links) wurden im Vorangegangenen bereits besprochen:

Stimme

P–A–Z

P–Z–A

A–P–Z

A–Z–P

Z–A–P

Z–P–A

Oberstimme

P-Stimme

P-Stimme

A-Stimme

A-Stimme

Z-Stimme

Z-Stimme

Mittelstimme

A-Stimme

Z-Stimme

P-Stimme

Z-Stimme

A-Stimme

P-Stimme

Unterstimme

Z-Stimme

A-Stimme

Z-Stimme

P-Stimme

P-Stimme

A-Stimme

Die folgenden Beispiele zeigen nun alle sechs Möglichkeiten, wobei die Zusatz-Stimme auf charakteristische Weise diminuiert worden ist (von lat. diminuere = zerkleinern, zerteilen) . Auf diese Weise lässt sich jede der Stimmen des dreistimmigen Satzes über das Hören leicht an einem spezifischen Merkmal erkennen:

  • A: Stimme mit Bewegung zur schweren Taktzeit
  • P: Stimme mit Bewegung zur leichten Taktzeit (Synkope)
  • Z: Stimme mit diminuierter Bewegung (z.B. in Achteln)
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Wiederholung: Terminologie
  • Die Stimme, die eine Dissonanz auslöst, heißt Agens-Stimme.
  • Die Stimme, die durch eine andere Stimme zur Dissonanz wird, heißt Patiens-Stimme.
  • Ein mehrstimmiger Satz bei dem sich alle Stimmen in der Oktave vertauschen lassen, ohne dass satztechnische Probleme entstehen, heißt mehrfacher Kontrapunkt der Oktave (bzw. mit zwei Stimmen = doppelter Kontrapunkt, mit drei Stimmen = dreifacher Kontrapunkt der Oktave, usw.).

Wie bereits einleitend erwähnt, sind dreistimmige Sätze dieser Art Bestandteil vieler Kompositionen zwischen 1600 und 1900, wobei der Satz seine Prominenz nicht zuletzt der Tatsache verdankt, dass er einen dreifachen Kontrapunkt der Oktave und damit eine kunstfertige bzw. gelehrte Kompositionsweise ermöglicht.

Aufgaben
  1. In dem Präludium in e-Moll BWV 555, das ursprünglich einmal Johann Sebastian Bach zugeschrieben worden ist, lässt sich das Modell und seine Verwendungsweisen studieren:
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J. S. Bach, Präludium und Fuge in e-Moll, BWV 555, Nr. 3 (die 8 Kleine Präludien stammen möglicherweise von Johann Ludwig Krebs), Quelle: YouTube

  1. Analysiere das Präludium in e-Moll BWV 555 und benenne Auftreten und Art des Modellsatzes durch Angabe der entsprechenden Takte.
  2. Erstelle einen Tonartenplan, indem du alle Tonarten des Stücks benennen, in denen eine Kadenz erklingt.

Materialien