Crying In The Rain (Whitesnake)

Eine exemplarische Analyse

Quelle: Wikimedia

Bei der folgenden Analyse handelt es sich um eine Beispielanalyse. Sie soll einerseits dem Vorurteil entgegenwirken, Pop-/Rockmusik ließe sich nicht nach klassischen Parametern analysieren, und andererseits eine Orientierung geben, wie sich eine schriftliche Analyse aufbauen lässt. Der Song Crying In The Rain von Whitesnake (oder genauer: von David Coverdale in der Interpretation von Whitesnake) war eine Vorgabe bzw. Teil des schriftlichen Staatsexamens im Teilfach Analyse für das Lehramt am Gymnasium in Bayern (2019).

Inhalt

Analyse

I. Kontextualisierung

a) historisch

Nach dem Ausstieg bei Deep Purple gründete der Sänger David Coverdale in England die Band Whitesnake. Die Marke Whitesnake ist gekennzeichnet durch zahlreiche Umbesetzungen, wobei David Coverdale die einzige Konstante der verschiedenen Formationen ist. Insbesondere um 1980 mit den ehemaligen Deep-Purple-Kollegen John Lord (Keyboard) und Ian Paice (Drums) sowie aufgrund von Songs wie Walking in the Shadow of the Blues wurde Whitesnake als Nachfolgeband der 1976 aufgelösten Hardrock-Band Deep Purple angesehen.
Die Songs in der kommerziell erfolgreichsten Phase der Band werden zum Glam Metal gezählt, wobei der Begriff stilistisch unpräzise ist und weder eine eindeutige Abgrenzung zum Hardrock noch zu den verschiedenen Spielarten des Heavy Metal erlaubt. Stilistische Merkmale härterer Gangarten des Rock sind Powerchords und Singe-Note-Riffs, in der Frühzeit die reichliche Verwendung von Orgeln, sehr hohe Gesangslagen der Leadsänger sowie pentatonische Harmonie- und Melodieprägungen, in späterer Zeit dann tiefer gestimmte Toms sowie tiefere Gesangslagen, virtuoses Instrumentalspiel sowie komplexere/mediantische Akkordverbindungen usw. Hardrock als übergeordneter Begriff steht für sehr unterschiedliche Stilistiken und lässt sich als Gegenbewegung zur Musik und politischen Lebensanschauung der von San Franzisko ausgehenden Hippie-Bewegung der 1960er Jahre verstehen (z.B. Grateful Dead, Santana und auch The Beatles). Bekannte frühe Hard-Rock-Formationen um 1970 waren Led Zeppelin, Deep Purple, Uriah Heep und Black Sabbath, ab Mitte der 1970er Jahre dann Bands wie AC/DC, Scorpions, Queen, Meat Loaf und Kiss. Für die 1980er Jahre wurden wie bereits erwähnt gesteigerte Virtuosität (z.B. das Fingertapping von Van Halen), bombastische Produktionen (z.B. von Bon Jovi, Aerosmith bzw. Produzenten wie Bruce Fairbairn, Desmond Child u.a.) sowie Stadion-Konzerte charakteristisch. Mit dieser Entwicklung bricht dann zum Beginn der 1990er Jahre der Grunge-Rock (Nirvana), der Elemente des Hardrock mit der Ästhetik des Punk vereint und sich als Opposition zum Mainstream-Rock stilisiert.
Der Song Crying in the Rain entstand in den 1980er Jahren und gehört zu den bekanntesten Songs der Band. In diesem Song ist eine für Hardrock typische Besetzung zu hören: Lead-Gesang, Gitarre, Bass, Drums sowie Keyboard und Backing-Gesang.

b) systematisch

Nach Peter Wicke ist Rockmusik eine »in den 1960er Jahren entstandene, musikbezogene kulturelle Praxis Jugendlicher«. Diese Definition macht verständlich, warum die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ausdrucksformen Populärer Musik ursprünglich in der Soziologie, der Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaft erfolgte. Auch der Cultural turn in den 1970er Jahren, der in den Geistes- und Sozialwissenschaften die Abwendung von einer Elite-Kultur (›Meisterwerke‹) hin zu einer im Alltäglichen verankerten kulturellen Praxis (»signifying practises«) bezeichnet, hatte die Verbindung zwischen Kulturtheorie, Ethnologie und Popmusikforschung gestärkt (ein Spiegel der reflexiven Auseinandersetzung mit Popularmusik ist die renommierte Zeitschrift Popular Music, die erstmalig 1981 erschien). Seit den 1990er Jahren lässt sich jedoch auch in der Popularmusikforschung eine Hinwendung zur Analyse des musikalischen Materials beobachten. David Brackett (1995: Interpreting Popular Music) beispielsweise zählt zu den Kompetenzen des ›Empfängers‹ von Popmusik dezidiert auch solche der Musikanalyse wie »Musical Technics« und »Styles« (im Sinne musikstilistischer Kenntnisse) und über die Bücher von Autoren wie Allan F. Moore (1993: Rock. The primary Text), Robert Walzer (1993: Running with the Devil), Richard Middleton (2000: Reading Pop), Ken Stephenson (2002: What to listen for in Rock), John Covach u.a. etablierte sich auch die musikalische Analyse des »Primary Text« bzw. die Analyse von dem, »what is heard« (Moore). Die Methoden, die aktuell zur musikalischen Analyse von Popularmusik herangezogen werden, sind äußerst vielfältig und reichen von semiotischen Ansätzen (Philip Tagg) über graphische Analysen nach Heinrich Schenker (insbesondere durch amerikanische Autoren wie Walter Everett und Allen Forte) und Soundanalysen (Allen F. Moores »sound-box«, Roland Huschner und Daniel Scholz) bis hin zu Formanalysen (Covach, Appen/Haunschild und Kaiser).
Im deutschsprachigen Raum finden sich in den letzten Jahren verstärkt musikanalytische Beiträge in Publikationsorganen der Gesellschaft für Popularmusikforschung (z.B. in der Online-Zeitschrift Samples sowie der Reihe Beiträge zur Popularmusikforschung), darüber hinaus auch in der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie. Ein großer Teil der historisch-analytischen Auseinandersetzung mit Popularmusik findet sich zudem im Internet (z.B. die Artikel der englischsprachigen Wikipedia, die Notes on...Series zur Musik von The Beatles von Allen W. Pollack u.v.a. Quellen).
Problematisch für die Analyse eines Rocksongs ist die Flüchtigkeit des »primary text« sowie in der Regel sehr fehlerbehaftete Transkriptionen. Das lässt sich auch anhand der Notenvorgabe für die Analyse des Songs Crying in the Rain beobachten, z.B. in der dritten und vierten Gesangsphrase des Intro sowie der Gitarren-Transkription. Aussagen über das musikalische Material werden daher auf der Grundlage des Höreindrucks getroffen, das Notenmaterial dient lediglich zur Orientierung und Referenzierung von Stellen im zeitlichen Verlauf.

II. Form

Der Song beginnt mit einer Stop-time-Technik, die aus der Popularmusik der 1960er Jahren bekannt ist (z.B. aus Blues und Rock'n-Roll-Songs wie zum Beispiel aus Heartbreak Hotel von Elvis Presley). Während diese Technik also eher typisch für Blues und Rock'n Roll ist, verweisen die Art der Kicks (tiefer Sound, verzerrte Gitarren, melodisches Motiv c-h-e), die hohe männliche Gesangsstimme sowie der insgesamt sehr breite Sound auf das Genre Hardrock/Heavy Metal.
Über den ersten Höreindruck erschließt sich die Form des Songs problemlos: Einer Einleitung (Intro) folgt eine dreiteilige Einheit, die üblicherweise als Verse − Prechorus − Chorus bezeichnet wird. Verbunden durch eine Überleitung (Interlude) wird diese Anordnung wiederholt. Der Wiederholung schließt sich ein kontrastierender, von virtuosem Gitarrenspiel geprägter Abschnitt an (Instrumental Solo), dem ein weiteres Zwischenspiel (Interlude) sowie die abschließende Wiederkehr der Abschnitte Prechorus und Chorus folgt. Der Verlauf des Songs lässt sich wie folgt skizzieren:

Intro
Verse
Prechorus
Chorus
Interlude
Verse
Prechorus
Chorus
Instr. Solo
Interlude
Prechorus
Chorus
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Whitesnake, Crying in the Rain, (1987/2017), Quelle: Youtube

a. Intro

Die Stop-time-Technik, die nur einmalig am Anfang des Songs erklingt, hat eine klar einleitende Funktion:

Notensatz (neu) nach: Band Score Whitesnake
©1982 by Seabreeze Music Limited [Shinko Music Entertainment Co., Ltd.].

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Quelle: Youtube

Bei Ken Stephenson findet sich zwar die allgemeine Definition, dass ein Intro ein instrumentaler Formteil sei, der so lange dauere, bis der Gesang einsetzen würde. Doch der Song Crying in the Rain ist ein schönes Beispiel dafür, dass auch eine vokal geprägte Passage eine formal einleitende Funktion haben kann. Entgegen der Definiton von Stephenson wird daher der vokale Beginn des Songs als Intro bezeichnet.
Der Stop-time-Passage folgt ein achttaktiger Abschnitt, der ebenfalls einleitenden Charakter hat und somit auch noch zum Intro gezählt werden kann. Dieser Abschnitt ist von zwei verschiedenen Ideen geprägt, die sich von der einleitenden Stop-time-Idee deutlich unterscheiden. Zum einen erklingt hier bereits das charakteristische, rhythmisch durch Offbeat-Akzente geprägte Powerchord-Riff, das später in Verbindung mit der Refrainzeile »you're crying in the Rain« erklingen wird:

Notensatz (neu) nach: Band Score Whitesnake
©1982 by Seabreeze Music Limited [Shinko Music Entertainment Co., Ltd.].

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Quelle: Youtube

Zum anderen wird hier auch das mit verzerrter Gitarre und großem Vibrato (Bending) auf den langen Tönen gespielte Singleton-Riff eingeführt, das in den als Verse und Prechorus bezeichneten Abschnitten als Ostinato erklingt. Auffällig ist die Guideline des Riffs über dem Orgelpunkt e, die mit einer Chromatik (d-c#-c) beginnt und beschleunigend in einen diatonischen Abgang mündet (c-h-a-g). Diese Beschleunigung wirkt wie ein Motor, der die Musik antreibt und den Song alle zwei Takte mit neuer Energie zu versorgen scheint:

Notensatz (neu) nach: Band Score Whitesnake
©1982 by Seabreeze Music Limited [Shinko Music Entertainment Co., Ltd.].

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Quelle: Youtube

Trotz der Verschiedenheit werden diese drei beschriebenen Abschnitte unter dem Begriff Intro subsumiert, weil das Setting in dieser Form einmalig ist und die Funktion einer Einleitung hat. Begriffe wie partial Verse und partial Chorus erscheinen aufgrund später noch auszuführender Gründe nicht als angemessen.

b. Verse - Prechorus - Chorus

Der nun folgende Verse ist geprägt vom Singleton-Riff der Intro (Ostinato). Das Stampfen von E-Bass und Drums auf der einen Seite und die Inszenierung des 12/8-Taktes (Spielweise auf 1 und 3 jeder Zählzeit bzw. punktierten Viertel) auf der anderen sind Charakteristika der eigentümlichen Mischung aus Shuffle-Rock/Blues und Glam Metal:

Notensatz (neu) nach: Band Score Whitesnake
©1982 by Seabreeze Music Limited [Shinko Music Entertainment Co., Ltd.].

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Quelle: Youtube

Der bluesige Charakter wirkt auch wie das Einlösen einer Erwartungshaltung nach dem Stop-time-Abschnitt des Intro bzw. nach der deutlich wahrnehmbaren Blue Note b im e-Modus, der für die Bluesskala charakteristisch ist. Das Tonmaterial des Leadgesangs im Verse ist ebenfalls auffällig:

Zum einen korrespondieren die Enden der Gesangsphrasen mit dem e-Modus (h-g-h-e), zum anderen lässt sich das verwendete Tonmaterial als e-Moll-Pentatonik (e-g-a-h-d) verstehen (der pentatonische Klangeindruck vermittelt sich beim Hören trotz des Gesangsstils von Coverdale, der sich in traditioneller Notation nur mangelhaft abbilden lässt). Eine Analyse des Tonhöhenverlaufs gibt darüber hinaus auch über die innere Dymanik des Verse-Abschnitts Auskunft: Während die Ähnlichkeit der ersten und dritten Gesangsphrase ein symmetrisches bzw. im weiteren Sinne periodisches Erleben der acht Takte ermöglicht, bilden die Spitzentöne g der ersten drei Gesangsphrasen ein Plateau, das erst in der letzten Phrase überstiegen wird und einen Höhepunkt auf das Ende des Abschnitts legt. Im Hinblick auf diese innere Dynamik zeigen die ersten acht Takte also eher eine satzartige Prägung. Der Höhepunkt am Ende des Abschnitts bereitet die erste klangliche Attraktion bzw. den ersten sinnfälligen Harmoniewechsel nach der Intro vor:

Notensatz (neu) nach: Band Score Whitesnake
©1982 by Seabreeze Music Limited [Shinko Music Entertainment Co., Ltd.].

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Quelle: Youtube

Dieser Wechsel führt in die Subdominante a (mit Zwischenharmonie G), der in seiner Auffälligkeit Anlass gibt, das Label Prechorus für diesen Takt und die folgenden zu verwenden. Nach zwei Takten fällt die Harmonik wieder zurück nach e bzw. in die Ausgangstonart, in der motivisch das zweitaktige Singe-Note-Riff wieder aufgegriffen wird. Die nächsten harmonischen Wechsel führen jeweils für einen Takt nach G und a. Dieses harmonische Accelerando erfährt im darauf folgenden Takt eine Steigerung durch eine rhythmische Verdichtung (duolische Wechselnote c-h in den Gitarren, akzentuiert von Snaredrum und Crashbecken). Dieser Takt, der harmonisch als C (mit melodischer Wechselnote h) wahrgenommen wird, mündet harmonisch in einen d-Takt, in dem die Refrainzeile »when you're crying in the rain« als Auftakt für den harmonisch abschließenden e-Takt zu hören ist. Die dem Erreichen des harmonischen Ausgangspunkts folgenden Takte sind charakterisiert durch das eingangs beschriebene markante rhythmische Motiv, eine eingängige Hook sowie textlich durch das Auftreten der Refrainzeile. Aus diesen Gründen ist der Abschnitt als Chorus bezeichnet worden.

c. Alternative Interpretation

Interessant ist die zeitlich-harmonische Disposition der Abschnitte, die im Vorangegangenen als Verse − Prechorus − Chorus bezeichnet worden sind. Im Verse dominiert e, der Prechorus beginnt mit a, wechselt jedoch gleich anschließend wieder nach e und wiederholt hier das für die Ausgangsharmonie typische Single-Ton-Riff. Diesem I-IV-I-Wechsel, der zudem charakteristisch ist für Bluessongs im Speziellen und Verse-Abschnitte von Popularmusik im Allgemeinen, schließt sich das harmonische Accelerando über G, C und d an, das in die Wiederkehr der Ausgangstonart e mündet und dessen Ende mit dem Erklingen der Refrainzeile zusammenfällt. Das folgende Taktschema skizziert den harmonisch-zeitlichen Verlauf:

Der gelbe Bereich, durch die Ausgangstonart e geprägte Abschnitt wurde bisher als Verse bezeichnet. Im gleichlangen Prechorus (= hellgrün) findet das harmonische Accelerando statt und mit der Refrainzeile »you're crying in the rain« (Auftakt) beginnt der Chorus. Das Diagramm veranschaulicht einerseits, dass die Teile Verse − Prechorus − Chorus sowohl im Hinblick auf die pentatonische Disposition (e-g-a-c-d) als auch auf die Dramaturgie (harmonisch-rhythmisches Accelerando) eine Einheit bilden, andererseits auch die Asymmetrie der Teile. Denn der Chorus ist zwar aufgrund seiner Eingängigkeit (Hook, markanter Rhythmus, Refrainzeile) gewichtig, zeitlich jedoch nur halb so lang wie der Prechorus. Die Proportion zwischen Prechorus und Chorus, die ungewöhnlich und aus semantischer Perspektive nicht stimmig ist, wirft die Frage auf, ob das zweimalige Erklingen der Refrainzeile die Verwendung des Formbegriffs Chorus zu rechtfertigen in der Lage ist.
Eine Alternative besteht darin, die drei Abschnitte aus inhaltlichen Gründen (Harmonik, Dramaturgie und Proportionen) als Einheit und den gesamten Abschnitt als einen ausgedehnten, 20-taktigen Verse zu interpretieren. Dessen innere Struktur lässt sich angemessen über das SRDC-Schema (Walter Everett) verstehen:

Ein Vergleich der melodischen Pentatonik (e-g-a-h-d) des Statement-Abschnitts mit der harmonischen Pentatonik des genannten SRDC-Teils (e-g-a-c-d) könnte Anlass zu der Frage geben, warum melodische und harmonische Pentatonik differieren bzw. warum in der harmonischen Disposition die H-Stufe durch die C-Stufe ersetzt worden ist. Eine mögliche Antwort könnte darauf verweisen, dass in der Melodik die h-Stufe in Verbindung mit der Blue-Note b stilistisch bedeutsam ist (Blues-Charakter), während eine Dominante H in einem pentatonisch geprägten Rock-Song stilistisch unpassend wirken würde (im Gegensatz zur dur-moll-tonalen Musik, für die das Leittonprinzip charakteristisch ist).

d. Instrumental Solo

Der Mittelteil des Songs hat ungefähr die gleiche Länge wie die ausgedehnten Verse-Formteile (Verse − Prechorus − Chorus) und einen ausgesprochen virtuos-improvisatorischen Charakter. Live-Fassungen dieses Parts dürften daher in Länge und Ausgestaltung sehr verschieden ausfallen. Insbesondere aufgrund der Flächenhaftigkeit der Harmonik in Verbindung mit dem improvisatorischen Charakter wird für diesen Abschnitt der Begriff Instrumental Solo anstelle von Bridge gewählt (eine Bridge ist üblicherweise durch eine rhythmisch und harmonisch festere Syntax charakterisiert).
Melodisch dominiert virtuoses Gitarrenspiel mit auf- und abwärts führenden Tremoli-Skalen sowie schnellen Sechzehntel-Ketten. Zwar werden dabei auch gelegentlich pentatonische Figuren verwendet, aufgrund des häufigen Erscheinens des Tons fis dominiert jedoch ein heptatonischer Klangeindruck (e-f#-g-a-h-c-d-e = natürliches Moll) mit vereinzelt chromatischen Diminutionstönen (zum Beispiel am Beginn des Solos die Blue Note ais/b).
Harmonisch ist das Solo durch die bisher verwendeten Harmonien geprägt, besonders auffällig sind dabei der mehrmalige Wechsel von a zu c sowie das Erreichen des Grundtons e über d und c.
Den größten Anteil am Spannungsverlauf des Solos haben jedoch die Drums, die zuerst über eine rhythmische Verdichtung, Akzente und den üppigen Einsatz der Crash-Becken ein Crescendo bzw. eine Spannunsgzunahme herbeiführen, um anschließend die Musik zum Refrainzeilen-Pattern (Chorus) hin wieder zu entschleunigen.

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Quelle: Youtube

e. AABA-Form

Reflektiert man auf der Grundlage des bisher gesagten noch einmal die Gesamtform, ergibt sich eine AABA-Form (Verse − Verse − Instrumental Solo − partial Verse):

Intro
Verse
Interlude
Verse
Instr. Solo
Interlude
part. Verse
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Whitesnake, Crying in the Rain, (1987/2017), Quelle: Youtube

Für eine solche formale Gesaltung gab es in den 1980er Jahren bereits Vorbilder, zum Beispiel das One-Hit-Wonder Hiroshima von Wishful Thinking. Anders als dieser Hit der frühen 1970er Jahre ist »Crying in the Rain« auf eine Steigerung hin angelegt, was sich an der zunehmenden Klangdichte sowie am Auftreten der Vertonung der Refrainzeile zeigt: Am Ende des ersten Verse erklingt diese Gestaltung zweimal, als Steigerung nach dem ersten Verse viermal, im Interlude nach dem Instrumental Solo wiederum viermal (ohne Gesang) und im letzten partial Verse fünfmal (das letzte Auftreten lässt sich allerdings als äußere Erweiterung des Formteils in der Formfunktion einer Outro verstehen bzw. lässt den Song ausklingen).

Text
Der Text handelt von einem für Hardrock typischen Sujet: Ein nach außen unabhängiger, einsamer Mann, der nach innen empfindsam und verletzt ist. Die Geschichte erzählt von einem Protagonisten, der sich von seiner Frau getrennt haben könnte (»a woman goes crazy with the thoughts of retribution«), der sich ihr jedoch innerlich noch verbunden fühlt (»ooh baby, it's still raining in my heart«). Die Refrainzeile »when you're cryin' in the rain« ist Teil eines umfangreicheren Refrains, der im Verlauf des Songs dreimal vorkommt:

The sun is shining
ooh baby, it's still raining in my heart
no one understands the heartache
no one feels the pain
no one ever sees the tears
when you're cryin' in the rain

© David Coverdale

Insbesondere das Stilmittel der Anapher (»no one«) führt auf die Refrainzeile hin, der Refrain wird musikalisch umgesetzt durch die eingangs als Prechorus und Chorus bezeichneten Abschnitte. Darüber hinaus enthält der Text zahlreiche Metaphern (»black cat moans«, »stray dog howls«, »lighting candles in the wind« usw.) und auch der Plot ist metaphorisch, in dem das trostlose Wetter (Regnen) und der Schmerz (Weinen) in Beziehung gesetzt und zu einem einzigen Ausdruck verschmolzen werden. Die Untersuchung der Textebene stärkt die Entscheidung, auf die Terminologie Verse − Prechorus − Chorus zu verzichten, da Refrain (Wiederholung eines Textabschnitts) und Chorus (Wiederholung eines klanglich bedeutsamen Musikabschnitts) in diesem Song divergieren.

Abschließende Bemerkungen

»Crying in the Rain« von Whitesnake ist ein Mainstream-Rocksong, der in vielen Momenten (Bluesskala, Shuffle-Rock-Rhythmik, Pentatonik, I-IV-I-Wechsel) Anknüpfungspunkte an die Tradition und das Authentische des Blues bietet, der aber gleichzeitig formal-kompositorisch sowie spiel- und aufnahmetechnisch einen professionell produzierter Glam-Metal-Song repräsentiert. Der Song kann auch als Beispiel dafür gelten, dass in spezifischen Songs des Genres melodisches Material und harmonisch-formale Strukturen korrespondieren (Pentatonik). Für die Validität der Analyseergebnisse ist es dabei aus konstruktivistischer Sicht unerheblich, »ob der ›primary text‹ sich Absprachen zu Akkordfolgen und Improvisationsskalen im Probenraum, einem intellektuellen Songwriting oder einfach nur dem Zufall verdankt« (Kaiser 2014).