Freitonale Melodien - Tipps für das Prima Vista Singen und fürs Melodiediktat

"Prima Vista" oder "Von Blatt" singen - das bedeutet zu singen ohne lange Vorbereitungszeit. Da spielt es natürlich eine erhebliche Rolle, wie die Melodie, die wir singen sollen, beschaffen ist. Auf den ersten Blick erscheint es sogar so, als sei dies das entscheidende Kriterium. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist es aber mindestens genauso entscheidend, welche Hörstrategie wir wählen. Das gilt übrigens auch für den Fall, in dem wir nicht singen sondern aufschreiben wollen.

Nehmen wir an, wir sollen folgende Melodie von Blatt singen:

Wer in der Lage ist, sich absolute Tonhöhen sehr präzise vorzustellen, hat einen erheblichen Vorteil, wenn es um Musik geht, die keine eindeutigen Grundtöne etabliert. Aber auch, wenn ich mich nicht als Absoluterer oder Absoluthörerin bezeichnen kann: Die Vorstellung davon wie hoch ein Ton ist, kann beim Blattsingen immer hilfreich sein. Im Sinne der "perspektivischen Gehörbildung" lässt sich die "absolute Perspektive" wählen. Je nachdem, in welchem Umfang mein Gehör in der Lage ist, diese Perspektive zu nutzen, ergibt sich für mich geringerer oder größerer Nutzen - vom groben Anhaltspunkt bis zur präzisen Tonvorstellung. Ein Nachteil der absoluten Perspektive besteht darin, dass musikalische Zusammenhänge ausgeblendet werden. Dies gilt zumindest im Moment des von Blatt Singens. Wer immer nur absolut hört, trainiert zumindest nicht die Fähigkeit, musikalische Strukturen zu erkennen.

Den meisten erscheint die "lineare Perspektive" als aussichtsreicher. Jeder Ton lässt sich auf den folgenden Ton intervallisch beziehen. Die Melodie wird zur Intervallfolge:

Die lineare Perspektive ist dabei nicht beschränkt auf das Verhältnis eines Tones zum jeweils nächsten Ton. Auch das Verhältnis des vorletzten zum übernächsten Ton kann von Bedeutung sein:

Eine weitere, besonders reizvolle Möglichkeit aber liegt im vertikalen Hören. Oft lassen sich in freitonalen Melodien Abschnitte bilden, die sich in einer bestimmten Tonart denken lassen. "Vertikal" heißt diese Art zu hören, weil man sich dabei auf einen Grundton bezieht, der gewissermaßen, ohne zu klingen, als temporäres Fundament gedacht wird. Man könnte auch von "grundtönigem Hören" sprechen:

Dabei ist man grundsätzlich frei bei der Grundtonwahl:

Im Extremfall wähle ich einen beliebigen Grundton (hier c) und beziehe alle anderen Töne auf ihn:

Dabei ist natürlich Vorsicht geboten. Nicht jede Grundtonwahl ist gleich plausibel. Nicht mit jeder Grundtonwahl werden wir der Melodie in gleichem Maße gerecht. Wenn wir aber häufig unsere Perspektiven wechseln, wächst nicht nur unsere Kompetenz beim Blattsingen oder Mellodiediktat, sondern im Idealfall auch unser Musikverständnis. Zum perspektivischen Hören generell: hier ein Video