Das Projekt
Das Projekt bestand darin, dass jede Schülerin und jeder Schüler selbstständig mit der Software AnaVis arbeiten sowie eine eigene Formanalyse anlegen sollte und dabei genau die Stellen hören konnte, bei denen es Fragen oder Schwierigkeiten gab. Insgesamt dauerte das Projekt elf Wochen (bei einer Musikstunde wöchentlich). Angeschlossen wurde es mit einer Leistungsüberprüfung (Test). Gegenstand der Analyse war Popmusik.
Die Software AnaVis
AnaVis ist eine Software, die es ermöglicht, Formanalysen von Musik zu visualisieren, genau bei den Abschnittsgrenzen die Musik abzuspielen und unterhalb des Formverlaufs Anmerkungen zu strukturellen Beobachtungen zu schreiben. Dabei ist die Handhabung der Software sehr einfach und intuitiv.
Voraussetzungen
Voraussetzung für dieses Projekt war natürlich eine angemessene technische Ausstattung. Im Zuge des neuen Medienpakets wurde also schnell eine Bestellung von 15 Laptops in Auftrag gegeben, nur zweieinhalb Jahre gewartet und schwupps waren die Geräte genau in dem Augenblick da, als die Schülerinnen und Schüler im Frühjahr 2021 aus der Homeschooling-Phase mit Bildschirmaugen in den Präsenzunterricht zurückkehrten. Aus diesem Grund entschloss ich mich, mit der Bildschirmarbeit bzw. der die AnaVis-Unterrichtssequenz noch ein wenig zu warten. Im Herbst 2021 war es dann endlich soweit.
Phasen des Unterrichts
Das Projekt bestand natürlich nicht nur aus dem Austeilen der Laptops, der Einführung in die Software und dem Arbeitsauftrag »Analysiere den Song [...]«. Die ersten drei Unterrichtsstunden fanden im Plenum ohne die Laptops bzw. Einzelarbeitsplätze statt, und die Schülerinnen und Schüler erfuhren etwas über den Aufbau von Popsongs, zu den Standard-Formteilen und deren Merkmale und konnten somit ein erstes Gefühl dafür bekommen, wie solche Formteile klingen, wie sie beginnt/endet usw. Selbstverständlich ist der Einstieg in solch ein Projekt auch anders denkbar, doch war mir wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler in der folgenden Einzelarbeit an den Laptops bereits erstes Wissen und Kenntnisse haben, um mit einer gerichteten Aufmerksamkeit Musik analyiseren zu können. Auch wenn die Handhabung von AnaVis einfach und intuitiv ist, sollte keine Überforderung durch zu viel neue Informationen entstehen. In den folgenden Wochen wechselten sich dann allgemeine Informationsphasen und kleine Übungen im Plenum mit Phasen für die Einzelarbeit ab. Während diesen fand eine individuelle Lernbegleitung statt.
Kontrolle über das Musikhören
Aufgrund der eigenen Hörquelle konnten die Schülerinnen und Schüler die Momente in der Musik genau dann hören, wann sie es wollten und waren nicht von der einen Stereoanlage im Musiksaal und der Zugewandtheit der Lehrkraft beim Abspielen der Musik abhängig. Damit wurde eine Bedingung für die Analyse geschaffen, wie man sie als Lehrkraft selbst auch benötigt: Die Kontrolle darüber, welche Stellen man von einem Hörbeispiel wann und wie oft hören möchte.
Durch Verlagerung der Kontrolle in die Hände der Lernenden wird ein gezieltes Hören nach individuellen Lernwegen und Fähigkeit ermöglich, was verschiedene Perspektiven auf die jeweilige Musik zur Folge hat und entsprechend bunte Ergebnisse nach sich zieht. Die jungen Menschen analysierten den Song im Korridor einer ausgehenden Fragestellung und konnten mit ihren Beobachtungen an die Unterscheidungskriterien anknüpfen, die bereits in der Vorbereitung erlernt worden oder in der individuellen Erfahrung bereits vorhanden waren. Hinzu kamen weitere Kriterien, die in der individuellen Lernbegleitung gegeben wurden.
Vergleichen und Beurteilen
Am Ende einiger Stunde wurden die Analysen mit USB-Sticks auf einen zentralen Rechner kopiert und über einen Beamer an die Wand projiziert. Der Vergleich der Ergebnisse in ihrer Vielfalt und zugleich in ihrem Fokus auf bestimmte Kriterien initiierte Diskussionen und Argumentation wie: »Warum hast du die Grenze da gemacht?“, »Aber das ist doch ne Bridge, oder?«, »Das gehört zusammen, nicht geteilt!« usw. Die folgende Abbildung zeigt verschiedene Analysen des gleichen Songs:
Vier Schüler*innen-Analysen von Pentatonix "That's Christmas to me"
Kompetenzbeobachtungen
Obwohl ich mit einer Klasse nicht zum ersten Mal AnaVis bei der Popsong-Analyse benutzte und zu wissen dachte, welche Fähig- und Fertigkeiten dabei förderlich, erlernt und angewendet werden können, war ich über meine Beobachtungen zu diesem Projekt erstaunt: Die einzelnen Laptops, die Handhabung der Software sowie die Visualisierung am Bildschirm ermöglichen nicht nur ein individuelles Lernen, sondern auch eine andere Art der Beobachtung innerhalb einer Lernbegleitung. Denn Kompetenzen werden gebraucht und angeregt beim
- Wahrnehmen von Abschnitten in Musik,
- Orientieren am Metrum,
- Vergleichen eines Vorher/Nachher,
- Benennen von Abschnitts-Qualitäten,
- Herstellen und Diskutieren von Bezügen zu Fachbegriffen und beim
- Umgehen mit und Vergleichen von Parametern der Musik, wie z.B. Melodie, Harmonie, Instrumente, Groove.
Dazu wurden weitere digitale Kompetenzen erlernt
- im Umgang mit den Laptops,
- beim Benennen und Wiederfinden von Speicherorten (›Sammeln und Ordnen‹) sowie
- in der Bedienung einer speziellen Software (AnaVis).
Schnell war klar, dass es nicht nur eines individuellen Mentorings, sondern auch verschieden herausfordernder Aufgaben brauchte, um tatsächlich eine Binnendifferenzierung zu erhalten, in deren Fokus weiterhin die Popmusik-Analyse stand.
Von der Lehrperson
In meinen Augen bestand eine Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler in der Bedienung des Laptops. Manchen fiel es schwer
- technische Fachbegriffe zu verstehen,
- ein Touchpad statt einer Maus zu benutzen,
- bei Ansicht eines Bildschirms noch auf die Stimme der Lehrkraft zu hören und
- nicht sofort alles selbst machen zu wollen.
Doch kann ich auch berichten, dass sich diese Schwierigkeiten schnell lösen ließen, und am Ende die Schülerinnen und Schüler sogar selbstständig und unaufgeregt ihre Kopfhörer mit Bluetooth verbinden konnten.
Als Lehrkraft hingegen war ich bereits vor Projektbeginn mit der Einrichtung aller Geräte und mit der Überlegung gefordert, wie die Song-Dateien jede Stunde auf die Laptops kommen. Einige Stunden mit Hilfe unseres Systemadministrators erforderte die Integration ins pädagogische Netz (ohne WLan) sowie der Kauf von 20 USB-Sticks für die Datenübertragungen.
Eine weitere Herausforderung war ein gutes Zeitmanagement, denn die Analyse eines Popsongs (ca. 3 bis 3,5 Minuten) dauert bei den jungen Menschen schon meist eine gute halbe Stunde. Mit Auf- und Abbau der Technik ist dann eine Schulstunde schnell vorbei. Die Besprechung der Analysen kann deswegen erst in der nächsten Stunde erfolgen, wobei die Erinnerung an den Song dabei naturgemäß verblasst und zwischen Bruchgleichungen, Französischer Revolution, Hormonsteuerung und moderner Kurzprosa erst wieder hervorgezaubert werden muss. Aus diesem Grunde bieten sich kürze Musikbeispiele oder eben auch nur Teilabschnitte von Popsongs zur Analyse an.
Und nicht zuletzt empfand ich es herausfordernd und spannend, die vielen verschiedenen Momente, die den Kindern in der Musik auffallen und die sich scheinbar manchmal hinsichtlich der Formbenennung zu widersprechen scheinen, zu ordnen und zu moderieren. Die Herausforderung bestand also darin, fachwissenschaftlich Unangemessenes von kontingenten Auffassungen zu trennen und das 'Warum' dieser Entscheidungen in den Plenumsgesprächen transparent zu machen.