Mendelssohn schrieb seine erste Sinfonie 1824 im Alter von nur 15 Jahren. Später schrieb er über dieses Werk:
So gern ich auch ein Lied zu dem gewünschten Zwecke schickte so kann ichs nicht, weil ich nichts der Art liegen habe, dass sich für ein Concert eignet, und ich muss auf das Vergnügen Verzicht leisten, einem Manne wie Sie mir Herrn Uhlrich schildern gefällig zu sein. Es thut mir eigentlich sogar leid, dass meine c moll-Sinfonie in seinem Concerte gemacht werden soll, da dies Stück über 10 Jahre alt (op. 11) ist, und durchaus nicht in die Reihe meiner jetzigen Sachen passt. Können Sie die Ausführung noch verhindern, so thun Sie mir einen Gefallen [...] weil mir das Stück wirklich kindisch vorkommt.
Brief Mendelssohns an Henriette Voigt am 10. April 1835, in: Acht Briefe und ein Facsimile von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Leipzig 1871, S. 19f.
Nicht zuletzt diese Bemerkung, die – weil sie vom Komponisten stammt – in der Wissenschaft zu den Primärquellen gezählt wird, dürfte es zu verdanken sein, dass Mendelssohns 1. Sinfonie nicht jene Wertschätzung zuteil geworden ist, die das Stück eigentlich verdient. Vor dem Hintergrund, dass der Komponist gerne mit seinen Leistungen kokettierte, z.B. indem er äußerte, dass er auch seine 5. Sinfonie (Reformation) »dem Gefängnis in meinem Schrank nicht entwischen lassen« hätte dürfe, sollte man sich von den Äußerungen des Komponisten nicht zu sehr beim Anhören seiner Werke beeinflussen lassen.
Inhalt
1. Satz
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11, 1. Satz: Allegro di molto, Hochschulsymphonieorchester (München), Ltg. Marcus Bosch
Konzertmitschnitt mit Postproduktion der Hochschule für Musik und Theater München 2023, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Der Kopfsatz der Sinfonie lässt sich über das Modell der Sonatenhauptsatzform verstehen. Die Exposition besteht aus einem Hauptsatz (Hs) in c-Moll, dem eine Überleitung (Ül), ein Seitensatz (Ss) in der Nebentonart Es-Dur und eine Schlussgruppe folgt. eine Schlussgruppe (Sg) an. Nach der Exposition erklingt eine Durchführung (Df), der eine Wiederkehr von Material aus der Exposition folgt. Der Satz endet mit einer Coda, die retardierende Momente enthält und wie Gegengewicht zur Durchführung wirkt.
Die Sinfonie beginnt im dramatischen Forte (Tutti), was im Bezug auf klassische Sinfonien ungewöhnlich ist, da hier in der Regel das erste Orchestertutti als Überleitung (Ül) erklingt. Da die Überleitung anfangs wie eine Wiederholung des Hauptsatzes klingt, wirkt dir Modulation in die parallele Durtonart früh und überraschend.
Zwischen der modulierenden Überleitung und dem Seitensatz erklingt ein f-p-f-p-Abschnitt, dem ein etwas längerer von einer freundlichen Streichermelodie geprägter Abschnitt in der Nebentonart Es-Dur folgt. Dem Seitensatz schließt sich eine Schlussgruppe an, die mit einer Mannheimer Walze beginnt und Kadenzen in der Nebentonart endet.
Die Durchführung verarbeitet Material aus der Exposition, ist harmonisch über sequenzierte Quintfälle leicht zu verstehen, hat allerdings ein – an klassischen Kompositionen in Moll gemessen – ungewöhnliches harmonisches Zentrum d-Moll:
Der Durchführung folgt eine Reprise, der gemessen an der Exposition einige Abschnitte fehlen (solche Verkürzungen der Reprise finden sich auch in späteren Sinfonien Mendelssohns). Ungewöhnlich allerdings ist, dass Mendelssohn auf thematische Teile wie z.B. den Hauptsatz verzichtet.
Nach einer Theorie des 19. Jahrhunderts muss in der Reprise ein Ausgleich der Tonarten stattfinden, also der Seitensatz in der Nebentonart in der Haupttonart erklingen. Mendelssohn folgt mit seiner ersten Sinfonie allerdings einem älteren Modell, nach dem der Seitensatz in die Unterquinte transponiert wird und in der Reprise daher in As-Dur erklingt (vergleichbar der Waldsteinsonate Beethovens, in der ein Seitensatz in E-Dur in der Reprise nach A-Dur transponiert wird).
Nach der Schlussgruppe beendet eine beendet den Kopfsatz der Sinfonie im dramatischen Forte. Eine Besonderheit des Satzes zeigt sich in einem Verlauf, den H. Chr. Koch als Wechsel von »Licht und Schatten« einer Sinfonie bezeichnet hätte:
Anhand des dynamischen Verlaufs des Kopfsatzes, der sich über eine Welle verstehen lässt (sichtbar durch Ziehen des Sliders), lässt sich verstehen, warum zum Beginn des 20. Jahrhunderts Ernst Kurth vorgeschlagen worden ist, Musik des 19. Jahrhunderts als Verlauf energetischer Wellen zu verstehen.
2. Satz
Als zweiter Satz erklingt ein Andante in der Paralleltonart Es-Dur. Das Thema beginnt mit einer liedhaften Gestaltung, die sich als eine Einheit (Periode) aus einer öffnenden (Vordersatz) und einer schließenden (Nachsatz) Taktgruppe verstehen lässt:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11, 2. Satz: Andante, Hochschulsymphonieorchester (München), Ltg. Marcus Bosch
Konzertmitschnitt mit Postproduktion der Hochschule für Musik und Theater München 2023, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Dieser Gestaltung folgt eine modulierende Überleitung als kontrastierender Abschnitt, der in einen Seitensatz führt. Doch anstelle eine neuen thematischen Gedankens erklingt an dieser formalen Position wieder der Anfang in der Tonart der Oberquinte, ein formales Verfahren, das – angelehnt an formale Vorbilder in der Sinfonik Haydns – als monothematische Sonatensatzform bezeichnet wird. Gegenüber dem Hauptsatz weicht der Seitensatz in die Tonart der Oberquinte aus und wird anschließend wiederholt. Sehr charakteristisch für einen Seitensatz sind die Holzbläserfarben an dieser formalen Position:
Eine kurze Schlussgruppe beendet die Exposition des Satzes. Ihr schließt sich eine kurze, kontrastierende Durchführung an. Die Reprise in der Ausgangstonart verkürzt Mendelssohn, indem er an der Position des Seitensatzes beginnen lässt. Nach einer Wiederkehr der Schlussgruppe in der Ausgangstonart beendet Mendelssohn den Satz mit einer Code und einer für Schlussgestaltungen charakteristischen Harmonik (Kdenzgestaltung mit »Abschiedseptime«).
3. Satz
Der dritte Satz in c-Moll steht in der Tradition sinfonischer Menuettsätze:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11, 3. Satz: Menuetto. Allegro molto, Hochschulsymphonieorchester (München), Ltg. Marcus Bosch
Konzertmitschnitt mit Postproduktion der Hochschule für Musik und Theater München 2023, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Der Beginn des Satzes weist eine für diese Sätze charakteristische Form auf, die durch eine äußere Zweiteiligkeit (erkennbar an Doppelstrichen und Wiederholungen) sowie eine innere dreiteilige Form (durch eine Wiederkehr des Anfangs bzw. eine Reprise) gekennzeichnet ist. In der Formenlehre wird dieses Modell auch als dreiteilige Liedform oder Menuettform bezeichnet und in Buchstaben wie folgt chiffriert:
Ausgeschrieben und entsprechend der klingenden Musik müsste dieses Formmodell eigentlich wie folgt chiffriert werden:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11, 3. Satz: Menuetto. Allegro molto, Hochschulsymphonieorchester (München), Ltg. Marcus Bosch, Konzertmitschnitt mit Postproduktion der Hochschule für Musik und Theater München 2023, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Dem Menuett folgt ein Trio As-Dur, dessen Klang mit reduzierter Besetzung und dominierenden Holzbläsern charakteristisch ist, dessen Form allerdings nicht dem typischen Schema der dreiteiligen Liedform (|: C :|: DC :|). Denn der D-Teil besteht zwar aus zwei Teilen, jedoch wäre es willkürlich den zweiten Abschnitt des D-Teils als Reprise des C-Teils zu verstehen. Die in Trios übliche innere Dreiteiligkeit der Form ersetzt Mendelssohn hier durch eine Zweiteiligkeit, deren Abschnitte sehr ausgewogen und symmetrisch wirken:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11, 3. Satz: Menuetto. Allegro molto, Hochschulsymphonieorchester (München), Ltg. Marcus Bosch, Konzertmitschnitt mit Postproduktion der Hochschule für Musik und Theater München 2023, Lizenz: CC BY-SA 4.0
4. Satz
Der Finalsatz Allegro con fuoco lässt sich formal angemessen über das Modell der Sonatenhauptsatzform verstehen:
Eine schwungvollen, von den Streichern vorgetragenem Hauptsatz folgt eine Überleitung im Tutti (forte). Der Seitensatz ist von Streichern im pizzicato und einzelnen solistischen Bläserfarben geprägt. Die Schlussgruppe beginnt mit einer Orchesterwalze und beendet im Tutti (fort) die Exposition.
Die Durchführung lässt sich dreiteilig verstehen: einem ersten Teil, der sich aus dem Ende der Schlussgruppe heraus entwickelt, einem zweiten Teil, der durch eine Fugato mit dem folgenden Thema gekennzeichnet ist:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11, 4. Satz: Allegro con fuoco, Hochschulsymphonieorchester (München), Ltg. Marcus Bosch, Konzertmitschnitt mit Postproduktion der Hochschule für Musik und Theater München 2023, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Dieses Thema aus fallenden Terzen ist kompositionsgeschichtlich bedeutsam, es prägt kontrapunktische Abschnitte im gelehrten Stil von Mozart () bis Johannes Brahms (z.B. den Beginn seiner 4. Sinfonie). Das Fugato führt über eine Sequenzharmonik in die Rückführungsdominante, mit der Mendelssohn die Wiederkehr des Anfangs herbeiführt.
Bis auf einen kleinen Abschnitt werden in der Reprise alle Formfunktionen (Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe) in modifizierter Form wiederholt.
Interessant ist, dass nach der Schlussgruppe der Reprise ein weiterer Abschnitt folgt, der formal und auch in den Proportionen ungefähr der Durchführung entspricht. Den Farben des Analysediagramms (oben) lässt sich entnehmen , dass Mendelssohn auf diese Weise die dreiteilige Sonatenform zur Vierteiligkeit erweitert, in der sich Exposition und Reprise sowie Durchführung und Code in der Ausdehnung und motivisch-thematischen Gestaltung entsprechen.
Materialien
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Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1 in c-Moll op. 11, Hochschulsymphonieorchester (München), Ltg. Marcus Bosch, Konzertmitschnitt mit Postproduktion der Hochschule für Musik und Theater München
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1. Allegro di molto | ||
2. Andante | ||
3. Menuetto. Allegro molto | ||
4. Choral – Allegro vivace – Allegro maestoso |