Oder: Eine künstlerische Studie zum übermäßigem Quintsextakkord.
Die Chorlieder op. 104 komponierte Johannes Brahms 1888 während des dritten Thuner Sommers. Anfangs waren die Chorsätze nicht unumstritten, da ihre Komplexität hohe Anforderungen an Aufführende stellte und sich unweigerlich ein Vergleich mit den zugänglichen Chorkompositionen von Mendelsson und Schumann anbot. Doch im Laufe der Zeit haben sich diese Kompositionen einen sicheren Platz in der Geschichte des Chorlieds erobern können, wobei die fünfte und letzte Komposition »Im Herbst« einen Höhepunkt des Op. 104 darstellt. Inhaltlich ist das Chorlied »Im Herbst« von Johannes Brahms eine Verherrlichung der nach innen gerichtete Empfindsamkeit des (künstlerischen) Menschen, die zumindest aus romantischer Sicht nicht ohne ein Seelenleiden und memento mori zu haben ist.
Inhalt
Text
1. Strophe | 2. Strophe | 3. Strophe |
---|---|---|
Ernst ist der Herbst | Bleich ist der Tag, | Sanft wird der Mensch, |
Im Text werden Jahreskreis (Frühling, Herbst, Sommer und Winter), Tageskreis (Tag/Sonne und Nacht) mit dem Kreis des Lebens in Beziehung gesetzt. Sinkende Sonne und fallende Blätter werden auf diese Weise zu Symbolen für die Vorahnung des Todes.
Musik
In der Vertonung der ersten beiden Strophen zeichnet Brahms die melancholische Stimmung des Textes nach, indem er kaleidoskopartig zwischen As-Dur, c-Moll, g-Moll und Es-Dur wechselt. Das technische Mittel, mit denen Brahms diese Tonarten verbindet, ist der übermäßige Quintsextakkord.
Formal sind die ersten beiden Strophen symmetrisch bzw. zweiteilig gestaltet, wobei der erste Teil (Vordersatz) traditionell in die Tonart der V. Stufe moduliert und der zweite Teil (Nachsatz) wieder in der Ausgangstonart endet.
Obgleich sich die Tonart der ersten beiden Strophen eindeutig als c-Moll bestimmen lässt, beginnt Brahms das Chorlieds mit einem As-Dur-Akkord. Der übermäßige Quintsextakkords in außergewöhnlicher Klanglage (grüne Markierung) allerdings führt gleich im zweiten Takt in die Grundtonart c-Moll:
Johannes Brahms. Liebesliederwalzer und andere Werke, Ensemberlino Vocale, Ltg: Ulrich Kaiser (1992−1994), Op. 104, Nr. 5, »Im Hebst«, Lizenz: CC BY-SA
Auch der Nachsatz beginnt mit einem As-Dur-Akkord, hier allerdings in Sextlage. Grund dafür dürfte sein, dass Brahms bei gleichbleibender Melodie as-f-fis-g auf der öffnenden Bassstimme as-es-c den Krebs c-es-as antworten lässt (gelbe Markierungen). Der übermäßige Quintsextklang erklingt in diesem Abschnitt dreimal (grüne Markierungen):
Johannes Brahms. Liebesliederwalzer und andere Werke, Ensemberlino Vocale, Ltg: Ulrich Kaiser (1992−1994), Op. 104, Nr. 5, »Im Hebst«, Lizenz: CC BY-SA
Darüber hinaus setzt Brahms die absoluten Tonhöhen des übermäßigen Quintsextakkords noch ein weiteres Mal ein. Nach dem dominantischen Abschluss der ersten Chorphrase erklingt die folgende Stelle:
Johannes Brahms. Liebesliederwalzer und andere Werke, Ensemberlino Vocale, Ltg: Ulrich Kaiser (1992−1994), Op. 104, Nr. 5, »Im Hebst«, Lizenz: CC BY-SA
Brahms verwendet die bisher als erklungenen Tonhöhen as-c-es-fis hier als Dominantseptakkord as-c-es-ges, die sich folgerichtig in ein neapolitanisches Des-Dur auflösen. Eingebettet wird diese Wendung über eine chromatisch absteigende Linie im Sopran (as-g | ges-f-fes-es), die sich als Symbol für das Herabsinken und fallende Herz verstehen lässt.
In den ersten beiden Strophen der Komposition Im Herbst erklingen absolut identische Tonhöhen in drei funktional unterschiedlichen Kontexten:
- als doppeldominantischen übermäßigen Quintsextakkord (as-c-es-fis),
- als Dominante zur neapolitanischen Region (as-c-es-ges) und
- als subdominatischen übermäßigen Quintsextakkord bzw. Sixte ajoutée (as-c-es-fis).
Kaleidoskopartig inszeniert Brahms den Wechsel der harmonischen Felder c-Moll, Des-Dur und Es-Dur und erzeugt auf diese Weise einen homogenen Ausdruck, der schon zu seinen Lebzeiten zeitgenössische Hörerinnen und Hörer beeindruckt hat.
Johannes Brahms. Liebesliederwalzer und andere Werke, Ensemberlino Vocale, Ltg: Ulrich Kaiser (1992−1994), Op. 104, Nr. 5, »Im Hebst«, Lizenz: CC BY-SA
Die Auffälligkeit, mit der Brahms den übermäßigen Quintsextakkord in seiner historisch obligaten Lage (grün markiert) an dieser Stelle verwendet, erlaubt es auch, den Chorsatzes »Im Herbst« als künstlerische Studie über die Geschichte bzw. die verschiedenen Gestalten, Klanglagen und Auflösungsmöglichkeiten eines Klangs (as-c-es-fis/ges) zu interpretieren.
Todesahnung
Elisabeth von Herzogenberg, eine enge Freundin von Brahms, erhielt am 28. Oktober 1888 die überarbeitete und überarbeitete Komposition Im Herbst. Nachdem sie diese erhalten hatte, schrieb sie dem Komponisten:
Wie reich und schön ist das ›er ahnt‹ behandelt, wie wohltuend schreitet es kühn und harmonisch fort und wie zusammengehalten, wie einig ist das Stück!
Tatsächlich ist die musikalische Darstellung der Todesahnung des Menschen, die dem pathetisch überhöhten Menschen in C-Dur folgt, in der Geschichte der Chorlieder beispiellos und auch für Brahms einzigartig:
Johannes Brahms. Liebesliederwalzer und andere Werke, Ensemberlino Vocale, Ltg: Ulrich Kaiser (1992−1994), Op. 104, Nr. 5, »Im Hebst«, Lizenz: CC BY-SA
in dieser Passage ist eine Sequenz des übermäßigen Quintsextakkords zu hören. Mithilfe dieser Sequenz erreicht Brahms ein fis-Moll bzw. eine harmonische Farbe (fis), die im Quintenzirkel die größtmögliche Distanz zur Grundtonart (c) aufweist. Unerwartet bricht an dieser Stelle Chorsatz in sich zusammen: Brahms führt die Außenstimmen in parallelen Oktaven in die Tiefe und die Mehrstimmigkeit setzt erst wieder über dem Ton D ein, der als Dominante für das Erreichen der Oberquinttonart G-Dur eingesetzt wird.
Technisch gesehen moduliert Brahms an dieser Stelle lediglich von einer I. Stufe (C-Dur) in eine V. Stufe (G-Dur). Das Wie allerdings macht staunen, wenn man die artifizielle Gestaltung von Brahms dekomponieren und die Tonleiterstruktur im Bass betrachtet:
Denn eine solche Bassstimme und Modulation nach G-Dur wäre auch traditionell mithilfe einer barocken Generalbassharmonik möglich gewesen:
Spätestens im Lichte des Vergleichs der Generalbassharmonik mit der artifiziellen Gestaltungen von Brahms lässt sich die Begeisterung von Elisabeth von Herzogenberg verstehen, wie »reich und schön« der Komponist das ›er ahnt‹ behandelt hat und »wie wohltuend [...] es kühn und harmonisch« fortschreitet. Und man darf annehmen, dass der engen Freundin des Komponisten die harmonische Jenseitigkeit (fis-Moll) als Symbol für »des Lebens wie des Jahres Schluss« dabei nicht entgangen ist.