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Das I-x-V-I-Modell bzw. Schema (Satzmodell)

Inhalt


Ein Satzmodell für den musikalischen Anfang

Robert Gjerdingen hat in seiner Untersuchung A Classic Turn of Phrase. Music and the Psychology of Convention (Philadelphia 1988) ein Modell zur Analyse vorgestellt, das im deutschsprachigen Raum meist nur als Schema bezeichnet wird:

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Das Modell als Notationsdatein (MuseScore)


Die Abbildung zeigt einen Viertakter mit

  • der motivischen Gestaltung a-b / a-b (motivischer Parallelismus),
  • der Harmonik I-V / V-I (harmonischer Chiasmus),
  • den Melodietönen c-h und f-e (bzw. in Zahlen, die das Verhältnis zum Grundton c angeben: 8-7 / 4-3) und
  • den Basstönen die Töne c-d und h-c (1-2 / 7-1).

Nach Gjerdingen gibt es insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders viele Musikstücke, in denen sich Passagen befinden, die sich durch dieses Schema angemessen beschreiben lassen. In seinem Buch Music in the galant Style nennt er dieses Modell »The Meyer«. Als Ausprägung des Modells lässt sich zum Beispiel der Beginn des langsamen Satzes aus der Sonate in B-Dur Hob. XVI:2 von Joseph Haydn verstehen:

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Joseph Haydn, Sonate in B-Dur Hob. XVI:2, 2. Satz, Klavier: Stefano Ligoratti
Lizenz: CC By 3.0, Download: IMSLP

Zuerst zu den Unterschieden: Während das Schema eingangs in C-Dur notiert worden ist, steht der langsame Satz der B-Dur-Sonate in g-Moll. Außerdem lässt sich in der melodischen Ausarbeitung der Taktgruppe kein motivischer Parallelismus erkennen (a-b / a-b). Und nun zu den Gemeinsamkeiten: Die Gerüstnoten der Melodie (1-7 / 4-3), der Bassstimme (1-2 / 7-1) und auch die Harmonik (I-V / V-I) entsprechen dem Schema. Schon anhand dieses einen Vergleichs wird ersichtlich, dass unterschiedliche Ausarbeitungen des Schemas im Charakter sehr verschieden sein können. Das Schema charakterisiert auch den Anfang der berühmten ›großen‹ g-Moll Sinfonie KV 550 von Wolfgang Amadé Mozart:

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W. A. Mozart, Sinfonie in g-Moll KV 550 (Anfang), Karl Böhm, Berliner Philharmoniker
erstmalige Aufnahme 1962, Lizenz: CC0 (Public Domain

Übung

Trotz der Unterschiede lassen sich der Beginn des langsamen Satzes von Haydn und der Anfang der Sinfonie Mozarts als Ausprägung desselben Schemas verstehen (das zweite Beispiel wird gelegentlich auch als Initialkadenz bezeichnet). Schaut man allerdings genau auf die im Modell gegebenen Eigenschaften, finden sich Unterschiede wie zum Beispiel die Position der melodischen Gerüsttöne, in der Bassführung und auch der Harmonik.


Terminologie

Schema

Wie bereits erwähnt, können Anfänge der beschriebenen Art nach Robert Gjerdingen als Schema bezeichnet werden.

Robert O. Gjerdingen, A Classic Turn of Phrase. Music and the Psychology of Convention, Philadelphia 1988, S. 64.

Zum Erkennen von Representationen eines solchen Schemas schreibt Gjerdingen (1988, S. 34 und S. 37):

But how does one acquire knowledge of a particular musical schema, and what evidence would prove it to be a valid abstraction? One approach, which has already been cited, is a psychological testing (see chapter 1). Another approach is to make a careful study of musical scores and treatises, looking for evidence of shared sets of features [...]
The goal must be to seek evidence that can be arranged in a coherent pattern that either supports or calls into question a theory of musical structure. The theoretical and empirical aspects of researching musical schemata must function together.

Während die Validierung durch »psychological testing« in der deutschsprachigen Musiktheorie keine Resonanz gefunden hat, ist die Zuordnungen über vergleichender Analysen üblich. Es ist ein Verdienst Gjerdingens bzw. amerikanischer Musiktheorie, die strukturelle Bewegung der Oberstimme (im Modell oben beispielsweise 8-7/4-3) sowie des Basses als Eigenschaften des Modells zu reflektieren (»set of features«). 2007 veröffentlichte Gjerdingen sein Buch Music in the Galant Style (Oxford 2007), in dem er das Modell wie folgt chiffirierte:

Robert O. Gjerdingen, Music in the Galant Style, Oxford 2007, S. 112.

I-x-V-I-Modell

Der Begriff Schema ist insofern nicht ganz glücklich, da sich alle Satzmodelle wie z.B. Quintfallsequenz und Parallelismus als Schemata verstehen lassen, über die wir entsprechende Gestaltungen in der Musik unterscheiden und bezeichnen können. Wolfgang Plath hat in seinem Aufsatz »Typus und Modell« (1975, S. 157) angeregt, von einem Das I-x-V-I-Modell zu sprechen:

Der scheinbare Widerspruch dürfte sich erst im großen Zusammenhang lösen: vermutlich würde sich dann ergeben, daß der Barocktypus I einerseits dank seiner historischen Wurzeln absolut und für sich steht, anderseits aber zur Zeit Mozarts einfach als eine von mehreren speziellen Möglichkeiten der allgemeinen Initialformel I-(x)-V-I verstanden werden kann; (x) steht dabei für wahlweise V, IV oder II.

Selbstverständlich können auch andere Oberstimmenstrukturen (z.B. 1-2 / 2-3 oder 1-7 / 2-1 etc.) und Bassstrukturen (z.B. I-V / V-I oder I-VII / V-I etc.) zum I-x-V-I-Modell gezählt werden. Gjerdingens Schema ist damit gewissermaßen eine Untermenge der Gestaltungen, die sich nach Plath als I-x-V-I-Modell bezeichnen lassen. Denn auch die I-I-V-I-, I-VI-V-I-Harmonik usw. lassen sich als Ausprägungen des I-x-V-I-Modells Verstehen. Die folgenden Referenzen zeigen einige Beispiele aus der Literatur:


Beispiele

I-I-V-I: Die Ausprägung des I-x-V-I-Schema mit der I. Stufe als Variablen findet sich beispielsweise in einem Menuett des Nannerl-Notenbuchs und war damit Bestandteil einer Musikerziehung des 18. Jahrhunderts.

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W. A. Mozart, ›Ave Verum‹ KV 618

I-II-V-I: Eine Ausprägung des I-II-V-I-Schemas findet sich zum Beginn des Ave Verum corpus KV 618 von Wolfgang Amadé Mozart (ein weiteres Beispiel für diese Modellvariante prägt den Beginn der Sinfonie in g-Moll KV 550 von Mozart):

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Quelle: YouTube


Anton Bruckner, Motette ›Locus iste‹

Auch in Vokalmusik des 19. Jahrhunderts finden sich musikalische Gestaltungen des Modells wie zum Beispiel der Beginn der Motette Locus iste von Anton Bruckner:

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Quelle: Youtube


W. A. Mozart, Menuett in F-Dur KV 2

I-IV-V-I: Das Schema mit Harmoniefolge I-IV-V-I entspricht der Harmonik einer Standardkadenz, wie sie in zahlreichen Harmonielehren oder Schulheften gelehrt wird. Wichtig ist, dass mit dieser Ausprägung des Schemas zwar die Kadenzharmonik erklingt, aber nicht immer eine Kadenz mit entsprechender Schlusswirkung. Durch das Modell mit Schlusswirkung und der Oberstimmenstruktur 5-6 / 7-8 lässt sich beispielsweise eine der ersten Kompositionen W. A. Mozarts, das Menuett in F-Dur KV 2, beschreiben:

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W. A. Mozart, Sinfonie KV 16, 2. Satz

Die Takte 1-4 des 2. Satzes der wahrscheinlich ersten Sinfonie Mozarts lassen sich als I-IV-V-I-Schema ohne Schlusswirkung verstehen. Denn die Kadenz mit Schlusswirkung bzw. der Abschluss der ersten Taktgruppe erklingt erst in den folgenden Takten:

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W. A. Mozart, Klaviersonate G-Dur KV 283, 1. Satz

I-V-V-I: Das Schema mit dieser Harmoniefolge ist in Kompositionen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgesprochen häufig anzutreffen. W. A. Mozart hat es auch über seine frühesten Menuett-Spielstücke erlernen können und es findet sich mit der Oberstimmenstruktur 8-7 / 4-3 am Anfang seiner Klaviersonate in G-Dur KV 283:

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Wolfgang Amadé Mozart, Sonate in G-Dur KV 283. 1. Satz, Paavali Jumppanen, Verlagsinfo: Isabella Stewart Gardner Museum, Lizenz: CC By-NC-ND 3.0, Download: IMSLP


L. v. Beethoven, Sonate C-Dur Op. 2, Nr. 3, 1. Satz

Mit der Oberstimmenstruktur 3-2 / 4-3 lässt sich das Modell zum Beginn der Klaviersonate Op. 2, Nr. 3 von Ludwig v. Beethoven entdecken. Sowohl im vorangegangenen als auch in diesem Beispielen lassen sich durch das Modell die ersten vier Takte des Hauptsatzes (bzw. des 1. Themas) verstehen, dessen Ende später anhand einer Kadenz ersichtlich ist:

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Copyright Info: Ludwig van Beethoven, Sonate für Klavier Nr. 3 in C-Dur Op. 2, Nr. 3, 1. Satz Allegro con brio, EMI hlm 7097, Aufnahmen: 1948-1956, Lizenz: Public Domain.


Scorpions –Living and Dying

I-VI-V-I: Wird das Schema auch zur Analyse von Populärer Musik verwendet, lassen sich hier auch Harmoniewendungen finden, die für Musik des 17. bis 19. Jahrhunderts eher ungewöhnlich sind. Zum Beginn des Songs Living and Dying der aus Hannover stammenden Hard Rock-Formation Scorpions beispielsweise findet sich das Schema mit der Harmonik I-VI-V-I, wobei die VI. Stufe sogar mit dem übermäßigen Quintsextakkord erklingt:

Living And Dying, Musik/Text: Rudolf Schenker, Klaus Meine, Produzent: Dieter Dierks, 1975

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Scorpions – Living And Dying, Text/Musik: Klaus Meine/Rudolf Schenker, Quelle: YouTube