Franz Schubert – Der Zwerg. (1) Eine Interpretation
In dem dreiteiligen Tutorial wird das Lied Der Zwerg von Franz Schubert analysiert und gezeigt, wie Schubert den Modulationsplan einer a-Moll-Komposition zur Darstellung einer »absurden Geschichte« (Marie-Agnes Dittrich) verwendet, die sich unter Rückgriff auf Ideen von Peter v. Matt auch als sinnreiche Metapher und »Liebesverrat« bzw. als Manifestation einer im Kern aggressiven Gegenreligion zur polizeistaatlichen Ordnung des frühen 19. Jahrhunderts verstehen lässt.
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Inhaltsverzeichnis
Analyse: Kontext und Dichtung
Franz Schubert komponierte das Lied Der Zwerg Op. 22, Nr. 1 (D 771) wahrscheinlich im Jahr 1822, also in dem Jahr, in dem der Komponist als Gast zurück in die Wiener Innenstadt zu seinem Freund Franz von Schober zog. Schober war Mittelpunkt des von Joseph von Spaun initiierten Wiener Kreises um Franz Schubert.
Der Umgang mit einem für Kunst so begeisterten, so fein gebildeten jungen Mann wie Schober, der selber ein Dichter war, konnte auf Schubert wohl nur höchst anregend und vorteilhaft wirken. Schobers Freunde wurden auch Schuberts Freunde, und ich bin überzeugt, daß das Zusammenleben mit diesem Kreise für Schubert viel vorteilhafter gewesen sei, als wenn er in einem Kreise von Musikern und Fachgenossen, die er übrigens nicht vernachlässigte, gelebt hätte.
aus: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, hrsg. von Otto Erich Deutsch, Leipzig 1954, zit. nach Dittrich 1997, S. 26 f.
Auch wenn der Dichter Schobert im Mittelpunkt des sogenannten Romantischen Freundeskreises stand, hatte Schubert großen Anteil am Zusammenhalt der Gruppe. Seit Anfang des Jahres 1821 wurden hier die sog. Schubertiaden in regelmäßigen Abständen ausgerichtet, also größere Veranstaltungen, zu denen eingeladen, auf denen Musik Schuberts aufgeführt und auch getanzt wurde. 1820 trat ein Vetter von Josef von Spaun in den Kreis der Wiener Freunde, Matthäus von Collin, ein bedeutender Literaturtheoretiker und Dichter. Ein Gedicht, das Schubert von Collin neben anderen vertonte, wurde als Der Zwerg Op. 22, Nr. 1 veröffentlicht. Schubert widmete seine Komposition dem 18 Jahre älteren Dichter, der sich wiederum über Schuberts Musik begeistert äußerte.
Es ist ein hartnäckiges Vorurteil, dass Schubert eine Vorliebe für mittelmäßige Gedichte gehabt hätte. Es ignoriert sowohl die Tatsache, dass Schubert beinahe 100 Werke von Goethe und Schiller vertont hat als auch Nachweise, dass die Textauswahl des Komponisten − zumindest in späteren Jahren − relativ unberührt von den im Freundeskreis besprochenen Werken war. Als eines der wichtigsten Beispiele für das Phänomen einer angeblich mittelmäßigen Dichtung mit großartiger Musik gilt Der Zwerg.
Der Zwerg (Ballade von Matthäus v. Collin)
Im trüben Licht verschwinden schon die Berge,
Es schwebt das Schiff auf glatten Meereswogen,
Worin die Königin mit ihrem Zwerge.
Sie schaut empor zum hochgewölbten Bogen,
Hinauf zur lichtdurchwirkten blauen Ferne,
Die mit der Milch des Himmels blaß durchzogen.
Ihr habt mir nie gelogen noch, ihr Sterne,
So ruft sie aus, bald werd' ich nun entschwinden,
Ihr sagt es mir, doch sterb' ich wahrlich gerne.
Da geht der Zwerg zur Königin, mag binden
Um ihren Hals die Schnur von rother Seide,
Und weint, als wollt vor Gram er schnell erblinden.
Er spricht: Du selbst bist schuld an diesem Leide,
Weil um den König du mich hast verlassen,
Nun macht dein Sterben einzig mir nur Freude.
Mich selber werd' ich ewiglich wohl hassen,
Der dir mit dieser Hand den Tod gegeben,
Doch mußt zum frühen Grab du nun erblassen.
Sie legt die Hand auf's Herz voll jungem Leben,
Und aus dem Aug' die schweren Thränen rinnen,
Das sie zum Himmel betend will erheben.
O möchtest du nicht Schmerz durch meinen Tod gewinnen!
Sie sagt's, da küßt der Zwerg die bleichen Wangen,
Und alsobald vergehen ihr die Sinnen.
Der Zwerg schaut an die Frau vom Tod befangen,
Er senkt sie tief in's Meer mit eignen Handen,
Ihm brennt nach ihr das Herze voll Verlangen.
An keiner Küste wird er je mehr landen.
Zur Form: Reihung und Symmetrie
Das Lied Der Zwerg von Franz Schubert lässt sich sowohl als durchkomponiertes Lied bzw. Reihungsform als auch als Gleichgewichtsform bzw. drei- oder zwei-/vierteiliges Lied auffassen. Das folgende Diagramm veranschaulicht die formale Disposition der Tonarten dieser ungewöhnlichen Komposition:
Franz Schubert, Der Zwerg D 771, Bariton: Dietrich Fischer Dieskau, Klavier: Gerald Moore, EMI Records (LP Mono), Großbritannien 1959, Lizenz: CC0
Für die Auffassung einer Reihungsform spricht, dass es keine ›wörtliche‹ Reprise der musikalischen Gestaltung der ersten Strophe gibt und die Strophen (und manchmal sogar einzelne Textzeilen) in zum Teil vom tonikalen Zentrum (a-Moll) sehr weit entfernten Tonarten erklingen (c-Moll/g-Moll, h-Moll, c-Moll, Des-Dur, b-Moll, A-Dur, b-Moll, Ges-Dur, es-Moll). Darüber hinaus ist es auch möglich, die Wiederkehr der a-Tonalität (A-Dur/a-Moll) ungefähr in der Mitte des Liedes (»Sie legt die Hand auf's Herz«) als Reprise und die zwischen dieser Reprise und den beiden einleitenden Strophenvertonungen liegenden Teile als B-Teil zu interpretieren. Gegen diese Deutung sprechen die der potentiellen Reprise folgenden Ausweichungen nach b-Moll, Ges-Dur und es-Moll. Fasst man diese als Gegengewicht zu den Modulationen vor der Reprise auf, wäre es denkbar, das Lied als zwei- oder vierteilig aufzufassen (entsprechend einer Sonatenform, in der eine Coda ein Gegengewicht zur Durchführung bildet). Das folgende Diagramm veranschaulicht den Tonartenverlauf des Liedes in einer Tabelle:
Tonartenplan und Bühnenhandlung
Die Disposition der Tonarten, die Schubert für die Vertonung des Textes wählt, ist im Hinblick auf die Standards einer Komposition in Moll rätselhaft. Die Tonarten c-Moll, h-Moll, Des-Dur, b-Moll, Ges-Dur und es-Moll lassen sich nur als irregulär und in Zusammenhang mit dem Text verstehen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die irregulären Stufen als charakteristische Farben zu interpretieren, die wie unterschiedliche Lichteinstellungen einer Theateraufführung die verschiedenen Szenen der Komposition ausleuchten.
Rahmenhandlung (a-Moll)
Für das Klaviervorspiel und die ersten beiden Strophen wählt Schubert die Grundtonart a-Moll. Die Tonart lässt sich in diesem Fall aufgrund der spezifischen Gestaltung als Reminiszenz an das Phrygische lesen:
Source: Youtube
Im obersten Klaviersystem des Notenbeispiels ist Schuberts originaler Klavierpart zu sehen und im Klaviersystem darunter die Notation der Taktgruppe als Akkordsatz. Die Skizze im untersten Klaviersystem zeigt, dass sich der Klang im zweiten Takt als kontrapunktische Durchgangsbewegung verstehen lässt, während den Takten 3−5 eine chromatisierte phrygische Wendung eingeschrieben ist. Chromatisierung des Basses, phrygische Wendung und der reizvolle übermäßige Terzquartakkord zeigen eine ›romantische‹ Inszenierung einer Wendung, die an Lamento-Kompositionen des frühen 17. Jahrhunderts erinnert.
Grundlage der Vertonung der ersten Strophe ist das im Vorspiel exponierte Material. Vor dem kadenziellen Abschluss der Vertonung der ersten Strophe erklingt darüber hinaus die folgende Wendung:
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Schubert interpoliert hier zwischen einem dominantischen E-Dur-Klang und einem E-Dur-Dominantseptakkord einen verminderten Septklang. Da Schubert die Verbindung eines verminderten Septklangs mit darauf folgendem Dominantseptakkord (beim Berühren des Notenbilds grün markiert) an einer formal wichtigen Stelle wieder verwendet, sei an dieser Stelle auf ein erstes Vorkommen der Klangverbindung hingewiesen.
Um den Tonartenplan der Komposition Der Zwerg besser verstehen zu können, ist eine Veranschaulichung als Theaterstück hilfreich. Die nachfolgende Abbildung zeigt das erste Bild bzw. das Bild der Rahmenhandlung, in dem ein Schiff im trüben Licht auf ruhiger See zu sehen ist. Auf dem Schiff befinden sich eine Königin und ein Zwerg:
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Als Bühnenhandlung vorgestellt lässt sich die Vertonung der dritten Strophe so veranschaulichen, dass die sprechende Königin − und damit die dramatische Handlung − ausgeleuchtet bzw. in den Blick genommen wird:
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Das Fantastische, nicht zur Rahmenhandlung in a-Moll Gehörige veranschaulicht Schubert durch die Tonart h-Moll. Diese Entscheidung lässt sich in zweifacher Hinsicht symbolisch deuten: Zum einen haftet dem h-Modus geschichtlich etwas Besonderes an. Joachim Burmeister schreibt beispielsweise in seiner Musica poetica 1606:
Von diesen werden zweie Bastarde genannt, weil der Quinte, beim anderen der Quarte zu ihrer Perfektion ein Halbton fehlt und sie deswegen im System der Oktave nicht rechtmäßig zu einem Temperamentum werden können und so selbst keine rechtmäßigen Modusverbindungen eingehen.
Joachim Burmeister, Musica peotica, Rostock 1606, S. 43, zit. nach: Joachim Burmeister, Musica peotica, hrsg. und mit einer Einführung (deutsch/englisch) von Rainer Beyreuther, Übersetzung von Philipp Kallenberger, Laaber 2004, S. 128.
Die »Bastarde«, die Burmeister hier nennt, sind die Modi über h und f ohne Vorzeichen und der fehlende Halbton zur Quinte über h dürfte Ursache dafür sein, warum die zweite Tonleiterstufe einer Molltonart im 18. Jahrhunderts für reguläre Ausweichung bzw. Modulation gemieden wurde. Auch Christian Friedrich Daniel Schubart beschreibt in seiner in Wien 1806 publizierten Ästhetik der Tonkunst die Tonart h-Moll in einem entsprechenden Sinn:
H-Moll, Missvergnügen, Unbehaglichkeit, Zerren an einem verunglückten Plan; missmutiges Nagen am Gebiss; mit einem Worte, Groll und Unlust.
Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806, S. 377.
Schuberts Beleuchtung des Zwerges in der Tonart h-Moll lässt sich also als Chiffre verstehen, den Zwerg als ein außerhalb der normalen Ordnung (a-Moll) stehendes Wesen zu begreifen. Die nächste Abbildung veranschaulicht diesen Sachverhalt im Bild der Bühne:
Dramatische Handlung II und Ironie (c-Moll/C-Dur)
In der fünften Strophe tritt der Zwerg zur Königin und indem er spricht, erfahren wir mehr über die Vergangenheit der ungleichen Figuren. Demnach waren Königin und der Zwerg solange ein Paar, bis sie ihn wegen eines Königssohns verlassen hat. Indem der Zwerg jedoch die Königin in direkter Rede anspricht, tritt er aus dem exterritorialen h-Moll heraus und ein in die Welt der dramatischen Handlung bzw. in jenes c-Moll, das zuvor die Rede der Königin charakterisiert hatte:
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Das folgende Bild der Bühne veranschaulicht das Geschehen:
Der Schmerz des Zwerges gipfelt in den Ausruf, dass einzig der Tod seiner ehemaligen Geliebten ihm noch Freude bereiten könne. Doch diese herausgeschriene Freude ist selbstverständlich nicht echt, sondern Ausdruck schierer Verzweiflung, was Schubert durch die Verwendung der Tonart C-Dur verdeutlicht. So wie die Freude ist auch das C-Dur nicht echt, klingt ironisch, das heißt, hässlich auftrumpfend und verweist keineswegs mehr auf die seit Haydns Schöpfung im kollektiven kompositorischen Bewusstsein verankerte Tonart des Lichts. Im Gegenteil kann diese Stelle als Vorgriff auf jenes C-Dur interpretiert werden, das später im Wozzek zu hören sein wird, wenn das Geld zur Sprache kommt (als Symbol für das gesellschaftlich Abgegriffene und die zu dieser Zeit verbrauchte Tonalität gleichermaßen). Weitere Indizien für den Schmerz des Zwerges sind der sich anschließende Neapolitaner sowie das Hinabstürzen in den Bereich der tiefen Tonarten (Des-Dur und b-Moll). Im Anschluss an diese harmonische ›Tour de Force‹ wirkt das Erreichen des picardisch aufgehellten a-Moll am Ende der sechsten Strophe erlösend und wie eine freundliche Reprise:
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Fromme Gefühle (A-Dur)
In A-Dur vertont Schubert zum Beginn der siebten Strophe die betende Königin, wodurch A-Dur als ›heilige‹ Tonart bzw. Tonart der frommen Gefühle interpretiert werden kann. Für eine kurzzeitige und gezielte Verwendung dieser Farbe spricht auch, dass Schubert zur Vertonung der zweiten Zeile (»...und aus dem Aug die schweren Tränen rinnen...«) das A-Dur schon wieder zurück nimmt.
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Mit dem Wunsch der Königin, der Zwerg möge keinen Schmerz durch ihren Tod gewinnen, führt die Musik zurück nach b-Moll bzw. in jene Region, in welcher der Tod der Königin vom Zwerg erstmalig erwähnt worden ist (...der dir mit dieser Hand den Tod gegeben...). Über eine kleine Sexte, die wie ein schmerzhafter Aufschrei wirkt, führt Schubert ein Ges ein und löst den mehrstimmigen Satz auf, so dass nur noch ein einzelner Ton bzw. eine Oktave erklingt (für das Folgende vereinfacht notiert als fis):
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Der Tod (es-Moll)
Ohne ein weiteres Wort tötet der Zwerg die Königin durch einen Kuss auf ihre bleichen Wangen. Schubert vertont diese Stelle durch ein Fragment eines chromatischen Harmoniemodells, über das es-Moll erreicht wird, also jene symbolische Tonart, die schon Bach für den Tod Christi wählte (Christus-Worte »eli eli lama sabachthani« bzw. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«):
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Für die Tonartencharakteristik ist es wichtig zu bemerken, dass hier nach es-Moll und nicht etwa nach Es-Dur moduliert wird, was sich anhand der Töne ces und ges in der Kadenz ersehen lässt. Lediglich der Schlussakkord wird, wie bereits zur Vertonung der frommen Gefühle, picardisch aufgehellt und bewirkt einen sanften, christlich-versöhnlichen Abschluss der mysteriösen Gestaltung. Die Szene im Bild der Bühne:
Der Zwerg schaut die tote Königin an und steht nun neben ihr allein auf der Bühne. Folgerichtig wendet Schubert die Musik auch wieder zurück nach c-Moll. Ein angesprungener Leitton h im Bass bewirkt im Verbund mit den Tönen es und g einen übermäßigen Klang, der bedrohlich wirkt:
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Im Anschluss an diese bedrohliche und dennoch ruhige Passage moduliert Schubert über eine reizvolle Wendung zurück in die Ausgangstonart a-Moll. An dieser Stelle nimmt die Musik deutlich an Wucht zu, eine Wucht, welche die Größe des Verlangens des sich verzehrenden Zwerges veranschaulicht und zugleich eine Schlusssteigerung bietet. Nach dem Höhepunkt in der vorletzten Gesangsphrase verklingt die Musik mit dem musikalischen Material des Klaviervorspiels sowie ersten Strophe, hier jedoch augmentiert und leise verklingend. Die letzte Zeile des Liedes berichtet von der Abkehr des Zwerges von dieser Welt.
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Literatur
- Joachim Burmeister, Musica peotica [Rostock 1606], zit. nach: ders. Musica peotica, hrsg. und mit einer Einführung (deutsch/englisch) von Rainer Beyreuther, Übersetzung von Philipp Kallenberger, Laaber 2004.
- Marie-Agnes Dittrich, »›Für Menschenohren sind es Harmonien‹. Die Lieder«, in: Schubert Handbuch, Kassel und Stuttgart 1997.